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Ob Arbeits- oder Verkehrsunfall, oft sind die medizinischen Gutachter vor Gericht entscheidend für die Entschädigung der Opfer. Doch anders als KfZ-Sachverständige werden medizinische Gutachter in Deutschland kaum kontrolliert. Sie müssen ihre Neutralität nicht nachweisen.
Sie haben einen Verkehrsunfall, werden verletzt, haben bleibende Schäden, doch die gegnerische Versicherung will nicht zahlen. Ein Fall für medizinische Gutachter. Gutachter, die im Auftrag von Gerichten tätig werden. Gutachter, die eigentlich nur ihrer Fachkenntnis verpflichtet sein sollten. Doch was, wenn der Verdacht im Raum steht, dass die Gutachter gar nicht so neutral und unabhängig sind. Gregor Witt und H. C. Schultze wollten es genauer wissen.
15. April 2002. Ein Tag, an dem das Leben von Günther Nestler völlig aus den Fugen gerät. Damals war er auf dem Nachhauseweg.
Eine Frau hat ihm die Vorfahrt genommen.
Beide Autos: Totalschaden.
Günther Nestler wird schwer verletzt. Heute, 11 Jahre danach, ist seine Halswirbelsäule immer noch geschädigt.
Günther Nestler
„Ich kann nicht lange Auto fahren, kann Erschütterungen aufnehmen, die merkt man dann auch wieder in der Halswirbelsäule. Ich kann meinen Kopf nicht in allen Bereichen drehen, wie ich das möchte, wenn dann unter Schmerzen. Und die Summe der Schmerzen macht es dann eigentlich unerträglich auf Dauer. Deswegen guck ich eigentlich nur geradeaus und beweg meinen Kopf recht wenig.“
20 Jahre lang war er Berufskraftfahrer bei der Hagener Polizei. Seit dem Unfall ist er berufsunfähig.
Die gegnerische Versicherung zahlt rasch, aber nur für sein kaputtes Auto. Nicht für seine Halswirbelsäulenverletzung, die er bis heute ohne Schmerzmittel nicht ertragen kann.
Er klagt beim Landgericht Hagen. Der Richter gibt ein medizinisches Gutachten in Auftrag. Es soll feststellen, ob Günther Nestler tatsächlich noch durch den Unfall geschädigt ist. Gutachter ist
Professor William Castro. Gründer eines der größten Gutachterinstitute Deutschlands mit mittlerweile acht Standorten. Sie erstellen Jahr für Jahr Hunderte Gutachten für Gerichte. Bei Günther Nestler, so behauptet Castro, sei die Halswirbelsäulenverletzung, kurz HWS-Distorsion, längst ausgeheilt.
Prof. William Castro
Orthopädisches Forschungsinstitut
„HWS-Distorsionen, die heilen in der Regel folgenlos aus bei dem Normalbürger. Innerhalb von Wochen bis Monaten.“
Aber stimmt das?
Dauerschäden durch Halswirbelsäulenverletzungen sind in Europa sehr häufig. Sie gehören zu den teuersten Unfallfolgen.
Das behaupten Forschungsergebnisse einer internationalen Arbeitsgruppe. Mit dabei die EU-Kommission und auch Vertreter von Regierungen.
In dieser Expertengruppe ist auch Volker Sandner vom ADAC:
Volker Sandner
ADAC Kraftfahrzeugsicherheit
„Tatsächlich ist es so, dass man also wirklich sehen kann: Häufig gehen die Beschwerden nach einigen Tagen, Wochen, manchmal auch Monaten wieder zurück. Aber wir haben hier wirklich 5 bis 10% der Fälle, die sich über Jahre hinweg ziehen und teilweise sogar bleibende Schädigungen für den Geschädigten hier nach sich ziehen.“
Also doch so viele Langzeitschäden an der Halswirbelsäule?
Gutachter Prof. Castro stellt das in Frage. Versicherungen sparen dadurch viel Geld.
Ist er wirklich unabhängig?
Prof. William Castro
Orthopädisches Forschungsinstitut
„Dass wir auch für Versicherungen Gutachten machen, ist unbestritten. Aber der Eindruck wäre grundsätzlich falsch, wenn vermittelt wird, dass wir ein Versicherungsgutachteninstitut sind. Das ist grundsätzlich falsch!“
Geschädigte wie Nestler können mögliche Abhängigkeiten nicht überprüfen lassen. Denn Gutachter müssen niemandem offenlegen, für welche Auftraggeber sie arbeiten und wie viel Umsatz sie mit ihnen machen.
Auch den Gerichten nicht. Dem Oberlandesgericht Düsseldorf sind bei Gutachten von Professor Castro Fehler aufgefallen - regelmäßig zum Vorteil von Versicherungen.
Ulrich Egger
Oberlandesgericht Düsseldorf
„Der Senat geht davon aus, dass die Gutachten des Sachverständigen mehrfach nicht den inhaltlichen Anforderungen genügt haben, die im konkreten Fall erforderlich gewesen wären. Vielmehr hat der Senat nach Einholung weiterer Gutachten regelmäßig eine andere Entscheidung getroffen als zunächst nach der Entscheidung des Sachverständigen nahegelegen hätte.“
Die Gerichte müssen auf Gutachter wie Castro und deren Expertise vertrauen. Doch das Landgericht Kiel hat Zweifel, ob Castro wirklich unabhängig ist, Zitat:
„..., weil dessen Feststellungen ... mit den tatsächlichen Gegebenheiten .... nicht in Einklang zu bringen waren und dabei jeweils zum Nachteil des Geschädigten und zum Vorteil der in Anspruch genommenen Versicherung ausfielen."
Prof. William Castro
Orthopädisches Forschungsinstitut
„Diese Meinung von diesem Richter in Kiel ist eine Meinung, die man respektiert, aber es ist halt eine Meinung eines Richters.“
KONTRASTE hat einige große Versicherungen angefragt: Wie eng arbeiten sie mit Professor Castro und anderen Gutachtern zusammen? Darauf keine Antwort. Die Allianz präsentiert uns stattdessen eine andere Bilanz, Zitat:
„Es werden rund 400 HWS-Schadenfälle pro Jahr gegen die Allianz gerichtlich geltend gemacht. In circa 80 bis 85 Prozent der Fälle obsiegen wir vor den Gerichten."
Spielen parteiliche Gutachten dabei eine Rolle? Schwer heraus zu bekommen, weil medizinische Gutachter kaum kontrolliert werden.
Ganz anders technische Gutachter, zum Beispiel für Autos. Auch Peter Beccard arbeitet immer wieder für Gerichte. KFZ-Sachverständige werden von der Industrie- und Handelskammer zugelassen, vereidigt und kontrolliert.
Peter Beccard
KFZ-Sachverständiger
„Die unterwerfen sich dann der öffentlichen Bestellung und Vereidigung, legen dort eine Prüfung ab, werden auch wieder regelmäßig geprüft. Und dadurch ist eine gewisse Kompetenz auch da, die überwacht wird."
Wir haben bei der Bundesjustizministerin angefragt, warum medizinische Gutachter in Deutschland ihre Verbindungen zu Versicherungen nicht offen legen müssen. Ministerin Leutheusser-Schnarrenberger antwortet schriftlich:
"Die geltende Rechtslage bietet ... den Parteien ausreichend Schutz vor Sachverständigen, die ihre Pflichten nicht gewissenhaft wahrnehmen."
Günther Nestler sieht sich nicht ausreichend geschützt. Ihm droht, dass er noch lange um seine Entschädigung kämpfen muss.
Beitrag von Gregor Witt und H. C. Schultze
15. April 2002. Ein Tag, an dem das Leben von Günther Nestler völlig aus den Fugen gerät. Damals war er auf dem Nachhauseweg.
Eine Frau hat ihm die Vorfahrt genommen.
Beide Autos: Totalschaden.
Günther Nestler wird schwer verletzt. Heute, 11 Jahre danach, ist seine Halswirbelsäule immer noch geschädigt.
Günther Nestler
„Ich kann nicht lange Auto fahren, kann Erschütterungen aufnehmen, die merkt man dann auch wieder in der Halswirbelsäule. Ich kann meinen Kopf nicht in allen Bereichen drehen, wie ich das möchte, wenn dann unter Schmerzen. Und die Summe der Schmerzen macht es dann eigentlich unerträglich auf Dauer. Deswegen guck ich eigentlich nur geradeaus und beweg meinen Kopf recht wenig.“
20 Jahre lang war er Berufskraftfahrer bei der Hagener Polizei. Seit dem Unfall ist er berufsunfähig.
Die gegnerische Versicherung zahlt rasch, aber nur für sein kaputtes Auto. Nicht für seine Halswirbelsäulenverletzung, die er bis heute ohne Schmerzmittel nicht ertragen kann.
Er klagt beim Landgericht Hagen. Der Richter gibt ein medizinisches Gutachten in Auftrag. Es soll feststellen, ob Günther Nestler tatsächlich noch durch den Unfall geschädigt ist. Gutachter ist
Professor William Castro. Gründer eines der größten Gutachterinstitute Deutschlands mit mittlerweile acht Standorten. Sie erstellen Jahr für Jahr Hunderte Gutachten für Gerichte. Bei Günther Nestler, so behauptet Castro, sei die Halswirbelsäulenverletzung, kurz HWS-Distorsion, längst ausgeheilt.
Prof. William Castro
Orthopädisches Forschungsinstitut
„HWS-Distorsionen, die heilen in der Regel folgenlos aus bei dem Normalbürger. Innerhalb von Wochen bis Monaten.“
Aber stimmt das?
Dauerschäden durch Halswirbelsäulenverletzungen sind in Europa sehr häufig. Sie gehören zu den teuersten Unfallfolgen.
Das behaupten Forschungsergebnisse einer internationalen Arbeitsgruppe. Mit dabei die EU-Kommission und auch Vertreter von Regierungen.
In dieser Expertengruppe ist auch Volker Sandner vom ADAC:
Volker Sandner
ADAC Kraftfahrzeugsicherheit
„Tatsächlich ist es so, dass man also wirklich sehen kann: Häufig gehen die Beschwerden nach einigen Tagen, Wochen, manchmal auch Monaten wieder zurück. Aber wir haben hier wirklich 5 bis 10% der Fälle, die sich über Jahre hinweg ziehen und teilweise sogar bleibende Schädigungen für den Geschädigten hier nach sich ziehen.“
Also doch so viele Langzeitschäden an der Halswirbelsäule?
Gutachter Prof. Castro stellt das in Frage. Versicherungen sparen dadurch viel Geld.
Ist er wirklich unabhängig?
Prof. William Castro
Orthopädisches Forschungsinstitut
„Dass wir auch für Versicherungen Gutachten machen, ist unbestritten. Aber der Eindruck wäre grundsätzlich falsch, wenn vermittelt wird, dass wir ein Versicherungsgutachteninstitut sind. Das ist grundsätzlich falsch!“
Geschädigte wie Nestler können mögliche Abhängigkeiten nicht überprüfen lassen. Denn Gutachter müssen niemandem offenlegen, für welche Auftraggeber sie arbeiten und wie viel Umsatz sie mit ihnen machen.
Auch den Gerichten nicht. Dem Oberlandesgericht Düsseldorf sind bei Gutachten von Professor Castro Fehler aufgefallen - regelmäßig zum Vorteil von Versicherungen.
Ulrich Egger
Oberlandesgericht Düsseldorf
„Der Senat geht davon aus, dass die Gutachten des Sachverständigen mehrfach nicht den inhaltlichen Anforderungen genügt haben, die im konkreten Fall erforderlich gewesen wären. Vielmehr hat der Senat nach Einholung weiterer Gutachten regelmäßig eine andere Entscheidung getroffen als zunächst nach der Entscheidung des Sachverständigen nahegelegen hätte.“
Die Gerichte müssen auf Gutachter wie Castro und deren Expertise vertrauen. Doch das Landgericht Kiel hat Zweifel, ob Castro wirklich unabhängig ist, Zitat:
„..., weil dessen Feststellungen ... mit den tatsächlichen Gegebenheiten .... nicht in Einklang zu bringen waren und dabei jeweils zum Nachteil des Geschädigten und zum Vorteil der in Anspruch genommenen Versicherung ausfielen."
Prof. William Castro
Orthopädisches Forschungsinstitut
„Diese Meinung von diesem Richter in Kiel ist eine Meinung, die man respektiert, aber es ist halt eine Meinung eines Richters.“
KONTRASTE hat einige große Versicherungen angefragt: Wie eng arbeiten sie mit Professor Castro und anderen Gutachtern zusammen? Darauf keine Antwort. Die Allianz präsentiert uns stattdessen eine andere Bilanz, Zitat:
„Es werden rund 400 HWS-Schadenfälle pro Jahr gegen die Allianz gerichtlich geltend gemacht. In circa 80 bis 85 Prozent der Fälle obsiegen wir vor den Gerichten."
Spielen parteiliche Gutachten dabei eine Rolle? Schwer heraus zu bekommen, weil medizinische Gutachter kaum kontrolliert werden.
Ganz anders technische Gutachter, zum Beispiel für Autos. Auch Peter Beccard arbeitet immer wieder für Gerichte. KFZ-Sachverständige werden von der Industrie- und Handelskammer zugelassen, vereidigt und kontrolliert.
Peter Beccard
KFZ-Sachverständiger
„Die unterwerfen sich dann der öffentlichen Bestellung und Vereidigung, legen dort eine Prüfung ab, werden auch wieder regelmäßig geprüft. Und dadurch ist eine gewisse Kompetenz auch da, die überwacht wird."
Wir haben bei der Bundesjustizministerin angefragt, warum medizinische Gutachter in Deutschland ihre Verbindungen zu Versicherungen nicht offen legen müssen. Ministerin Leutheusser-Schnarrenberger antwortet schriftlich:
"Die geltende Rechtslage bietet ... den Parteien ausreichend Schutz vor Sachverständigen, die ihre Pflichten nicht gewissenhaft wahrnehmen."
Günther Nestler sieht sich nicht ausreichend geschützt. Ihm droht, dass er noch lange um seine Entschädigung kämpfen muss.
Beitrag von Gregor Witt und H. C. Schultze