Überfüllt und überlastet -
Seit Jahren gehen immer mehr Patienten in die Notaufnahmen - auch weil sie keine Termine bei Haus-und Fachärzten bekommen. Doch die vielen ambulanten Fälle sind ein Verlustgeschäft für die Kliniken. Die Folgen sind gravierend: es muss am Personal gespart werden und das bekommt der Patient zu spüren. Doch die Lobby der Kassenärztlichen Vereinigungen blockiert eine bessere Vergütung der Notaufnahmen. Und die Politik wagt keinen Systemwechsel.
Anmoderation: Kennen Sie das? Sie brauchen dringend einen Arzttermin, bekommen den aber erst viele Wochen später, selbst in akuten Fällen. Genau das zeigt auch ein Test, den wir bei 60 Berliner Fachärzten gemacht haben. Oft hieß es: Dann gehen Sie doch in die Notaufnahme! Doch genau das ist das Problem! Deutschlands Notaufnahmen sind hoffnungslos überfüllt - bei gleichzeitig viel zu wenig Personal. Für den Patienten kann das zu einem Risiko werden. Caroline Walter, Andrea Everwien und Christoph Rosenthal.
Bodo Treptow ist erst vor wenigen Tagen wieder gestürzt. Für ihn ist nichts mehr wie es war. Er hat Probleme beim Laufen, Sehen und Sprechen. Er hatte einen Schlaganfall, der in einer Berliner Notaufnahme nicht erkannt und nicht behandelt wurde.
Bodo Treptow
"Hmm. Man weiß und kann nicht reden …"
Anfang August: Bodo Treptow geht es sehr schlecht, er hat rasende Kopfschmerzen, Schwindel, Übelkeit. Seine Frau ruft die Feuerwehr, sie bringt ihn in die Notaufnahme. Doch dort ist viel los. Erst nach über fünf Stunden kommt eine Ärztin und erklärt, er hätte nur eine Magen-Darm-Entzündung, er bräuchte keine Therapie. Sie schickt ihn nach Hause. Ein fataler Fehler, denn er hatte offenbar an diesem Tag zwei Schlaganfälle, wie sich später herausstellte.
Bodo Treptow
"Wenn man das rechtzeitig erkannt hätte, dann hätte ich vernünftiger sprechen können, dann hätte ich nicht so eine dramatische Sache da miterlebt, die ich erleben musste."
Gestresste Ärzte, zu viele Patienten - die Notaufnahmen sind seit Jahren chronisch überlastet. Auch durch Fälle, die eigentlich Haus- und Fachärzte behandeln könnten.
Patienten in Notaufnahme
Frau
"Ich möchte jetzt nicht lange beim Orthopäden sitzen und warten und dann hier zum Röntgen, das ist doch viel bequemer."
Kontraste
"Warum geht man mit Magenschmerzen ins Krankenhaus?"
Frau
"Ich war erst beim Hausarzt und der hat mich dann zur Notambulanz geschickt."
Kontraste
"Warum das denn?"
Frau
"Weil sie meinten, sie könnten das da nicht behandeln."
Junger Mann
"Herzrhythmusstörungen, Herzschwäche von der Arbeit. Kann man eigentlich zum Hausarzt gehen, aber heute ist Feiertag, von daher muss ich hierher kommen."
Auch hier am Klinikum Frankfurt Höchst füllt sich die Notaufnahme, wenn die Kassenpraxen geschlossen sind. Dr. Petersen und seine Ärzte sind im Dauereinsatz. Er muss untersuchen, ob der kleine Junge mehr als eine Platzwunde hat. Der nächste Patient hatte einen Arbeitsunfall, er wurde eingequetscht von Fahrzeugen.
Als ein Mädchen mit Verdacht auf schwere Kopfverletzung eingeliefert wird, steht das ganze Team bereit. Die anderen Patienten müssen jetzt warten.
Arbeiten am Limit – und das vor allem in finanzieller Hinsicht. Denn die Notaufnahmen machen jedes Jahr hohe Verluste - hier in Höchst sind es etwa zwei Millionen Euro Defizit pro Jahr.
Es geht um ambulante Fälle wie diesen:
Die junge Frau hatte einen Fahrradunfall, sie wird untersucht und geröntgt. Für ihre Behandlung bekommt die Notaufnahme nur ca. 35 Euro pauschal erstattet.
Dr. Peter-Friedrich Petersen, Chefarzt Notaufnahme Klinikum Frankfurt Höchst
"Das deckt die Kosten nicht im Mindesten. Das ist das Problem. Wir haben durch die Vorhaltekosten, weil wir halt einen relativ großen Apparat haben, weil wir relativ viel Personal brauchen, was ja auch rund um die Uhr vorgehalten werden muss, und das führt dann dazu, dass wir im Durchschnitt halt pro Patient 100 Euro drauf legen, pro ambulanten Patient."
Bei diesem Patienten wird Blut abgenommen und innerhalb einer Stunde ist das Ergebnis da. Doch auf den Kosten bleibt die Klinik oft sitzen.
Dr. Peter-Friedrich Petersen, Chefarzt Notaufnahme Klinikum Frankfurt Höchst
"Seit drei Jahren und ich glaub, fünf Monaten, kriegen wir keinen einzigen Laborwert mehr bezahlt bei ambulanten Patienten. Wenn wir die Rechnung einreichen, dann wird gesagt, das war nicht nötig. Das weiß ich hinterher dann auch, aber wenn ich es abnehme, weiß ich es noch nicht. Er hat Bauchschmerzen und ich möchte ausschließen, dass er ein größeres Problem hat."
Das Grundproblem liegt im System: Die ambulante Notfallversorgung ist eigentlich Aufgabe der Kassenärzte. Wenn sich der Patient aber in der Notaufnahme behandeln lässt, müssen die Kliniken mit den Kassenärztlichen Vereinigungen abrechnen. Und die zahlen nur eine geringe Notfallpauschale – sie verteidigen hartnäckig ihr Budget.
Die Folge dieser chronischen Unterfinanzierung: Viele Notaufnahmen müssen am Personal sparen.
Dieser Arzt war Leiter einer Notaufnahme in Bayern. Sie sei personell völlig unterbesetzt gewesen und das habe Patienten gefährdet, offenbart er gegenüber Kontraste.
So wurde eine ältere Dame nach einem Sturz eingeliefert. Drei Stunden kümmerte sich niemand um sie – denn der zuständige Arzt musste ein Unfallopfer behandeln.
Leiter Notaufnahme anonym
"Plötzlich kam die Meldung von der Schwester die Dame sei bewusstlos geworden. Es stellte sich dann heraus, sie hatte eine massive Hirnblutung. Und da macht es einen Unterschied, ob man das gleich erkennt oder drei Stunden lang Blut in das Gehirn läuft. Ich habe die Klinikleitung sofort über diesen Vorfall informiert und mehr Stellen für Ärzte gefordert."
Aber die Klinikleitung habe überhaupt nicht reagiert. Für mehr Personal sei eben kein Geld da, hieß es. Durch die Überlastung häuften sich die Fehler, berichtet der Arzt. Dann kam es zu einem Todesfall auf dem Flur – ein älterer Herr mit Herzproblemen, der lange warten musste.
Leiter Notaufnahme anonym
"Man hat ihn letztlich tot auf dem Gang gefunden, ohne dass ihn ein Arzt vorher gesehen hat. Für mich war das ein einschneidendes Erlebnis. Ich habe ständig gewarnt, dass in der Notaufnahme Patienten zu Schaden kommen und trotzdem wurde das ärztliche Personal nicht aufgestockt. Das ist fahrlässig und deshalb habe ich gekündigt."
Notaufnahmen, die vor dem Kollaps stehen – weil bis heute um die Finanzierung gestritten wird.
Die Politik hat die verantwortlichen Akteure jetzt verpflichtet, die Pauschalen neu zu verhandeln. Wir treffen einen Lobbyisten der Kassenärztlichen Vereinigungen, aus deren Topf das Geld für die Notaufnahmen kommen müsste. Er macht keinen Hehl daraus, welches Ziel sie bei den Verhandlungen verfolgen.
Martin Degenhardt, Freie Allianz der Länder-Kassenärztl. Vereinigungen
"Wir haben natürlich ein Interesse so wenig wie möglich abzugeben, weil dieses Geld den Haus- und Fachärzten vor Ort fehlt. Also wir haben ein gedeckeltes Budget und alles, was ich den Kliniken mehr zahle, fehlt dem Hausarzt und dem Facharzt vor Ort an Honorar."
Außerdem sollten die Notaufnahmen Patienten eben wegschicken, die dort nicht hingehören.
Über solche Aussagen ärgert sich Thomas Reumann von der Deutschen Krankenhausgesellschaft. Als Landrat ist er für drei Kliniken verantwortlich und kennt die Schieflage.
Thomas Reumann, Präsident Deutsche Krankenhausgesellschaft
"Die niedergelassenen Ärzte und die Kassenärztlichen Vereinigungen stellen diese ambulante Notfallversorgung nicht sicher. Und auf der anderen Seite haben wir die Situation, dass die Finanzierung der Krankenhausleistungen völlig unzureichend ist, was dazu führt, dass die Krankenhäuser in weitere hohe Defizite reinlaufen."
Während in Deutschland um's Geld gestritten wird, ist man in der Schweiz seit vielen Jahren weiter. Hier sind die Notaufnahmen bestens ausgestattet – im Inselspital Bern drei erfahrene Oberärzte, sieben Assistenzärzte und ausreichendes Pflegepersonal in jeder Schicht.
Dr. Beat Lehmann, Notfallzentrum Inselspital Bern
"Wir haben im Gegensatz zu Deutschland erkannt, wie wichtig die Notfallstation ist. Wir haben auch erkannt, dass es keine Veränderungen gibt, ohne dass wir das entsprechend finanzieren …"
So niedrige Pauschalen wie in Deutschland sind hier undenkbar. Die Schweizer Notaufnahmen rechnen alle erbrachten Leistungen direkt mit den Krankenversicherern ab – und die zahlen kostendeckend. Von diesem System ist man in Deutschland weit entfernt.
Dr. Peter-Friedrich Petersen, Chefarzt Notaufnahme Klinikum Frankfurt Höchst
"Da muss eigentlich eine grundsätzlich andere Finanzierung erfolgen. Also zumindest muss man das anstreben, dass man diese Töpfe einfach trennt, das man sagt, jawohl wir finanzieren die Krankenhäuser und die Notaufnahmen der Krankenhäuser separat. Das hat auch was mit Daseinsvorsorge zu tun."
Doch das muss die Politik entscheiden. Bis dahin bleiben Patienten wie Bodo Treptow die Leidtragenden.
Bodo Treptow
"Ich hab nur Angst, dass das Gleiche wieder passiert. Da will ich nicht mehr hin …"
Abmoderation: Übrigens: Die Berliner Kassenärzte haben jetzt einen ganz originellen Vorschlag für das Finanzierungsproblem der Notaufnahmen präsentiert: Die Patienten sollen selbst zahlen! 20 Euro für die Behandlung in der Notaufnahme! Wie zynisch!
Beitrag von Caroline Walter, Andrea Everwien und Christoph Rosenthal