- Pädophilie: Trotz aller Entrüstung - kaum Geld für Therapieplätze

Pädophilie ist eine Krankheit, die zwar nicht heilbar, aber therapierbar ist. Schon 2012 berichtete KONTRASTE, dass Pädophile oft monatelang auf einen Therapieplatz warten. Mit dem Fall Edathy wurde das Thema wieder aktuell. Wir haben nachgefragt: Was hat sich verändert? Das Ergebnis ist enttäuschend, trotz aller Beteuerungen der Politik.

Die Bundesregierung prüft, als Reaktion auf die Edathy-Affäre, ob die Gesetze zum Handel mit Nacktfotos von Kindern verschärft werden sollen. Aber reicht das allein, um die Kinder besser zu schützen? Schon vor zwei Jahren hatten wir berichtet, wie notwendig es ist, Pädophile mit therapeutischer Hilfe dazu zu bringen, ihre Neigung unter Kontrolle zu halten. Das sei der beste Schutz für unsere Kinder, sagen uns Experten. Doch die Politik sieht hier offenbar keinen Handlungsbedarf. Susanne Katharina Opalka und Jo Goll.

Irgendwo im Hohen Norden: Wir treffen Michael, Mitte 30. Er hat lange überlegt, ob er mit uns sprechen will. Michael ist pädophil. Er offenbart uns, dass er sich von Mädchen vor der beginnenden Pubertät sexuell angezogen fühlt. Doch ihm ist klar, dass er diese Neigung nie ausleben darf:

Michael, Stimme nachgesprochen
„Körperliche Nähe, zärtliche Zuwendung, gemeinsam auf dem Sofa kuscheln: Das wäre so eine aberwitzige Vorstellung oder Hoffnung, dass ein Mädchen mich dann in gleicher Weise liebt und aus freien Stücken. Das ist so etwas, von dem ich schon immer weiß, dass es absolut unmöglich ist, weil kein Kind der Welt das möchte.“

Michael hat gelernt seinen Wünschen nicht nachzugeben – um Kinder zu schützen. Er geht lieber laufen. Seit zwei Jahren ist er in Therapie - dort hat er begriffen, dass er an einer lebenslangen Krankheit leidet, der Pädophilie. Und noch viel wichtiger: Er weiß jetzt, wie er seine Gefühle durch Strategien kontrollieren kann. Besonders dann, wenn er mit Kindern in Kontakt kommt

Michael, Stimme nachgesprochen
„Da kommt dann immer dieses Risikoschild: Halt, Stopp, das geht nicht. Aha, da ist wieder so eine Situation. Vorsicht. Das ist so ähnlich wie beim Autofahren, das wird zu einem Automatismus, dass ich gar nicht mehr großartig bewusst darüber nachdenken muss.“

Ein Prozent aller Männer soll pädophile Neigungen haben – so jüngste Forschungsergebnisse. In Deutschland sind demnach mindestens 250 000 Männer betroffen. Sie haben sich diese Störung nicht ausgesucht, sie ist Schicksal. Wer seine Neigung nicht im Griff hat, kann Kinder zu Opfern machen. Aber viele holen sich keine Hilfe. Der Spot eines Präventionsprojekts soll sie dazu bewegen, sich aus dem Dunkeln hervor zu wagen:

Spot (Quelle: Kein-Täter-werden)
„Durch die Therapie habe ich gelernt: niemand ist Schuld an seiner sexuellen Neigung. Aber jeder verantwortlich für sein Verhalten. Ich will kein Täter werden.“

„Kein-Täter-werden“ – so der Name eines bundesweiten Forschungsnetzwerks. Wir sind in Regensburg – an einem der acht Standorte des Projekts. Wir erfahren: Wer sich hier meldet, bleibt anonym, muss weder seinen Namen noch seine Adresse nennen. Mit Medikamenten und therapeutischer Unterstützung werden Pädophile hier behandelt, damit sie ihre Impulse beherrschen – auch beim Surfen im Internet.

Michael, Stimme nachgesprochen
„Was ich durch die Therapie gelernt habe, dass hinter jedem Foto auch ein Missbrauch steht. Und damit auf ewig die Seele eines Kindes zerstört wurde. Daran will ich auf keinen Fall beteiligt sein.“

Seit 2005 haben 3500 Männer Kontakt zu dem Projekt aufgenommen, 1800 davon waren oder sind noch in Therapie. Die Masse der Pädophilen lebt unerkannt:

Prof. Michael Osterheider
Universität Regensburg

„Sie sind unter uns, sie sind nicht sichtbar, sie sehen nicht anders aus als wir. Und ein Großteil der Männer führt auch ein völlig unauffälliges Leben. Diese Männer kommen aus allen Bevölkerungsschichten/Das reicht vom Hartz 4-Empfänger bis hin zum Vorstandsvorsitzenden eines DAX-orientierten Unternehmens. Und erstaunlich ist, dass diese Männer eigentlich sozial relativ gut eingebunden sind. häufig auch Familie haben, zur Hälfte fast, auch soziale Kontakte und Bindungen haben.“

Auch Michael hat einen guten Job und führt ein normales, geregeltes Leben. Für das kostenlose Therapieangebot fährt er ein Mal pro Woche mit dem Auto dreieinhalb Stunden nach Hannover – zum einzigen Stützpunkt des Projekts in Niedersachsen.
Seine Therapeutin hat ihm das Wichtigste beigebracht: sich selbst so zu akzeptieren wie er ist und wie er gegen seine sexuelle Neigung ankämpfen kann – ein Leben lang:

Miriam Spenhoff
Psychologin, Medizinische Hochschule Hannover

„Wenn sich ein Betroffener bewusst macht, dass eben die sexuelle Neigung Schicksal ist und nicht Wahl und er sich dafür entscheidet auch die komplette Verantwortung dafür zu tragen, dann kann er sicher ein ganz zufriedenes Leben führen. Bleibt aber natürlich immer anstrengend und aufwendig.“

Tausende Männer können diesen verantwortungsvollen Umgang mit ihrer sexuellen Neigung nicht erlernen – auch weil sie bei „Kein Täter werden“ keinen Therapieplatz bekommen. Das Projekt ist seit Jahren chronisch unterfinanziert.

Fast alle Stützpunkte werden mit nur knapp 800 000 Euro aus den klammen Kassen der Länder gefördert, keines der Projekte ist länger als zwei Jahre gesichert. An einzelnen Standorten wie Hamburg herrscht derzeit Aufnahmestopp. In Nordrhein-Westfalen und in weiten Teilen Süddeutschlands gibt es gar keine Angebote.

Das führt dazu, dass Männer mit pädophilen Neigungen häufig weggeschickt werden müssen – ohne Therapieangebot. Es entstehen Wartezeiten. Ein vermeidbares Risiko, meint Professor Osterheider:

Prof. Michael Osterheider
Universität Regensburg

„Wartezeit heißt bei diesen Männern auch möglicherweise, dass sie sich nicht mehr unter Kontrolle haben und das erneut Kinder zu Opfern werden.“

Das Projekt dient dem Opferschutz. Doch nur der Berliner Standort wird vom Bundesjustizministerium gefördert - derzeit mit gerade mal 240 000 Euro im Jahr. Das Bundesgesundheitsministerium dagegen sieht sich für die Behandlung dieser Krankheit offenbar nicht zuständig und gibt für das Präventionsprojekt keinen Cent.

Wir wollten Minister Hermann Gröhe fragen, warum das so ist. Ohne Erfolg. Kein Interview. Stattdessen eine schriftliche Erklärung, in der die Verantwortung auf die Krankenkassen abgeschoben wird.

„Die Leistungspflicht der Krankenkassen gilt“

Im Klartext: Wer befürchtet Täter zu werden, soll sich einem niedergelassenen Therapeuten offenbaren, die Versichertenkarte zücken, die Krankenkasse zahlt. Fertig. Die Wirklichkeit sieht aber anders aus, weiß Michael. Denn: Für alle diese Männer gilt: Sie haben Angst vor Entdeckung. Deshalb sichert das Projekt auch allen Betroffenen völlige Anonymität zu. Für Michael das Wichtigste:

Michael, Stimme nachgesprochen
„Die Anonymität ist für mich ganz entscheidend. Wenn die Diagnose Pädophilie verbunden mit meinem echten Namen und vielleicht sogar mit meiner Adresse in einem Bericht bei einem normalen Psychotherapeuten auftaucht, kann ich mir nicht mehr wirklich sicher sein, dass das nicht das berufliche und auch das gesellschaftliche Aus – die gesellschaftliche Hinrichtung bedeuten kann.“

Ausgrenzung, Ächtung, das Problem hin- und herschieben. Die Verweigerungshaltung von Politik und Gesellschaft verschärft das Problem

Prof. Michael Osterheider
Universität Regensburg

„Hier ist ganz eindeutig aus meiner Sicht, die Politik gefordert: Wollt ihr das? Wollt ihr Präventionsprojekte für Kinder? Es muss ein klares Statement der Bundesregierung erfolgen, wir wollen nicht. dass unsere Kinder Opfer sexuellen Missbrauchs werden und eine Stellschraube kann die Finanzierung solcher Präventionsprojekte sein.“

Michael, so sagt er, hat noch nie einem Kind etwas angetan – und er will, dass dies so bleibt. Und dafür braucht er Hilfe – wie Zehntausende andere auch.

Hilfe, die vor allem dem Zweck dient, Kinder zu schützen. Wie stehen Sie dazu? Sollen Pädophile mehr Hilfe bekommen, damit wir so Kinder und Jugendliche besser schützen? Wir würden uns freuen, wenn Sie uns Ihren Kommentar dazu schicken! Sie erreichen uns unter www.kontraste.de.

 

Beitrag von Jo Goll und Susanne Opalka