Patient beim Arzt (Quelle: rbb)

- Phantasiepreise - Pharmaindustrie macht Kasse mit neuen Medikamenten

Die Krankenkassen müssen für neue Medikamente jeden Preis bezahlen, den der Hersteller verlangt. Dabei sind die Vorteile der neuen teuren Arzneimittel oft sehr bescheiden. Bundesgesundheitsministerin Schmidt will jetzt mit „Kosten-Nutzen-Bewertungen“ die enormen Preissteigerungen bei den Arzneimitteln begrenzen. Doch das halten Mediziner und Krankenkassen für eine Illusion.

Krebs. Eine Krankheit, die Angst macht. Für die Pharma-Industrie hat Krebs nichts Bedrohliches. Im Gegenteil. Mit keiner anderen Krankheit lässt sich so viel Geld machen wie mit ihr. Jedes Jahr erkranken etwa 11 Millionen Menschen weltweit neu an Krebs. Und weil es bei Krebs nun einmal oft um Leben und Tod geht, scheint fast jeder Preis für ein Medikament möglich. Und so können sich Pharmakonzerne an einer potentiell tödlichen Krankheit förmlich gesundstoßen. Ursel Sieber.

Das ist Heinz Lüder, 61 Jahre alt. Er hat Krebs, Darmkrebs. Alle drei Wochen muss er ins Krankenhaus, zur Chemotherapie. Heinz Lüder wird mit neuesten Medikamenten behandelt und setzt große Hoffnungen in sie. Dass moderne Arzneimittel sehr teuer sind, interessiert ihn wenig – er hofft einfach, dass sie ihm helfen.

Heinz Lüder, Patient
„Ich erwarte es auch so, dafür hat man ein Leben gearbeitet. Dass wenn jetzt etwas neues auf dem Markt ist, dass man dann auch sagt, los, das musst Du kriegen.

Sein Arzt verordnet es, die Krankenkasse zahlt. Heinz Lüder kann nicht mehr geheilt werden, weil der Krebs schon Metastasen, also Tochtergeschwüre in der Leber gebildet hat. Aber die neuen Medikamente können sein Leben vielleicht verlängern. Dass die Hersteller gerade für Krebsmittel horrende Preise verlangen, das ärgert den Arzt.

Albrecht Kretzschmar, Oberarzt, HELIOS-Kliniken Berlin-Buch
„Weil Krebs als bedrohliche Erkrankung, die ja auch in vielen Fällen zum Tode führt, gesehen wird, und von Seiten der Hersteller, die über die Preise sich Gedanken machen, dann letzlich das ausgekitzelt wird und rausgeholt wird, was durchsetzbar ist.“

Ein Beispiel dafür ist das Krebsmittel, mit dem Heinz Lüder behandelt worden ist: 36.000 Euro und mehr kostet dieses Medikament für einen Patienten pro Jahr. Es heißt Avastin - eines der umsatzstarken Krebsmittel der Firma Roche. Roche bekam vor drei Jahren die Zulassung für Avastin von der für Europa zuständigen Behörde in London. Auf die Frage von KONTRASTE, wie der Preis zustande kommt, erklärt die Firma Roche. Zitat: „Wir bitten um Verständnis, dass wir solche Interna nicht veröffentlichen“.

Preisbildung ist also Geheimsache: Prof. Ludwig, einer der führenden Krebsspezialisten in Deutschland hat kein Verständnis für solche Geheimniskrämerei, die am Ende die Krankenkassen bezahlen müssen.

Prof. Wolf-Dieter Ludwig, Chefarzt, HELIOS-Kliniken Berlin-Buch
„Deutschland hat eine Sonderstellung dahin gehend, dass in Deutschland nahezu jeder Preis verlangt werden kann für dieses neue Arzneimittel in der Krebstherapie und dass keine Verhandlungen stattfinden hinsichtlich des Nutzens dieser Arzneimittel, das heißt, in dem Moment, wo das Medikament zugelassen ist, kann es ohne Einschränkungen auch verordnet werden.“

Das gilt auch für Avastin. In der Zulassungsstudie verglich der Hersteller sein Medikament: Die einen Patienten erhalten nur Chemotherapie, die anderen Chemotherapie plus Avastin. Ergebnis: Die Patienten, die nur Chemotherapie bekommen, leben im Durchschnitt noch 15,6 Monate, Patienten, die Chemotherapie plus Avastin erhalten, leben noch 20,3 Monate, also im Durchschnitt 4,5 Monate mehr.

Damit wirbt der Hersteller bei den Ärzten: „Erfolg bei Darmkrebs“. Auch der Krebskranke Heinz Lüder hofft, dass es stimmt – auch auf wenige Monte längere Lebenszeit will er nicht verzichten.

Doch es gibt noch eine andere Studie, die Avastin mit der in Deutschland üblichen Standardtherapie vergleicht. Sie zeigt diesen Überlebensvorteil nicht mehr. Ist der Nutzen also womöglich geringer als vom Hersteller behauptet? Prof. Ludwig hat Zweifel. Zweifel hat er auch generell am behaupteten Fortschritt vieler neuer Krebsmedikamente.

Prof. Wolf-Dieter Ludwig, Chefarzt, HELIOS-Kliniken Berlin-Buch
„Es ist für mich absolut nicht gerechtfertig, dass wir Jahrestherapiekosten von 100.000 Euro derzeit finanzieren müssen, ohne den Nutzen zu kennen und ohne zu Wissen, ob diese Medikamente für unsere Patienten einen echten Vorteil bedeuten.“

Krebs haben die großen Pharmakonzerne als profitablen Markt entdeckt.
Wolfgang Kaesbach vom Spitzenverband der Krankenversicherung weiß: Die Krankenkassen sind derzeit machtlos gegen die Preispolitik der Hersteller.

Wolfgang Kaesbach, Spitzenverband Bund der Krankenkassen
„Es gibt keine Kontrolle, die auf den Preis des Arzneimittels ausgerichtet ist, der Hersteller ist dort völlig frei. Das ist eine einzigartige Situation in Deutschland, die die pharmazeutische Industrie Hersteller in Deutschland genießt.“

Dagegen will die Bundesgesundheitsministerin jetzt vorgehen. Sie will die Preistreiberei bei neuen Medikamenten begrenzen. Ab Januar 2009 sollen die Kosten von Arzneimitteln im Verhältnis zum Nutzen bewertet werden.

Ulla Schmidt (SPD), Bundesgesundheitsministerin, Archiv 23. September 2008
„Deswegen haben wir die Kosten-Nutzen-Bewertung eingeführt. Hier sind wir erst am Anfang, das muss jetzt schnell auf den Weg gebracht werden und dann müssen wir ganz klar sagen, ein Medikament, das nur 10% mehr Nutzen hat, darf auch nur etwa 10% mehr kosten und darf nicht 300% mehr kosten.“

Klingt erstmal gut. Mit der neuen Bewertung beauftragt ist das Institut für Qualität und Wirtschaftlichkeit im Gesundheitswesen, kurz IQWIG. Es soll klären, ob der Preis für Arzneimittel im Verhältnis zum Nutzen gerechtfertigt ist.

Aber mit der Bewertung darf das Institut erst beginnen, nachdem die Medikamente schon verordnet werden - also im Nachhinein. Das hält der Institutsleiter, Prof. Sawicki für wenig effektiv.

Prof. Peter Sawicki, Institutsleiter Institut für Qualität und Wirtschaftlichkeit in der Medizin (IQWIG)
„Wir versuchen die Tür zu schließen, nachdem das Pferd bereits ausgebrochen ist aus dem Stall.“
KONTRASTE
„Was bewirkt das? Wie bewerten Sie das?“
Prof. Peter Sawicki, Institutsleiter Institut für Qualität und Wirtschaftlichkeit in der Medizin (IQWIG)
„Das bewirkt, dass viele Medikamente gibt, die ohne Nutzen auf dem Markt sind und dass es Medikamente sind, die nicht wirtschaftlich sind.“

Zudem hat der Gesetzgeber dem Institut aufwendige Verfahrensregeln vorgeschrieben; Berichtspläne, Anhörungen, Zwischenberichte. Diese Kosten-Nutzen-Bewertung dauert drei Jahre für ein einziges Medikament.

Prof. Peter Sawicki, Institutsleiter Institut für Qualität und Wirtschaftlichkeit in der Medizin (IQWIG)
„Das ist sehr, sehr aufwendig geworden, mittlerweile. Sehr bürokratisch, ich denke auch zu bürokratisch.“
KONTRASTE
„Warum ist das so?“
Prof. Peter Sawicki, Institutsleiter Institut für Qualität und Wirtschaftlichkeit in der Medizin (IQWIG)
„Na, ja, weil momentan die Industrie versucht über ihre Lobbyisten, das Verfahren möglichst hinauszuzögern, möglichst zu bremsen.“

Dass die Industrie ihr Konzept unterlaufen kann, hätte Ulla Schmidt wissen müssen: In Frankreich könnte sie sehen, wie es besser geht: Auch hier wird der Nutzen von Arzneimitteln bewertet – allerdings schon vor Markteinführung. Der Preis muss vorher genehmigt werden, sonst darf der Hersteller sein Arzneimittel in Frankreich nicht verkaufen. Hier im Gesundheitsministerium sitzen jede Woche Vertreter der Krankenversicherung, der Ministerien und der Hersteller an diesem Tisch und handeln Preis-Abkommen aus. Der Vorsitzende des Gremiums, Noel Renaudin, nennt uns ein Beispiel für einen solchen Vertrag mit der Industrie:

Noel Renaudin, Ausschuss für Medikamentenpreise
„Aber Vorsicht, sagen wir den Herstellern. Wenn wir in drei oder vier Jahren das Arzneimittel noch einmal bewerten lassen und dabei betätigt sich der Vorteil, der Zusatznutzen nicht, den das Medikament bringen sollte, müsst Ihr uns Geld zurückerstatten.“

Geld zurück erstatten? Nicht in Deutschland. Sollte das Institut später feststellen, dass die Industrie für Medikamente nicht gerechtfertigte Preise verlangt hat, könnten die deutschen Krankenkassen keinen Cent zurück verlangen.

Darüber hätten wir mit Ulla Schmidt gern gesprochen. Auf das Interview mit ihr haben wir vergeblich gewartet.

Vielleicht will Ulla Schmidt deswegen nicht mit uns reden, weil sie um den Koalitionsfrieden fürchtet. Denn die CDU will es sich noch weniger als SPD-Ministerin Schmidt mit der Pharma-Industrie verderben.