Gefährliche Quacksalber - Wie der Staat beim Patientenschutz versagt

Es soll fast alles heilen können: "MMS" (Miracle Mineral Supplement). Das jedenfalls behaupten die Erfinder. Doch "MMS" ist kein Wundermittel, sondern das Desinfektionsmittel Chlordioxid. Die gemeinsame Recherche von Kontraste und Stern deckt auf, mit welch perfiden Methoden die gefährliche Therapie propagiert wird. Eltern von autistischen Kindern werden zur Behandlung sogar Einläufe mit der Chemikalie empfohlen. Obwohl die Gesundheitsbehörden seit langem vor der Einnahme warnen, wurde das Treiben der MMS-Szene bis heute nicht gestoppt, weder von der Justiz noch von den Aufsichtsämtern. Ignoranz und fehlendes Fachwissen verhindern eine konsequente Verfolgung. Und so sind vor allem Kinder weiter den Heilsversprechen der Quacksalber schutzlos ausgeliefert.

Anmoderation: Wenn Sie eine schwere Krankheit wie etwa Krebs hätten, würden Sie vermutlich auch nach jedem Strohhalm greifen, der sich Ihnen bietet und Besserung verspricht. Doch die Gefahr ist groß, dass obskure Heilsbringer das ausnutzen. Schon vor Jahren haben wir über die Geschäftemacherei mit einem angeblichen Wundermittel namens MMS berichtet. Zunächst sah es so aus, als ob die Behörden dem gefährlichen Treiben einen Riegel vorschieben würden. Doch in einer gemeinsamen Recherche mit dem Stern haben wir jetzt herausgefunden: Die Scharlatane machen weiter. Mehr von Christoph Rosenthal und Caroline Walter.

Andreas Kalcker

"Leberzirrhose – die Leberzirrhose ist nicht heilbar. Von wegen. Magenkrebs: vorher-nachher, ist auch geheilt. Der Nächste. Es hat funktioniert gegen Colitis. Nächste. Auch geheilt. Nächste. Darmkrebs … mein Krebs ist ausgerottet."

Das behauptet Andreas Kalcker – er ist ein Publikumsmagnet auf diesem Kongress für alternative Heilmethoden in Berlin.

Hier geht es um das angebliche Wundermittel namens "MMS". Dahinter verbirgt sich Chlordioxid – eine ätzende Chemikalie, die eigentlich als Desinfektions- und Bleichmittel eingesetzt wird.

Auf dieser Bühne heißt es aber: Trinkt man es, kommt Sauerstoff in die Zellen und das heilt.

Wir fragen den renommierten Pharmakologen und Arzneimittelforscher Prof. Bernd Mühlbauer, was an der Theorie dran ist.

Prof. Bernd Mühlbauer, Institut für Pharmakologie Bremen

"Für die Annahme, dass Chlordioxid Sauerstoff in jede Zelle und auch dann sozusagen noch in den letzten Winkel des Körpers, in die Krebszelle Sauerstoff transportiert und dort eine günstige Wirkung entfaltet, dafür gibt es überhaupt keine wissenschaftlichen Belege."

Seit Jahren gibt es dagegen Warnungen von Behörden, dass die Einnahme für den Menschen schädlich ist. Die amerikanische Zulassungsbehörde FDA hat mehrere schwere Nebenwirkungen dokumentiert und auch Todesfälle.

Auf dem Alternativkongress wird uns Medien vorgeschrieben, was wir zeigen dürfen. Kritische Nachfragen sind nicht erwünscht. Das erlebte auch diese Besucherin. Sie berichtet von schlimmsten Erfahrungen mit Chlordioxid.

Kongressbesucherin (Stimme nachgesprochen)

"Mein Sohn hat eine Entzündung damit therapiert und wäre fast über den Jordan gegangen, er kam auf die Intensivstation. Ich bin durch mit MMS."

Doch mit ihren Zweifeln dringt sie bei den Chlordioxid-Verfechtern nicht durch.

Kongressbesucherin (Stimme nachgesprochen)

"Die hören nicht gerne so kritische Stimmen. Das wurde abgeblockt, weil es nicht in deren Weltbild passt."

Stattdessen behauptet Jim Humble, der Erfinder der MMS-Therapie, in seinem neuesten Buch, man könnte sogar einen Schlaganfall oder Herzinfarkt mit Chlordioxid-Tropfen behandeln.

Prof. Bernd Mühlbauer, Institut für Pharmakologie Bremen

"Ein solcher Rat ist absolut gefährlich, weil die Medizin selbstverständlich wirksame Therapien für solche Dinge wie Herzinfarkt oder Schlaganfall vorhält. Das heißt, wenn man einem Patienten rät, irgendwelche obskuren Tropfen zu schlucken, dann ist das unverantwortlich."

Die Chlordioxid-Irrlehre bringt auch Kinder in Gefahr. Andreas Kalcker propagiert gemeinsam mit der Amerikanerin Kerri Rivera: Autismus bei Kindern ließe sich mit Chlordioxid heilen. Verzweifelte Eltern auf der ganzen Welt halten sich an die Empfehlung, regelmäßige Einläufe mit der ätzenden Chemikalie zu machen. Diese sollen angebliche Würmer und Parasiten aus dem Darm holen – die Ergebnisse posten die Eltern im Internet.

Prof. Bernd Mühlbauer, Institut für Pharmakologie Bremen

"Ich finde, das ist eine Kindeswohlgefährdung. Das ist ein traumatisches Erlebnis mit diesen Einläufen. Es ist gleichzeitig das Einflößen einer ätzenden Substanz in ein empfindliches Organ. Die Darmschleimhaut kann geschädigt werden und das auf der Basis völlig fehlender wissenschaftlicher Grundlagen."

Kerri Rivera lebt jetzt in Deutschland und von hier aus veranstaltet sie Online-Vorträge – darin manipuliert sie weiterhin Eltern: Es gebe Hunderte geheilte Fälle von Autismus und keinerlei Nebenwirkungen.

Wir machen Rivera in Bremerhaven ausfindig und versuchen ein Interview mit ihr zu bekommen. Sie lehnt ab.

Kontraste

"Warum raten Sie zu dieser gefährlichen Therapie für Kinder?"

Kerri Rivera

"Sie behaupten ziemlich viel über mich."

Auf dem Kongress fällt uns auch dieser Referent auf: Dr. R. ist Allgemeinmediziner. Schon vor drei Jahren zeigte er sich als glühender Anhänger des angeblichen Zaubermittels.

Dr. R

"Ich war von ihm begeistert und ich bin froh, dass er hier ist."

Hier in Thüringen hat Dr. R. seine Praxis. Wir schicken undercover eine Testpatientin in die Sprechstunde. Ihr achtjähriger Sohn ist mit dabei – er leide an Autismus. Schnell kommt Dr. R. zum Punkt:

Dr. R. (Stimme nachgesprochen)

"Sie werden MMS-Patienten, sie werden nämlich Einläufe machen."

Er habe schon ein autistisches Kind behandelt, erzählt er:

 Dr. R.

"Er ist dadurch kindergartenfähig geworden."

Aus dem Regal holt er das Buch von Kerri Rivera. Die Mutter soll sich streng daran halten, über drei Monate.

Sie fragt nach: Das macht mir Angst, wenn da so etwas rauskommt. Tue ich meinem Sohn da nicht weh?

Dr. R.  

"Das ist kein Darm, das sind Würmer."

Dem achtjährigen zeigt er das Einlaufset und sagt, "damit wirst du gesund."

Dr. R. berichtet, dass er auch andere Patienten mit Chlordioxid behandelt hat. Der Testpatientin gibt er die Empfehlung:

Dr. R.  

"Wenn Sie morgen eine schwere Lungenentzündung haben, dann müssen sie MMS frisch mischen, 15 Tropfen Natriumchlorit mit 15 Tropfen Salzsäure. Dann ist die Lungenentzündung ein, zwei Tage später weg."

Er geht in einen Nebenraum. Dort hat er griffbereit MMS zum Mischen – und auch die fertige Chlordioxid-Lösung. Er verkauft das Mittel der Mutter.

Am Schluss schimpft er noch über die Behörden, die etwas gegen MMS hätten und zeigt dabei den Stinkefinger.

Nach dieser verdeckten Recherche wollen wir den Arzt zur Rede stellen. Er blockt ab.

Kontraste

"Warum raten Sie und empfehlen Sie eine Behandlung, die von den Behörden als gesundheitsschädlich eingestuft wird? Was soll das jetzt? Lassen Sie meine Hand los. Warum raten Sie Eltern mit autistischen Kindern, Chlordioxideinläufe zu machen, obwohl das gesundheitsschädlich ist?"

Dr. R  

"Wer sagt das?"

Kontraste

"Unsere Recherchen haben das ergeben."

Dr. R.

"Wer sagt das?"

Kontraste

"Verkaufen Sie Chlordioxid?"

Dr. R.

"Wer sagt das?"

Vor der Praxis treffen wir noch auf seine Frau.

Frau R.

"Solange wir hier als Kassenarzt tätig sind, würde es uns nie einfallen, irgendwelche Substanzen anzuwenden, die jetzt nicht offiziell erlaubt sind."

Doch genau das hat Dr R. getan.

Prof. Bernd Mühlbauer, Institut für Pharmakologie Bremen

"Der Verkauf von solchen Substanzen ist meiner Ansicht nach ein klarer Rechtsverstoß. Denn Ärzte dürfen keine Substanzen, Arzneimittel oder solche Dinge verkaufen."

Aber wer stoppt die Chlordioxid-Quacksalber endlich? Bei dem Kongress in Berlin waren Kontrolleure der lokalen Aufsichtsbehörde vor Ort. Obwohl gesetzlich verbotene Heilversprechen auf der Bühne getätigt und Proben des Mittels verteilt wurden – griffen sie nicht ein.

Später erklärt uns das Amt: Man habe keine strafbare irreführende Werbung feststellen können.

Unverständlich, findet das Prof. Jutta Hübner. Die Krebsspezialistin setzt sich seit langem für ein härteres Durchgreifen ein.

Prof. Jutta Hübner, Uniklinik Jena

"Was ich feststellen kann, ist im Prinzip nichts, nämlich dass auf keiner Ebene gehandelt wird. Wenn dann sind das mal einzelne, kleine vorsichtige Aktivitäten, aber kein systematisches Vorgehen."

Wie lasch die Behörden gegenüber der  MMS-Szene agieren – zeigen Fälle, die wir schon vor drei Jahren aufgedeckt haben.

Der Heilpraktiker Rainer Taufertshöfer: Damals hatte er einer Mutter zur Chlordioxid-Behandlung ihres Kindes geraten mit den Sätzen:

"Das dürfen Sie niemanden sagen, wenn Sie das machen - sonst kommt das Jugendamt."

Es gab zwar Ermittlungen der Staatsanwaltschaft Hildesheim – aber das Verfahren wurde eingestellt. Schriftlich heißt es dazu:

"Der Beschuldigte hat zwar unzulässige Aussagen über MMS gemacht … dies dürfte indes nicht als 'Werbung' anzusehen sein."

Und der Landkreis Holzminden entzog ihm nicht die Heilpraktikererlaubnis. Die Begründung:

Eine Gefahr für die Volksgesundheit könne nicht abgeleitet werden. Die Folge: Der Heilpraktiker macht weiter. Er ist mittlerweile in der MMS-Szene prominent und tritt selbst auf die große Bühne.

Zahllose weitere Verfahren wegen MMS wurden von der Justiz und den lokalen Aufsichtsbehörden fallengelassen mit absurden Begründungen:

"Nicht zu unseren Aufgaben gehört ... 'gefährliche Strukturen' zu bekämpfen."

"Weitere Ermittlungen stehen außer Verhältnis."

Und: MMS sei

"...nicht in Schädigungsabsicht, sondern in Heilungsabsicht verabreicht …" worden.

Der Gesundheitspolitiker Andrew Ullmann fordert eine konsequentere Verfolgung von gefährlichen Scharlatanen.

Andrew Ullmann (FDP), Obmann Gesundheitsausschuss Bundestag

"Die Länder sollen zusammen kooperieren, damit sie eine Schwerpunktstaatsanwaltschaft einrichten, damit auch schlagkräftiger und auch mit entsprechender wissenschaftlicher Kompetenz ermittelt werden kann."

Die Zeit drängt, sonst machen Leute wie Dr. R einfach weiter.

Beitrag von Christoph Rosenthal und Caroline Walter