Lohndumping bei ambulanten Intensivpflegekräften - Wie Krankenkassen das Risiko für schwerst kranke Patienten ignorieren

Tausende Patienten sind deutschlandweit rund um die Uhr auf ambulante Intensivpflege angewiesen. Das kostet die Kassen pro Patient monatlich rund 20.000 Euro. Seit Jahren versuchen die Kassen die Preise zu drücken. Die Folge: Die Patienten können sich nicht immer darauf verlassen, von gut geschulten und qualifizierten Intensivpflegekräften betreut zu werden.

Anmoderation: Doch erstmal wollen wir Ihnen zeigen, wie auf dem Rücken schwer kranker Patienten fragwürdige Geschäfte gemacht werden: 20.000 Euro -  pro Monat : soviel kostet die Krankenkassen ein Patient, der rund um die Uhr auf häusliche Intensiv-Pflege angewiesen ist. Da könne Sie sich vorstellen, dass die Kassen seit Jahren versuchen, die Preise zu drücken. Doch das hat fatale Folgen: die Patienten können sich nicht immer darauf verlassen, von gut geschulten und qualifizierten Intensivpflegekräften betreut zu werden. Sehen Sie mal, was das konkret bedeutet.

 

Von ihm hängt im Ernstfall das Leben eines Menschen ab. Ralf  ist Fachkrankenpfleger. Sein junger Patient ist schwer behindert und wird künstlich beatmet. Rund um die Uhr. Nicht im Krankenhaus sondern zu Hause. Häusliche Intensivpflege heißt das. Wenn Probleme auftreten, dann liegt es an Ralf, ob der Patient überlebt oder nicht.

O-Ton Ralf, Fachkrankenpfleger

"Er muss oft abgesaugt werden, wenn sich die Atemwege verlegen. Er kann zum Krampfen neigen, also es ist ein ganz breites Spektrum, was ich abdecken muss, ohne dass ich dann sofort auf einen Arzt zurückgreifen kann."

Ralfs Patienten werden oft direkt aus dem Krankenhaus in ihre eigene Wohnung verlegt. Seine Verantwortung ist groß. Er ist speziell ausgebildet und geschult. Intensivpfleger wie er können zu Recht Stundenlöhne ab 15 Euro fordern.

Doch: Angemessene Löhne sind mittlerweile die Ausnahme.

Denn: In der Branche der Pflegedienste tobt ein "Preiskampf". Die Pflege eines Patienten kostet die Kassen gut 20.000 Euro - im Monat. Wer preiswert anbietet, ist klar im Vorteil.

O-Ton Michael Musall, Verdi

"Die Intensivpflegebranche zeichnet sich so ein stückweit durch eine gewisse Goldgräberstimmung aus. Das heißt, hier sieht man hohe Möglichkeiten Profite einzufahren und zwar erhebliche Gewinne und das führt dann dazu, dass man überlegt, wo kann ich noch mehr Gewinn erwirtschaften und das fängt bei dem Kostenblock Personal an, also da will man sparen."

In der Kritik der Gewerkschaft steht vor allem einer der größten Anbieter Deutschlands: die GIP Intensivpflege mit Sitz in Berlin. Sie beschäftigt ca. 2.000 Mitarbeiter, ihre Pflegekräfte sind bundesweit im Einsatz.

Auf ihrer Web-Site wirbt die GIP damit, dass sie ihren Mitarbeitern Wertschätzung entgegenbringt.

Doch die Realität scheint anders zu sein. Seit Jahren gibt es Beschwerden über die GIP als Arbeitgeber – die Bezahlung sei miserabel, ein regelrechter "Hungerlohn".

Beate K. zeigt uns ein Beispiel. Die ehemalige Mitarbeiterin der GIP hat heute noch Angst vor Repressalien, deshalb will sie anonym bleiben. Ihr Stundenlohn damals: gerade mal 9 Euro 50. Trotzdem gab  es immer wieder Ärger bei der Lohnabrechnung. Und wenn sie krank wurde, war die Firma besonders dreist:

O-Ton Beate K.

"Wenn man krank war, hat die GIP einfach einen Stundenschnitt für den Tag angesetzt statt die eingeplanten zwölf Stunden. Das heißt, ich habe pro Krankheitstag auf einmal Minusstunden gehabt. Ich fühlte mich da um meinen Lohn betrogen."

Und das funktioniert so: Die reguläre Arbeitszeit bei der GIP ist eine 12 Stunden-Schicht. Wird der Pfleger krank, wird dieser Krankentag jedoch nur  mit ca. 8 Stunden berechnet. Die Folge: der Mitarbeiter hat so angeblich jeweils 4 Stunden weniger gearbeitet als vereinbart. Und diese 4 Minusstunden hat die GIP dann einfach vom Überstundenkonto abgezogen. Wer länger krank ist, verliert so viele Überstunden und damit Hunderte Euro Lohn.

Immer wieder wenden sich deshalb Mitarbeiter der GIP hilfesuchend an Verdi. Kommt es dann zur Klage vorm Arbeitsgericht, lenkt die Firma oft ein. Doch warum versucht die Firma ihre Mitarbeiter auf diese Weise auszutricksen? Der Gewerkschaftsfunktionär hat eine Vermutung:

O-Ton Michael Musall, Verdi

"Wenn ich Kaufmann bin, dann kalkuliere ich das Risiko und sage: Ich hab da 100 Arbeitnehmer, die im letzten oder in diesem Jahr Lohnfortzahlungen in erheblichem Umfang hatten, und davon werden mich wahrscheinlich maximal 20 verklagen. Also hab ich doch ein super Geschäft gemacht."

Über die Jahre ist die GIP zu einem der Marktführer unter den Intensiv-Pflegediensten aufgestiegen – vor allem wegen ihrer preisgünstigen Angebote. Inzwischen zahlt die Firma Pflegern zwar 12 Euro 50 die Stunde, doch auch das ist viel zu wenig, wenn es um das Leben der Patienten geht.

O-Ton Michael Musall, Verdi

"Wenn man das vergleicht mit der Intensivpflege im Krankenhausbereich, dann verdient dort eine Fachpflegerin zwischen 2.800 und 3.200€ - das sind mehr als 15€ in der Stunde. Und das wäre auch angemessen, denken wir, für eine solch verantwortungsvolle Tätigkeit."

Doch die Mitarbeiter beklagen nicht nur die schlechte Bezahlung. Immer wieder müssen sie Überstunden machen, weil es zu wenig Personal gibt, erzählt uns eine andere ehemalige Angestellte.

O-Ton Andrea T.

"Was ich ganz schnell hab, das war, dass unglaublich viele Überstunden von den Mitarbeitern verlangt werden. Meiner Meinung nach liegt es daran, dass die GIP zu viele Patienten zu schnell einfach aufnimmt, ohne das Personal vorrätig zu haben."

Der Verdacht liegt nahe: Die GIP fährt einen Sparkurs, um günstig anbieten zu können.

Brigitte Schriefer ist schwer lungenkrank. Sie weiß, dass sie sich auf ihren Pflegedienst verlassen kann. Chefin Kira Nordmann spürt immer wieder die Folgen der Dumpingstrategie. Sie spart nicht am Personal und an den Löhnen. Doch damit stößt sie auf Widerstand bei den Krankenkassen.

O-Ton Kira Nordmann, Pflegedienst "Immerda"

"Wenn wir einen geringeren Stundensatz veranschlagen, also Dumpingstundensätze, dann wird das sofort durchgewunken. Und sobald wir einen höheren Stundensatz veranschlagen, der vernünftige Pflegelöhne ermöglicht, müssen wir Kostenkalkulationen vorlegen."

Obwohl sie alles offenlegt, hat sie schon mehrere Aufträge verloren, weil die Kassen nur ans Sparen denken.

O-Ton Kira Nordmann, Pflegedienst "Immerda"

"Am Ende zahlt der Patient, weil er schlecht versorgt wird. Und die Mitarbeiter weil sie schlecht entlohnt werden. Und das beeinflusst natürlich die Pflegequalität."

Das hat auch sie erlebt. Claudia S arbeitete viele Jahre als Teamleiterin bei der GIP. Immer wieder hat sie beobachtet, dass neue Kollegen schlecht eingearbeitet und wohl nicht ausreichend qualifiziert waren.

O-Ton Claudia S.

"Manche wussten gar nicht, wie man richtig absaugt. Und da wurden auch Medikamente doppelt gespritzt, sodass der Notarzt kommen musste. Ich hatte den Eindruck, das wurde alles unter den Tisch gekehrt. Hauptsache die Dienste sind abgedeckt."

Ob tatsächlich Mitarbeiter mit mangelhafter Qualifikation eingesetzt werden, haben wir die GIP Intensivpflege gefragt. Doch wir erhalten kein Interview – mit der Begründung, man wolle betriebliche Interna nicht kommentieren. Unser detaillierter Fragenkatalog bleibt unbeantwortet.

Der Verdacht liegt nahe: Die GIP spart am Personal und kann deshalb mit "günstigen Preisen" den Markt aufrollen. Was sagen die Krankenkassen dazu?

Von der DAK heißt es: es liege im Ermessen der Pflegedienste

"… welcher Teil der Vergütung als Entgelt der Pflegekraft zukommt."

Die Deutsche BKK antwortet:

"Wir haben zu Lohndumping … keine Informationen."

Und die Barmer verweist auf vertraglich festgelegte Qualitätsstandards -  schränkt aber ein: "Wie die Arbeitsgeber mit ihrem Personal … tatsächlich umgehen, können und dürfen wir nicht prüfen."

Können und dürfen die Kassen wirklich nichts prüfen?

Doch, das zeigt dieses Beispiel aus München. Hier haben sich unabhängige Pflegedienste zu einem Kompetenz-Netzwerk zusammengeschlossen. Die Mitglieder befürchten, dass sich das Preisdumping auf die Qualität der Pflege auswirkt.

O-Ton Elke Dodenhoff, Pflegedienst AKB

"Meine Sorge ist wirklich, dass wir halt immer weniger qualifizierte Mitarbeiter bekommen, weil wir die einfach nicht mehr bezahlen können, mit diesem Geld, was uns zur Verfügung steht."

Die Pflegedienste haben sich auf gemeinsame Standards bei Pflege und Qualifikation des Personals geeinigt und wollen sie bei den Vertragsverhandlungen mit den Kassen durchsetzen. Zum Wohle der Patienten.

Bestandteil der Verträge ist auch, dass Peter Demmel vom Medizinischen Dienst der Krankenkassen die Umsetzung prüfen kann. Doch dieses Modell ist in Deutschland die Ausnahme.

O-Ton Peter Demmel, MDK (Medizinischer Dienst der Krankenkassen Bayern)

"Es fehlt hier eine bundesweite Vorgabe zum Beispiel zur Qualifikation des Pflegepersonals. Es gibt Ansätze, auch die Gemeinschaft der medizinischen Dienste hat da letztes Jahr eine Empfehlung erstellt, wie die Qualifikation und die Weiterbildung des Personals auszusehen hat. Aber das ist eben jetzt ein Papier, das einen Empfehlungscharakter hat."

Und nicht mehr. Obwohl die Krankenkassen die Probleme genau kennen.

Da räumt die Techniker Krankenkasse ein:

"Es ist ein bekanntes Problem, dass verbindliche bundesweite Regeln und Preise fehlen."

Und die Deutsche BKK erkennt:

"… einen regionalen rechtlichen Flickenteppich … was auch eine Kontrolle durch den MDK (den Medizinischen Dienst der Kassen) erschwert."

Dabei könnten sich die Kassen heute schon über bundesweit einheitliche Regeln verständigen. Doch dann wird die Pflege teurer. Und so geht das Unterbieten von Standards und schlechter Entlohnung in der Branche weiter: zu Lasten hochqualifizierter Pfleger und auf Kosten der Gesundheit der Patienten.

Beitrag: Kontraste-Recherche