- Ausgegrenzt und abgeschoben – Klamme Kommunen sparen bei den Schwächsten

Auch für Kinder, die blind, taub oder geistig behindert sind, gilt in Deutschland die gesetzliche Schulpflicht. Um erfolgreich am Unterricht teilnehmen zu können, brauchen sie besondere Unterstützung durch so genannte Einzelfallhelfer. Doch deutschlandweit müssen Eltern Jahr für Jahr mit den kommunalen Trägern der Sozialhilfe kämpfen, die aus Kostengründen an den Einzelfallhelfern sparen.

Niemand darf wegen seiner Behinderung benachteiligt werden! Das garantiert Artikel 3 unseres Grundgesetzes. Doch in der Praxis ist davon mitunter nicht viel zu spüren. Gerade Eltern schwerbehinderter Kinder müssen oft zermürbende Kämpfe führen, etwa wenn es um ausreichende Betreuung ihrer Kinder in der Schule geht. Dabei können schwerbehinderte Kinder bei individueller Förderung unglaubliche Fortschritte machen! Andrea Everwien.

Enya ist zehn Jahre alt.
Sie wurde als gesundes Kind geboren. Eine Hirnhautentzündung machte sie zum Pflegefall.

Einzelfallhelferin
„Enya, hallo Enya! - Komm, wir fädeln noch ein bisschen.“

Trotz der Behinderung ist Enya schulpflichtig – wie alle Kinder. Ohne Unterstützung durch Moni Jakobitz könnte sie sich aber nicht konzentrieren, würde in der Förderschule nicht viel lernen. Deshalb begleitet die sogenannte „Einzelfallhelferin“ Enya seit vier Jahren in die Schule.

Die Unterschiede in der Förderschulklasse sind groß: einige müssen erst lernen, Farben und Formen zu unterscheiden, andere können lesen und schreiben. Ohne Einzelfallhelfer könnte sie den Unterricht nicht gestalten, sagt Enyas Lehrerin.

Kathrin Derno
Lehrerin Wichern-Schule, Forst

„Wenn ich keine Einzelfallhelferin habe, dann kann ich diese individuellen Sachen nicht mehr machen mit den Kindern, einer fällt mir immer hinten runter.“

Das darf aber nicht sein. Deshalb sieht das Sozialrecht für behinderte Kinder eine sogenannte „Eingliederungshilfe“ vor: zur „Teilnahme am Leben in der Gemeinschaft“ – insbesondere „im Rahmen der allgemeinen Schulpflicht“.

Die Kosten dafür tragen laut Gesetz die Sozialämter der Kommunen.

Die aber sind klamm und weigern sich immer öfter zu zahlen - bundesweit.

Werner Hesse
Paritätischer Wohlfahrtsverband

„Der Konflikt zwischen Sozialhilfe und Schule findet in allen Bundesländern statt, vielleicht graduell etwas unterschiedlich, aber wir kennen das aus allen Bundesländern.“

in Brandenburg müssten schwerbehinderte Kinder wie Enya eigentlich 33,5 Stunden Einzelfallhilfe pro Woche bekommen – genau so lange, wie der Stundenplan Unterricht vorsieht.

Die bekommen sie aber nicht immer: Enya nicht und auch nicht die noch schwerer behinderte Luisa. Luisa hat keine Augen, ist geistig behindert, kann weder sprechen noch alleine gehen - Folgen einer seltenen genetischen Erkrankung.

Sylvia Schwietzke
Luisas Mutter

„Das kommt auch einmal auf 1 Million Fälle vor.“
„Was ist das denn?“
„Das ist: beim Chromosom 14 fehlen 40 Gene. Die überwiegend bei ihr, in ihrem Fall jetzt für Intelligenz und Augenanlage verantwortlich sind. Das ist halt ihre Art, sich zu beschäftigen. So wie andere Kinder Bücher angucken, das ist ja bei ihr nicht möglich, also hat sie halt Spielsachen.“


Auch Luisa ist schulpflichtig,– laut ärztlichem Attest braucht sie „dauerhaft Hilfe und Pflege“ „bei allen Verrichtungen des täglichen Lebens“. Das müsse „auch im Schulalltag gewährleistet sein“, heißt es ausdrücklich.

Sylvia Schwietzke, Luisas Mutter
„Luisa lernt jetzt zum Beispiel Treppensteigen, auch wenn man es ihr nicht ansieht. Aber das ist so. Und dann braucht sie einen, der sie hinten an der Hand am Geländer festhält und der andere läuft vorher und führt sie. Also, es werden definitiv zwei Leute gebraucht.“

Doch beiden Kindern - Enya ebenso wie Luisa - strich das Sozialamt in diesem Schuljahr 7 Stunden Einzelfallhilfe pro Woche. Und auch bei ungefähr 30 weiteren Kindern wurde der Rotstift angesetzt Der Grund: Der Kreis will sparen. Die Folgen für Luisa: katastrophal. Ihr fehlte der vertraute Kontakt zu ihrer Helferin. Die Mutter notierte, wie es Luisa in der Schule ging.

Zum Beispiel:
„…Luisa hat geweint und hat sich den ganzen Tag nicht beruhigen lassen…“

Am 23.01. heißt es:
„… Luisa saß allein auf dem Sofa in der anderen Ecke vom Klassenraum und kratzte sich das Gesicht wund …“
.

Sylvia Schwietzke
Luisas Mutter

„Sie beißt sich dann, ich weiß nicht, ob man es jetzt noch sieht hier – hier: sie beißt sich dann derart auf die Finger, dass das dann richtig blutig wird dann oder auch schon Hornhaut drauf kommt.“

Für den Sozialexperten ist das ein unhaltbarer Zustand.

Werner Hesse
Paritätischer Wohlfahrtsverband

„Es ist überhaupt nicht hinzunehmen, dass Ämter ihren Auftrag nicht wahrnehmen, das heißt, das Sozialämter einfach sagen pauschal: das müssen wir nicht mehr bezahlen, das machen wir nicht – das geht nicht, das entspricht nicht ihrem Auftrag.“

Harald Altekrüger ist Landrat des Kreises Spree-Neiße .Sein Sozialamt hat die Kürzungen verantwortet. Für ein Interview hatte der Landrat keine Zeit. Schriftlich behauptet er zur Begründung der Kürzungen, Zitat:
„…, dass die pädagogische Förderung schulpflichtiger Kinder in erster Linie Aufgabe der Schule und nicht des Sozialhilfeträgers“ sei.

Will heißen: soll doch das Land mehr Lehrer bezahlen, wenn Kinder mehr Betreuung brauchen. Die Kommune will dafür nicht gerade stehen.

Werner Hesse
Paritätischer Wohlfahrtsverband

„Und das ist im Grunde ein politischer Streit um die Zuständigkeit zwischen Sozialhilfeträgern einerseits und Schulträgern andererseits und dieser Streit muss sicherlich politisch auch geführt werden, er darf nur nicht auf dem Rücken der Betroffenen geführt werden.“

Denn Sozialämter sollen nicht Politik machen, sondern sind dem einzelnen benachteiligten Menschen verpflichtet.

Zum Beispiel dem 13jährigen Tom. Er ist Epileptiker, geistig behindert, er kann nicht sprechen, nicht einmal spontan schlucken. Seine Mutter füttert ihn täglich mit großer Geduld.

Ines Degen
Toms Mutter

„Und im Mund behalten, Tommi, nicht wieder ausspucken.“

Mit bestimmten Handgriffen lässt Tom sich animieren zu schlucken. Das hat er in der Schule beim Logopäden gelernt und mit seiner Einzelfallhelferin immer wieder geübt. Als deren Stunden gekürzt werden, nimmt Tom zuhause wieder weniger Essen über den Mund auf und muss vermehrt über eine Magensonde ernährt werden.

Nachdem KONTRASTE zu recherchieren begann, hat der Kreis übrigens ganz spontan für die Kinder wieder ein paar Stunden Einzelfallhilfe mehr pro Woche angeboten - aber nur bis zu den Sommerferien.

Die Eltern haben dies Angebot akzeptiert, sie sind erschöpft. Fürs nächste Schuljahr aber hat das Sozialamt schon wieder Verhandlungen angekündigt, offenbar erneut mit dem Ziel, Kosten zu sparen auf dem Rücken dieser Kinder und ihrer Familien.

Ja, auf dem Rücken der Kinder und ihrer Familien. Ein Streit, der politisch längst noch nicht ausgefochten ist: Das Bundesministerium für Arbeit und Soziales hat uns auf Nachfrage erklärt, man sei dabei, das Thema ‚Eingliederungshilfe‘ zu reformieren. Doch ein Gesetzentwurf dazu soll wohl erst 2015 vorliegen, frühestens ...

 


Beitrag von Andrea Everwien