Flüchtlinge zurück ins Meer? -
Griechenland soll seine Seegrenze sichern, den Flüchtlingen den Zugang zu Europa verwehren. Mehr Marine und Polizei - Griechenland soll "gefälligst" seine Hausaufgaben machen. Deutsche und europäische Politiker drohen, Griechenland aus dem Schengen-Raum zu werfen. Jetzt soll auch noch die NATO aktiv werden. Jeden Tag neue Vorschläge und Vorwürfe. Kontraste war auf Lesbos und hat festgestellt: sichere Grenzen sind lebensgefährlich.
Anmoderation: Jetzt sollen es Kriegsschiffe der NATO im Mittelmeer richten. Die neueste Irrsinnsidee, die unsere Verteidigungsministerin heute verkündet hat. Damit sollen Kriegsflüchtlinge aus Europa ferngehalten werden. Offiziell heisst es natürlich, es soll Schlepperbanden an den Kragen gehen. Wir stellen uns vor, wie ausgemergelte Männer, Frauen und Kinder, die dem Ertrinken nahe sind, im Angesicht mächtiger Seekreuzer die Segel streichen. Sichern der Grenze nennt man das beschönigend. Markus Pohl, Lisa Wandt und Axel Svehla haben sich auf der griechischen Insel Lesbos angesehen, was Grenzsicherung in Wirklichkeit bedeutet.
Ein Acker auf der griechischen Insel Lesbos. Hier endet für viele die Flucht vor Krieg und Terror: Unbekanntes Baby, ein Jahr alt, Nummer 136, ertrunken am 19.11.2015.
Auf der Insel wissen sie nicht mehr, wohin mit den vielen Toten aus der Ägäis.
O-Ton Spyros Galinos, Bürgermeister Lesbos
"Wir ertragen es nicht länger. Ein paar Meter vor unserem Ufer verlieren die Menschen ihr Leben."
Die Flüchtlinge kommen selbst im Winter auf die griechischen Inseln, meist auf Schlauchbooten, unter Lebensgefahr.
Mehr als 70.000 schafften es so seit Anfang des Jahres in die EU. Bürgermeister Galinos will die Flüchtlinge jetzt mit einer Fähre holen.
O-Ton Spyros Galinos, Bürgermeister Lesbos
"Es könnten Schiffe eingesetzt werden, damit wir die Flüchtlinge sicher auf meine Insel bringen und hier die Kontrolle und Registrierung stattfinden kann. Wir werden eine große Last tragen, aber wir sind bereit, das auf uns zu nehmen. Wir werden dann tatsächlich viele Menschen vor dem sicheren Tod retten."
Sicheres Geleit über das Meer für Flüchtlinge – undenkbar für viele europäische Politiker. Sie wollen nicht Menschen, sondern Grenzen schützen.
O-Ton Thomas de Maizière, Bundesinnenminister, CDU
"Wir brauchen einen dauerhaften, spürbaren, nachhaltigen Rückgang der Flüchtlingszahlen."
O-Ton Thomas Oppermann, SPD-Fraktionsvorsitzender
"Also müssen wir jetzt gucken, dass wir über die Sicherung der Außengrenzen zu weniger Flüchtlingen kommen."
O-Ton Sebastian Kurz, Außenminister Österreich
"Die beste Variante ist sicherlich ordentliche Grenzsicherheit an der griechisch-türkischen Grenze."
Seit heute ist klar: Nato-Schiffe sollen künftig die griechische Seegrenze sichern. Auch Herbert Reul, Vorsitzender der CDU/CSU-Gruppe im Europaparlament, setzt auf Militär in der Ägäis. Er fordert Griechenland auf, seine Küstenwache zu verstärken.
O-Ton Herbert Reul, Vorsitzender CDU/CSU im Europäischen Parlament
"Wenn die Griechen ihre Menge an Kriegsschiffen die sie haben, also militärische Schiffe für die Zwecke der Seekontrolle mit einsetzen würden, sind das schon mal ein paar Hundert mehr, das machen die nicht!"
Frage: "Was sollen denn da Kriegsschiffe vor der griechischen Küste?"
Antwort: "Na die können Grenzen dicht machen, also absichern…"
Frage: "Was heißt das konkret?"
Antwort: "Da kommst du nicht weiter! Also Kriegsschiffe, die da sind, lassen keinen mehr durch oder…"
Frage: "Sollen die dann da auf die Schlauchboote schießen oder wie?"
Antwort: "Nein nein um Gottes Willen, nein nein. Grenzen sichern heißt, hier ist kein Durchkommen, da musst du umdrehen."
Ein undurchdringlicher Riegel von Kriegsschiffen? Wie absurd dieser Vorschlag ist, zeigt schon ein Blick auf die Karte: Griechenland hat gut 3.000 Inseln, die Seegrenze zur Türkei ist mehr als 1.000 Kilometer lang.
An der Küste von Lesbos treffen wir den griechischen Migrationsminister. Das türkische Festland, woher die Flüchtlinge kommen, liegt gleich gegenüber in Sichtweite.
O-Ton Giannis Mouzalas, griechischer Migrationsminister
"Sie sollten mit ihrer Kamera das Meer filmen, zeigen sie die Türkei! Die Entfernung von der Türkei beträgt hier ungefähr 3 Kilometer, die Seegrenze ist nur 1500 Meter entfernt. Solange der Zustrom von der türkischen Küste anhält, können Sie ihn nicht kontrollieren. Die einzige Art und Weise, die Seegrenze zu kontrollieren, ist die Menschen auf dem Meer zu retten."
"Don´t be afraid, you are safe now!"
Leben retten, genau das macht die griechische Küstenwache derzeit in der Ägäis. Genau wie die europäische Grenzschutzagentur Frontex. Sie bergen die Bootsflüchtlinge und bringen sie auf griechisches Territorium. Alles andere wäre ein Verstoß gegen internationales Recht, das betont auch der Politikwissenschaftler und Europa-Experte Eckart Stratenschulte.
O-Ton Prof. Eckart D. Stratenschulte, Europäische Akademie Berlin
"Man kann die Grenzen schützen, wenn man den Tod der Flüchtlinge in Kauf nimmt oder herbeiführt. Die Menschen kommen in einem Boot - oftmals in Booten die nicht seetüchtig sind - die Menschen ertrinken oder drohen zu ertrinken und wenn man dann da zuschaut und das lange genug macht, dann spricht es sich rum, dann hat man die Grenze geschützt. Aber um den Preis der Menschenleben und um den Preis des Verfalls aller moralischen Werte, auf denen dieser Kontinent aufgebaut ist."
Menschen ertrinken lassen, um die Grenzen zu schützen – nimmt man das wirklich in Kauf? Nein, so sei das natürlich nicht gemeint, sagt der bayerische Innenminister.
O-Ton Joachim Herrmann, CSU, Innenminister Bayern
"Es heißt der Schutz der Seegrenze ja nicht, dass man die Leute daran hindert überhaupt an Land anzulanden. Es heißt nicht, dass man sie im Wasser schwimmen lässt, sondern es heißt, dass man sie kontrolliert. Und natürlich, wenn man feststellt, sie sind nicht berechtigt einzureisen, dann muss man sie mit dem nächsten Boot in die Türkei zurückschicken."
Mit dem nächsten Boot zurück in die Türkei – dumm nur, dass die Türken bis dato keine Flüchtlinge zurücknehmen - trotz intensiver Bemühungen der Bundeskanzlerin. Die Türkei hat selbst schon mehr als zwei Millionen Menschen aufgenommen.
Zurückschicken ist also derzeit nicht möglich. Hinzu kommt: Der Großteil der Flüchtlinge auf den griechischen Inseln hat vermutlich Anspruch auf Schutz in der EU, denn er flieht vor Krieg und Terror.
O-Ton Philippe Leclerc, Flüchtlingshilfswerk der Vereinten Nationen (UNHCR)
"Natürlich ist es ein europäisches Problem. Ich möchte darauf hinweisen, dass immer noch die meisten Personen, die in Griechenland ankommen, echte Flüchtlinge sind. Sie stammen aus Syrien, aus dem Irak und Afghanistan. 92 Prozent der Ankommenden sind aus diesen Ländern."
Dennoch will keiner die Menschen haben. Aus den Aufnahmelagern wie hier auf Lesbos, den sogenannten Hotspots, sollen die Flüchtlinge eigentlich auf die EU-Staaten verteilt werden. Relocation heißt das Programm. Die Umsetzung ist eine Bankrotterklärung.
Schon seit Monaten verspricht die EU, 160.000 Flüchtlinge aus Griechenland und Italien umzusiedeln – nur bei 497 ist das bis heute tatsächlich passiert.
O-Ton Giannis Mouzalas, griechischer Migrationsminister
"Das eine Land fordert zunächst mehr Sicherheitskontrollen, ein anderes Land will ausschließlich Familien, das nächste Land will Afrikaner, aber nur wenn sie blond, blauäugig und weiß sind. Solche Afrikaner finden sie hier aber nicht. Das ist nicht der Fehler Griechenlands, es ist der Fehler der anderen Länder, unter dem Griechenland leidet."
Solange die Umsiedlung nicht funktioniert, ist es kein Wunder, dass auch Griechenland seine Zusagen nicht erfüllt: Viele der vereinbarten Hotspots sind immer noch nicht fertig, die Registrierung der Flüchtlinge läuft nur lückenhaft.
O-Ton Prof. Eckart D. Stratenschulte, Europäische Akademie Berlin
"Natürlich hat Griechenland kein Interesse daran, alle Flüchtlinge zu registrieren und dann bei sich im Land zu behalten, während die anderen 27 sagen, wir nehmen keine Flüchtlinge auf. Solange das so ist, gibt es natürlich geradezu den Zwang für die Griechen zu sagen, lasst möglichst viele Leute ihren eigenen Weg nach Norden finden. Denn sonst ist das Land, selbst wenn es besser verwaltungsmäßig und materiell zurecht wäre, überfordert."
Für Bayerns Innenminister zählt all das nicht. Wenn die Griechen die Flüchtlinge nicht zurückhalten, drohen eben Strafmaßnahmen.
O-Ton Joachim Herrmann, CSU, Innenminister Bayern
"Ich fordere von der griechischen Regierung ganz konkret, entweder die Bedingungen des Schengenabkommens zu erfüllen, oder dann zu erklären, dass sie sich nicht mehr in der Lage sehen, im Schengenraum dabei zu sein."
Was aber soll das bringen? Im grenzfreien Schengen-Raum ist Griechenland ohnehin eine Insel. Kein Flüchtling kann von hier einfach nach Kerneuropa weiterreisen.
Hinter der Drohung mit dem Schengen-Rauswurf steht vor allem der Wunsch, sich von Griechenland abzuschotten. An der griechischen Nordgrenze zu Mazedonien stauen sich schon jetzt Tausende Flüchtlinge.
Mithilfe mehrerer EU-Staaten errichtet Mazedonien derzeit einen 37 Kilometer langen Grenzzaun. Europapolitiker Herbert Reul findet das genau richtig, um den Druck auf die Griechen zu erhöhen.
O-Ton Herbert Reul, Vorsitzender CDU/CSU im Europäischen Parlament
"Nun kann man nicht jemanden aus dem Schengen-Raum einfach rausschmeißen, aber man kann natürlich die Grenzen außerhalb so sicher machen, so dicht machen, dass sie quasi außerhalb des Schengen-Raumes sind und ein dickes Problem bekommen werden, weil dann staut sich alles zurück."
Die Last der Flüchtlinge hätte dann vor allem Griechenland zu tragen. Ein Land, das schon jetzt vor dem wirtschaftlichen Kollaps steht. Diese Politik nimmt eine humanitäre Katastrophe in Kauf, um weitere Flüchtlinge abzuschrecken.
O-Ton Herbert Reul, Vorsitzender der CDU/CSU-Gruppe im Europäischen Parlament
"Die Idee der Grenzsicherung Europas, der Außengrenzsicherung ist ja, dass man dafür sorgen will, dass die Flüchtlinge erst gar nicht mehr nach Europa kommen, sondern vor Europas Grenzen bleiben, am besten noch in der Nähe der Heimat, am besten sogar zuhause."
Sollen die Flüchtlinge doch zuhause bleiben - zum Beispiel hier in Syrien, im zerstörten Homs.
Abmoderation: Nach Aussage von Bundesverteidigungsministerin von der Leyen soll sich die Türkei jetzt bereit erklärt haben, Flüchtlinge, die aus Seenot gerettet werden, wieder aufzunehmen. Allerdings: Flüchtlinge sind in der Türkei weitgehend rechtlos, bekommen kaum Unterstützung und müssen mit Abschiebungen in Krisenregionen rechnen. Die Probleme sind damit also nicht aus Welt - aber weit weg von Europa!
Beitrag von Markus Pohl, Axel Svehla und Lisa Wandt