Gestrandet in Griechenland -
Der Papst hat versucht, das Unglück zu lindern: 12 syrische Flüchtlinge hat er jetzt bei seinem Besuch auf Lesbos nach Rom mitgenommen. Doch was wird aus den übrigen rund 60.000 Flüchtlingen, die in Griechenland auf europäische Unterstützung warten? Eigentlich sollten sie schon längst innerhalb der EU umverteilt worden sein. Doch dieses Versprechen wurde bis heute nicht umgesetzt. Das wirtschaftlich schwache Griechenland ist mit der Versorgung völlig überfordert. Die Camps sind voll - Kranke, Kinder und Behinderte leben in Zelten unter katastrophalen Bedingungen.
Anmoderation: Die Situation sei ausser Kontrolle, die öffentliche Gesundheit in Gefahr. - In einem drastischen Brief haben gestern mehrere Bürgermeister in Griechenland auf die desolate Lage in einem Flüchtlingcamp bei Athen hingewiesen. An die 60-Tausend Flüchtlinge stecken in Griechenland fest. Während sich gerade heute wieder die öffentliche Aufmerksamkeit auf das Abkommen zwischen der EU und der Türkei richtet, geraten die schon vor Monaten in Griechenland Gestrandeten immer mehr in Vergessenheit. Caroline Walter und Christoph Rosenthal haben sie besucht.
Wir sind in Athen – Schlangen vor der Suppenküche der Caritas. Diese Flüchtlinge versuchen vergeblich, noch eine Mahlzeit zu bekommen. Doch für heute ist alles ausgeschöpft. Oben wurden 1.000 Essen verteilt. Viele kommen aus überfüllten Flüchtlingscamps. Sie haben kein Geld und machen sich Sorgen, was auf sie zukommt.
O-Ton Afghane
"Wir wissen nicht, was wir machen sollen. Unsere Papiere sind jetzt nach einem Monat abgelaufen und die Polizei könnte uns jederzeit verhaften."
Hier trifft die Flüchtlingskrise auf die Wirtschaftskrise. Auch diese Griechin ist auf die kostenlose Mahlzeit angewiesen. Evangelia wohnt in einer Obdachlosenunterkunft.
O-Ton Griechin
"Meine Hoffnung ist, dass ich irgendwann eine Rente bekomme. Ich bin sehr traurig, weil ich entlassen wurde – nach 27 Jahren Dienst ohne einen wirklichen Grund."
Griechenland ist mit den vielen Flüchtlingen völlig überfordert. Wir besuchen ein Camp - eine Stunde nördlich von Athen. Hier leben dicht gedrängt 900 Flüchtlinge. Sie müssen sich drei funktionierende Duschen teilen. Die Kinder leiden unter den schlimmen hygienischen Bedingungen, Infektionen verbreiten sich. Im Lager gibt es auch viele Schlangen. Dieser Afghane zeigt uns, dass die Zelte vor Nässe keinen Schutz bieten. Alles ist feucht. Die Kinder sind ständig krank. Keiner weiß, wie es weitergeht.
O-Ton Afghane
"Wir sind jetzt hier stecken geblieben und niemand kümmert sich um unser Schicksal."
In der Zeltstadt lernen wir Alan kennen. Der Syrer leidet unter einer angeborenen Muskelschwäche. Als Rollstuhlfahrer ist für ihn das Leben im Camp besonders hart, erzählt er uns. Seit 23 Tagen hat er sich nicht richtig waschen können.
In diesem Lagerraum lebt Alan zu fünft mit seiner Familie. Auch seine Schwester ist behindert. Sie sind von Syrien in die Türkei geflohen – dort wurden sie inhaftiert und mit 5.000 Flüchtlingen in eine Turnhalle eingesperrt.
O-Ton Alan
"Als wir in der Türkei ankamen, haben sie uns wie Tiere behandelt, vielleicht weil wir Kurden sind oder Syrer. Sie haben uns wie Hühner eingepfercht."
Sie sind am Ende ihrer Kräfte. In Griechenland angekommen, hieß es dann, sie könnten über ein EU-Programm zum Beispiel nach Deutschland gelangen. Aber bis heute haben sie davon nichts mehr gehört.
O-Ton Alan
"Wenn wir in Griechenland bleiben müssen, dann bedeutet das am Ende: Kein Geld, keine Arbeit und zwei behinderte Menschen, die auf der Straße leben."
Diese Flüchtlinge sind auf dem Abstellgleis. Dabei sollten sie längst auf andere EU-Länder verteilt werden, um Griechenland zu entlasten. Das hatten die Innenminister der EU im September letzten Jahres beschlossen. Doch das groß angekündigte "Umverteilungsprogramm" für rund 60.000 Flüchtlinge ist nie richtig angelaufen. Bislang wurden gerade mal 769 Flüchtlinge auf andere europäische Länder verteilt.
Doch warum erst so wenige? Das deutsche Innenministerium antwortet uns: Derzeit liege der Fokus eben auf der Umsetzung des Türkei-Deals. Für Griechenland gebe es keine aktuellen Planungen.
Wir sind mit dem griechischen Innenminister verabredet. Er sei selbst ein Kriegsopfer, sagt er. Mit zehn hat er sein Augenlicht durch eine Granate verloren. Der Innenminister ist erbost darüber, dass seine europäischen Amtskollegen sich nicht an ihre Versprechen halten und keine Flüchtlinge aufnehmen.
O-Ton Panagiotis Kouroumblis, Innenminister Griechenland
"Leider haben sich die anderen EU-Länder durch verschiedenste Ausreden mit diesem Zustand arrangiert und die ganze Last auf Griechenland abgeladen. Wir bestehen darauf, dass die EU-Beschlüsse auch umgesetzt werden. Wenn das nicht passiert, ist es eine absichtliche Täuschung nicht nur des griechischen Volkes, das unmittelbar betroffen ist, sondern es schadet auch der Glaubwürdigkeit der Europäischen Union."
Zig Tausende Flüchtlinge müssen jetzt erst einmal in Griechenland bleiben und hier ihre Anträge stellen. Doch die griechische Asylbehörde kann die Masse nicht bewältigen. Und das von der EU zugesagte Personal ist bis heute nicht eingetroffen – es fehlen immer noch Hunderte Dolmetscher und Beamte.
Diese Flüchtlinge bitten heute wieder vergeblich um einen Termin beim Amt. Sie werden alle weggeschickt – sie sollen ihren Termin über das Internet, über einen Skypeanruf, vereinbaren.
Dieser 12jährige Afghane weiß nicht, wie er das anstellen soll. Sie hätten kein Internet im Camp und kein Handy – deshalb sei er hier.
O-Ton 12jähriger Afghane
"Sie haben nur gesagt, ich soll es versuchen, versuchen, aber das ist schwierig für mich. Es geht nicht."
In einer Unterkunft in Athen lebt der Syrer Ahmed mit seiner Familie. Er versucht schon seit einem Monat über das Internet die Asylbehörde zu erreichen, um einen Termin zu machen. Jeden Tag startet er einen Versuch mit aller Technik, die er sich besorgt hat.
O-Ton Ahmed
"Ich versuch’s immer wieder. Keiner geht ran. Wir rufen diese Nummern an, die sie uns gegeben haben, aber es meldet sich einfach keiner."
Die Zeit drängt, denn sein Sohn ist krank und braucht dringend eine Operation – sonst kann er bald nicht mehr laufen. Syrer wie sie hätten eigentlich eine Chance, sich für die Umverteilung der EU zu registrieren – aber dazu müsste er die Asylbehörde erst einmal erreichen.
In der Caritas-Unterkunft für besondere Härtefälle wohnt auch Familie Reza aus Afghanistan. Das Baby ist einen Monat alt. Auch ihnen ist es bisher nicht gelungen, bei der Behörde Asyl zu beantragen. Die Familie gehört zu einer verfolgten Minderheit in Afghanistan – den Hazara. Sein Sohn konnte dort nicht einmal zur Schule gehen – aus Angst vor den Taliban.
O-Ton Reza
"Die Taliban sehen die Hazara als Hauptfeinde. Sie versuchen unser Volk schon immer zu unterdrücken. Es werden Hazara entführt, manche sogar geköpft. Es ist schlimm."
Auf diesem Video sieht man, wie Taliban einen Hazara – den sie einfach von der Straße gezerrt haben – brutal foltern.
Ali wollte seine Familie nach Europa in Sicherheit bringen – aber er verzweifelt, weil es hier offensichtlich keine Perspektive gibt. Er hat sein Handy verkauft, damit die Kinder etwas zu essen haben.
O-Ton Chrissa Baroga, Caritas Flüchtlingshilfe Athen
"Griechenland wird mit dieser Flüchtlingskrise allein gelassen. Es geht nicht nur darum, dass man Geld zur Verfügung stellt, sondern dass man den Flüchtlingen auch Hoffnung geben kann – weil sie nicht ewig in den Camps bleiben können. Das löst das Problem nicht."
Was die Familie Reza betrifft, wird die Caritas in zwei Tagen eine sehr harte Entscheidung treffen müssen.
Im Hafen von Piräus harren noch Hunderte Flüchtlinge aus – vor allem Afghanen. Die meisten gehören ebenfalls zur verfolgten Minderheit der Hazara. Sie sind wütend, weil sie erfahren haben, dass die Afghanen von der Umverteilung in der EU völlig ausgeschlossen sind. Die Syrer haben wenigstens theoretisch eine Chance.
O-Ton Sara
"Warum machen sie einen Unterschied zwischen Afghanen und Syren? Wir haben Krieg in unserem Land, sie haben Krieg in ihrem Land. Wir kommen denselben Weg, wir sind in derselben Situation."
Die katastrophale Sicherheitslage in Afghanistan wird von der europäischen Politik einfach ausgeblendet – und die Afghanen werden schlechter gestellt als Syrer oder Iraker. Das schürt Feindseligkeit unter den Flüchtlingen.
Wer wie die Afghanen in Griechenland bleiben muss, hat kaum Chancen. Die Griechen leiden selbst unter extrem hoher Arbeitslosigkeit, gekürzten Renten und einem maroden Gesundheitssystem.
Wir sind in einer Sozialklinik für Bedürftige. Viele Griechen können sich keine Medikamente mehr leisten. Hier erhalten sie einige Mittel kostenlos. Wie dieser Handwerker – er ist seit Jahren arbeitslos.
O-Ton Patient
"Ich sage Ihnen ganz ehrlich, dass ich Selbstmordgedanken habe. Ich wache jeden Morgen auf und habe nichts und keine Hoffnung. Auch jetzt habe ich keinen einzigen Euro in der Tasche."
Dieser Mann erzählt uns, dass er Lungenkrebs hat. Seine Frau ist arbeitslos.
O-Ton Patient
"Ich kann meine Medikamente zwar in der Apotheke holen, aber das ist für mich zu teuer. Bei einem Medikament von 50 Euro müsste ich 12,50 Euro dazu bezahlen. Das kann ich mir nicht leisten."
Die Griechen haben Angst, dass es durch die vielen Flüchtlinge noch schlimmer wird. Trotzdem fällt hier kein schlechtes Wort über sie. Wie dramatisch die Lage ist, erleben wir mit der Familie Reza. Sie musste die Caritas-Unterkunft wieder verlassen – weil das Zimmer für noch schlimmere Härtefälle gebraucht wurde. Dabei ist ihr Neugeborenes gerade krank. Sie sitzen jetzt auf der Straße – ohne Essen, ohne Geld.
O-Ton Ali Reza
"Was sollen wir machen? Am Montag soll ich das Kind ins Krankenhaus bringen – aber wenn wir weiter auf der Straße bleiben, geht es ihm noch schlechter."
Wo sie jetzt Hilfe bekommen können, wissen sie nicht. Obdachlose Flüchtlinge – weil sich der Rest der EU aus seiner Verantwortung gegenüber Griechenland stiehlt.
Abmoderation: Deutschland hatte übrigens schon im vergangenen September Hilfe zugesagt. Es wird Zeit, das Versprechen endlich einzulösen.
Beitrag von Caroline Walter und Christoph Rosenthal