Scheinheilige Flüchtlingspolitik -
Syrische Familienväter haben sich in der Regel allein auf den gefährlichen Weg nach Deutschland gemacht und ihre Frauen und Kinder zurückgelassen. Denn ihre Angehörigen haben einen Rechtsanspruch auf einen ungefährlichen Familiennachzug. Doch dafür brauchen sie ein Visum, auf dass sie oft monatelang, manchmal über ein Jahr warten müssen.
Anmoderation: Weltweit sorgten vor wenigen Tagen diese Bilder hier für Aufsehen:
*Syrische Flüchtlinge, Frauen, Kinder, Männer, suchen in der Türkei Schutz. Sie fliehen vor dem IS-Terror – doch das türkische Militär drängt sie über Stunden mit Gewalt, mit Wasserwerfern und Schüssen zurück.*
Hilflose Flüchtlinge im Stich lassen? Undenkbar für die Politik in Deutschland. Gerade der Bundesaußenminister fordert immer wieder mehr Hilfe und mahnt zur Verantwortung:
Anmoderation: Unseren Teil der Lasten mittragen.-Richtig! Doch wie wird dieser Anspruch in der Realität umgesetzt? .- Als Außenminister ist Frank-Walter Steinmeier verantwortlich für Botschaften und Konsulate in aller Welt. Für viele Flüchtlinge sind sie die wichtigste Anlaufstelle auf der Suche nach Hilfe. Doch Caroline Walter, Muriel Reichl und Christoph Rosenthal mussten feststellen: auch Deutschland lässt offenbar viele Flüchtlinge im Stich.
Auf dieses Schreiben haben sie alle Hoffnung gesetzt: Beide Männer sind in Deutschland als syrische Flüchtlinge anerkannt. Das Dokument der Behörden erlaubt ihnen, ihre Frauen und Kinder nachzuholen. Denn die Väter sind allein geflohen, um die Familie nicht in Gefahr zu bringen.
O-TON Loay Omar
Ich bin durch die Türkei geflohen, ich war 6 Tage in einen LKW eingesperrt. Ich habe kaum was zu Trinken und Essen gehabt. Ich war einen Monat unterwegs, das hätten unseren kleinen Kinder nicht geschafft.
Die Ehemänner konnten viele syrische Urkunden mit Stempeln vorlegen, die für den Familiennachzug gefordert werden. Trotzdem passiert seit sechs Monaten nichts. Ihre Frauen und Kinder sitzen im Nordirak fest. Sie warten seit Monaten vergebens auf ein Ausreisevisum.
O-TON
Jeden Tag hören wir in den Nachrichten, was den Flüchtlingen alles passiert. Deshalb denken wir ständig an unsere Kinder, wir können nachts nicht schlafen, solange sie nicht bei uns sind.
Über 4000 Kilometer entfernt Erbil, im Nordirak. Wir machen uns auf die Suche nach den Ehefrauen, die auf der Flucht vor dem Krieg hier gestrandet sind. Sie müssen zu zehnt mit den Kindern in einem kleinen Zimmer leben. Die 28jährige Ehefrau Schrihan ist krank, sie hat schlimme Schmerzen und ein Arzt sagt, sie müsste operiert werden. Aber das ist hier nicht möglich. Und auch die Kinder sind nicht gesund – der Kleine hat einen Leistenbruch.
O-TON Schrihan
Gestern habe ich mit meinem Mann in Deutschland telefoniert und gesagt, das reicht. Ich kann die Verantwortung für die vier Kinder nicht mehr alleine tragen. Ich schaff das einfach nicht mehr.
Die beiden Mütter müssen sich durchschlagen. Ihre Männer können ihnen nur wenig Geld aus Deutschland schicken, weil sie dort noch nicht arbeiten dürfen. Die Frauen wissen nicht, wie es weitergehen soll.
O-TON ältere Ehefrau
Ich habe meinen Ehering verkauft, um Medikamente zu bezahlen. Es fehlt uns an Nahrungsmitteln. Die Kinder bleiben hungrig und leiden darunter. Es gibt nichts..
Vergangenen Mittwoch: Wie jede Woche gehen die Frauen mit den Kindern kilometerweit zum deutschen Generalkonsulat in Erbil. Dorthin sollten ihre Männer die Unterlagen für die Visa schicken. Ihre einzige Hoffnung – dass sie heute im Konsulat vorsprechen dürfen. Aber man schickt sie wieder weg – wie in den Wochen zuvor.
O-TON ältere Ehefrau
Wir haben nachgefragt, ob unsere Namen auf der Liste sind oder nicht. Sie haben uns gesagt, für die Visa müsst ihr nach Ankara gehen.
Aber für die Frauen ist die Türkei, die deutsche Botschaft in Ankara unerreichbar, viel zu weit weg. Zumal die Türkei kaum noch Flüchtlinge über die Grenze lässt. Die Frauen müssten sich kriminellen Schleppern anvertrauen, um dorthin zu gelangen. Wer den Weg versucht, riskiert sein Leben – wie vor kurzem diese Syrerin, die von türkischen Grenzsoldaten erschossen wurde.
Auch der Weg zur deutschen Botschaft in Beirut ist für die Frauen abgeschnitten – er führt durch IS-Gebiet.
O-TON ältere Ehefrau
Wir sind hier verloren ….
Das Generalkonsulat in Erbil ist damit überfordert, die vielen Visa-Anträge zu bearbeiten. Nur besondere Personen wie Geschäftsreisende werden vorgelassen. Im Internet heißt es mittlerweile, Visa in Sachen Familienzusammenführung müsse man in der Türkei beantragen.
Hier in Deutschland, in der Beratungsstelle von Pro Asyl rufen täglich verzweifelte Flüchtlinge an – die nicht wissen, wie sie ihre Familien aus Erbil heraus bekommen.
O-TON Günter Burkhardt, Geschäftsführer Pro Asyl
Das ist unerträglich, also man kann ja nicht Flüchtlinge in die Türkei verweisen, aber in Erbil Visa erteilen für Geschäftsreisende, für Wissenschaftler, für wen auch immer. Aber Flüchtlinge aus Syrien oder dem Irak, die bekommen in Erbil kein Visum. Das darf nicht sein.
Schon seit letztem Jahr ist die desolate Lage in Erbil dem Auswärtigen Amt bekannt. Verändert wurde nichts. Auch in der Türkei sieht es nicht besser aus. Das schildert uns der Syrer Mohammed Bacha – der in einer Asylunterkunft in Sachsen lebt. Seine Frau sitzt mit dem Sohn in der Türkei fest. Das Geld reichte nur für seine Flucht. Nun darf er in Deutschland bleiben und seine Familie hat das Recht nachzukommen – theoretisch zumindest.
Doch die Situation an den deutschen Vertretungen in der Türkei ist katastrophal – wegen Personalmangels. Für Frau und Sohn heißt das – warten ohne Hilfe, denn in der Türkei sind viele Flüchtlinge auf sich allein gestellt.
O-TON Ismail Bacha
Ich bin verzweifelt und weiß nicht, was ich machen soll. Ich bin in dieses Land geflüchtet, weil ich mit meiner Frau in Frieden leben will. Wir haben einen Antrag auf Familienzusammenführung bei der Botschaft gestellt und darauf wurde nicht reagiert.
Wir erfahren von ihm, dass es auf dem Schwarzmarkt Termine an den deutschen Botschaften zu kaufen gebe, für ca. 500 Euro. Das könne er sich nicht leisten.
Steffen Grundmann ist Sozialarbeiter in der Asylunterkunft: er ruft die Botschaften an, schreibt Mails und prüft die Terminvergabe im Internet. All das oft vergeblich.
O-TON Steffen Grundmann, Sozialarbeiter Asylunterkunft Bautzen
Der letzte Anruf in der Botschaft in Ankara wurde mir gesagt, dass alle Botschaften in der Türkei, sei es Ankara, Istanbul oder Izmir, man jetzt aktuell von Terminen im März redet, mindestens März.
März 2016 – erst dann kann seine Frau überhaupt dort vorsprechen. Er weiß nicht, wie seine Familie so lange durchhalten soll.
O-TON Steffen Grundmann, Sozialarbeiter Asylunterkunft Bautzen
Mir persönlich fehlt einfach der politische Wille. Wenn wirklich gewollt wäre, die Flüchtlinge nach Deutschland zu holen, dass sie wirklich ihr Recht auch in Anspruch nehmen können, wenn man das wirklich umsetzen wollte, dann würde man mit Sicherheit Wege finden, um es deutlich zu beschleunigen. Von daher mache ich der Politik da schon einen großen Vorwurf.
Die Terminvergabe für die deutschen Vertretungen in der Türkei wurde privatisiert, an die Dienstleistungsfirma iDATA ausgelagert. Das sollte das Verfahren beschleunigen – doch gebracht hat es offenbar nichts, außer Gebühren für die Antragsteller. Die extremen Wartezeiten sind geblieben.
Wir fragen beim Auswärtigen Amt nach - hier verweist man schlicht auf den starken Anstieg der Flüchtlingszahlen.
Die Abgeordnete Ulla Jelpke drängt die Bundesregierung seit einem Jahr, die Missstände abzustellen.
O-TON Ulla Jelpke (Die Linke), Innenpolitische Sprecherin Bundestagsfraktion
Man kann es nicht gelten lassen, dass die Überlastung von Botschaften jetzt besonders stark sei und so weiter. Wir haben seit über 4 Jahren Krieg in Syrien, die Folgen sind seit langem absehbar. Das geht überhaupt nicht, finde ich, dass man ein Jahr warten muss, bis man überhaupt einen Termin bekommt.
Deutschland verstößt mit seinen langen Wartezeiten sogar gegen eine EU-Richtlinie zur Familienzusammenführung. Darin wird gefordert, vor allem das Kindeswohl zu berücksichtigen – und dass die EU-Länder deshalb die Visaanträge:
Zurück in Erbil, Nordirak. Die kleinen Kinder von Shrihan haben ihren Vater seit über einem Jahr nicht gesehen. Die Region ist nicht sicher vor IS-Terroristen. Erst vor kurzem haben sie einen Anschlag in der Stadt verübt. Die beiden Frauen sorgen sich, sie bleiben oft die ganze Nacht wach.
O-TON Shrihan
Sie haben hier schon zwei IS-Leute in unserer Straße festgenommen. Das hat uns große Angst gemacht. Wir Frauen sind hier ganz alleine, die Türen haben keine Schlösser.
In Erbil gibt es riesige Flüchtlingscamps – und das seit zwei Jahren. Tausende Familien warten hier auf ihr Visum für Deutschland.
Außenminister Steinmeier zeigt sich immer sehr betroffen, wenn er die Krisenregion bereist.
O-TON Frank-Walter Steinmeier (SPD), Bundesaußenminister
Wer das hier sieht, der weiß auch, unsere Verantwortung ist größer als das, was wir tun.
Wir konfrontieren das Auswärtige Amt mit der Lage in Erbil. Die schlichte Antwort: das Konsulat in Erbil habe nur eingeschränkte räumliche und personelle Kapazitäten.
Unsere konkreten Fragen wurden nicht beantwortet.
Wir fragen Außenminister Steinmeier selbst, warum in Erbil keine Visa für die Flüchtlinge bearbeitet werden und man sie auf Ankara verweist?
O-TON Frank-Walter Steinmeier (SPD), Bundesaußenminister
Das kann ich mir nicht vorstellen, dass dieses der Wahrheit entspricht. Wir sind von Anfang an bemüht, die humanitäre Lage der Flüchtlinge in der Region zu verbessern.
Kontraste: Herr Steinmeier, das ist ein aktueller Ausdruck vom Generalkonsulat Erbil und da steht…
Offenbar ist der Minister schlecht informiert. Dabei drängt die Zeit. Eine Lösung wäre die Visa-Anträge in Deutschland zu bearbeiten und das Personal der Konsulate in den betroffenen Ländern drastisch aufzustocken.
Tom Koenigs hat kein Verständnis dafür, dass nicht schon längst reagiert wurde. Der Grünen-Politiker macht sich seit Jahrzehnten für die Wahrung der Menschenrechte stark.
O-TON Tom Koenigs (Bündnis 90/Die Grünen), Menschenrechtspolitischer Sprecher Bundestagsfraktion
Wir sind auch auf Erdbeben nicht vorbereitet, und auf Tsunamis nicht, trotzdem reagieren wir und können auch reagieren. Diese Reaktionsfähigkeit muss auch das Auswärtige Amt haben und wenn es die nicht hat, muss es die gewinnen.
Dann hätten auch diese Kinder eine Chance, mit ihrer Familie in Sicherheit zu leben.
Beitrag von Caroline Walter, Muriel Reichl und Christoph Rosenthal