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Nachdem der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte die deutsche Sicherungsverwahrung für rechtswidrig erklärt hat, werden gefährliche Straftäter jetzt zunehmend in die geschlossene Psychiatrie eingewiesen. Doch viele Strafgefangene sind gar nicht krank. Die Psychiatrien fühlen sich ausgenutzt. Schon bald könnten deshalb viele ehemalige Strafgefangene freigelassen werden, ohne Wiedereingliederung und Begleitung, weil ihre Zwangspsychiatrisierung gegen das Grundgesetz verstößt.
Wegsperren - und zwar für immer, mit diesem populistischen Rezept wollte Ex-Kanzler Schröder seinerzeit die Gesellschaft vor gefährlichen Sexual-Straftätern schützen. Sicherungsverwahrung hieß das Schlagwort. Doch die erklärte der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte 2009 für menschenrechtswidrig. Der Gesetzgeber ließ sich also etwas Neues einfallen lassen, um den Stammtisch zu befriedigen. Mit dem Resultat, dass ehemalige Straftäter jetzt in der Psychiatrie landen. Susanne Katharina Opalka und Norbert Siegmund.
Ein Krankenhaus als Gefängnis. Geschlossene Psychiatrie. Hier sitzen Menschen ein, die psychisch krank sind. Sie sind strafrechtlich nicht für ihre Taten verantwortlich, selbst wenn sie getötet oder vergewaltigt haben.
Auch Wolfgang W. ist hier eingesperrt. Er ist weder Mörder noch Sexualstraftäter. Und er ist auch nicht psychisch krank - aber trotzdem unter Verschluss unter Geisteskranken.
Wolfgang W.
Sicherungsverwahrter
„Ich komm mit der Situation hier nicht klar, weil hier gibt's wirklich sehr schwer kranke Menschen. Ich bin darunter. Ich zieh mich hier nur zurück, weil bei mir keine psychische Störung vorliegt. Also hab ich auch in einer psychiatrischen Klinik nichts zu suchen. Das ist ganz einfach. So sehe ich das.“
Mehrmals vorbestraft, hatte Wolfgang W. zuletzt bei einem Trinkgelage einen Freund mit dem Messer verletzt. Dafür bekam er eine Strafe von zwei Jahren und neun Monaten. Doch danach kam er nicht frei. Die Richter meinten, von ihm ginge auch nach Verbüßung der Strafhaft eine Gefahr für die Öffentlichkeit aus. Das ist schon 15 Jahre her.
Seither blieb Wolfgang W. als Sicherungsverwahrter hinter Gittern - nach Verbüßung der Strafe zusätzlich mehr als ein Jahrzehnt. Erst in einer Haftanstalt. Und plötzlich in der Psychiatrie.
Wolfgang W.
Sicherungsverwahrter
„Die ganzen Jahre, wo ich verurteilt wurde, war ich auch gesund. Auf einmal wird von heute auf morgen festgelegt: Der Mann ist psychisch krank, oder was. Das kann's nicht sein. Ich wurde praktisch aufs Neue bestraft. Mit Handschellen abgeführt und so weiter.“
Weder ein vom Gericht bestellter psychiatrischer Gutachter hält Wolfgang W. für krank. Noch die Mediziner, die ihn nun therapieren sollen. Sie sehen Wolfgang W. hier schlichtweg fehl am Platz.
Dr. Rolf Bayerl
Chefarzt Krankenhaus des Maßregelvollzugs Berlin
„Aus unserer Sicht liegt auch keine psychische Erkrankung vor, die jetzt dringend behandlungsbedürftig wäre. Sondern es muss mit ihm ein Entlassungsprozedere erarbeitet werden, in welche Nachbetreuungsformen man ihn dann später entlassen kann. Und er würde das lieber in seinem früheren Rahmen - in der Sicherungsverwahrung - machen als hier."
Eigentlich darf Wolfgang W. schon seit Jahren damit rechnen, freigelassen zu werden. Denn 2009 urteilt der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte, dass Sicherungsverwahrung gegen die Menschenrechte verstößt.
Die Sicherungsverwahrung komme einer zusätzlichen Strafe gleich für Menschen, die für ihre Taten längst gebüßt haben. Doch doppelte und nachträgliche Bestrafung ist verboten, verstößt übrigens auch gegen das Grundgesetz.
Rückblende:
Als Konsequenz aus diesem Urteil sollte Wolfgang W. damals aus dem Gefängnis entlassen werden. Denn er gilt nicht als hochgradig gefährlich. Und als er verurteilt wurde, galt für Sicherungsverwahrung eine gesetzliche Höchstdauer von zehn Jahren, die bei ihm längst überschritten ist. Damals treffen wir ihn bei der Vorbereitung seiner Entlassung. Soeben hatte er Ausgang, das erste Mal nach fast eineinhalb Jahrzehnten draußen: Einkaufen mit Euro statt mit D-Mark. Und U-Bahn-Fahren, begleitet von unbewaffneten Beamten:
Wolfgang W.
Sicherungsverwahrter
„Und an der Kasse hat er mich alleine gelassen, an der Kasse und so. Selber bezahlt und alles. Hat man sich eben vorgestellt, es sind noch Mark. Obwohl es Euro sind. Das war auf alle Fälle ne schöne Vorbereitung für draußen erstmal. Nun kann man auch zeigen, dass man nicht der Schwerverbrecher ist, der ganz Böse, sonst wäre die ganze U-Bahn gleich weggelaufen."
Doch die schwarz-gelbe Bundesregierung macht Wolfgang W. einen Strich durch die Rechnung. Trotz der Rüge aus Straßburg versucht sie, Verwahrte wie ihn weiter hinter Gittern festzuhalten. Mit dem eilig verabschiedeten Therapieunterbringungsgesetz will sie ehemalige Täter weggesperrt lassen, wenn sie weiterhin hochgradig gefährlich sind - und zugleich an einer „psychischen Störung" leiden.
Doch "psychische Störung" ist ein Allerweltsbegriff, der fast alles umfasst - von Nikotinsucht über Depressionen bis hin zur schweren Schizophrenie. Eine spitzfindige juristische Rechtfertigung, um Menschen einsperren zu können, die nicht wirklich krank sind. Einhellige Kritik kommt aus der Fachwelt und auch von Regierungsberatern wie Professor Jörg Kinzig von der Universität Tübingen:
Jörg Kinzig
Strafrechtler und Kriminologe Universität Tübingen
„Das ist ein eigenartiger Vorgang hier. Es sind Menschen, die von Strafgerichten mal verurteilt worden sind, und zwar als schuldfähig verurteilt worden sind. Und jetzt versucht man sie auf doch äußerst fragwürdige Weise im Nachhinein umzuetikettieren, man kann sagen, als psychisch gestört anzuerkennen, um dann auf diese Weise ihnen länger die Freiheit zu entziehen."
Im Fall Wolfgang W. sieht selbst der medizinische Gutachter „nicht die Kriterien einer psychischen Störung erfüllt". Und er hält Wolfgang W. auch nicht für hochgradig gefährlich. Doch das letzte Wort hat nicht der Mediziner, sondern ein Gericht. Und das entscheidet anders, erklärt sich selbst für medizinisch kompetent und Wolfgang W. für psychisch gestört. Die Konsequenz: In Handschellen wird er in die Psychiatrie gebracht.
Dr. Rolf Bayerl
Chefarzt Krankenhaus des Maßregelvollzugs Berlin
„Ganz entfernt erinnert es mich an die Behandlung von Dissidenten in der alten Sowjetunion, die man ja auch mit pseudopsychiatrischen Diagnosen sozusagen in der Psychiatrie zu entsorgen versuchte. Ich finde, das darf nicht geschehen."
Das ist Missbrauch der Psychiatrie aus politischen Gründen, meint Rechtsexperte Jörg Kinzig, der schon gegen die Sicherungsverwahrung vor dem Bundesverfassungsgericht erfolgreich geklagt hat.
Jörg Kinzig
Strafrechtler und Kriminologe Universität Tübingen
„Hier glauben die Rechtspolitiker den Beifall der Bevölkerung meines Erachtens auf eine sehr fragwürdige Weise zu erhalten, nämlich zu Lasten der betroffenen Menschen, die ja als Straftäter auch Menschenrechte haben. Mir haben Rechtspolitiker selbst mitgeteilt, dass sie insofern, indem sie das Therapieunterbringungsgesetz geschaffen haben und auf den Begriff der psychischen Störung nun bauen, bewusst die Psychiatrie missbraucht haben."
Das Therapieunterbringungsgesetz bedient politischen Populismus. Dafür herhalten müssen Menschen wie Wolfgang W., derweil verzweifelt über jahrelang empfundenes Unrecht. Dieses wohl menschenrechtswidrige Gesetz muss vom Tisch, fordern Experten, denn es öffnet Willkür Tür und Tor:
Jörg Kinzig
Strafrechtler und Kriminologe Universität Tübingen
„Das führt zu einigen absurden Entwicklungen wie eben auch in dem hier vorliegenden Fall. Und hier sollte die Rechtspolitik endlich mal aufräumen."