Anti-Terrorkampf -
Ein Untersuchungsausschuss in Nordrhein-Westfalen, Sonderermittler in Düsseldorf und Berlin - sie sollen herausfinden, wie es zu dem Terroranschlag in Berlin am 19. Dezember 2016 kommen konnte, ob er hätte verhindert werden können. Fragen, die bis heute nicht endgültig geklärt sind.
Anmoderation: Immer noch, jeden Tag, neue Details im Fall Anis Amri, dem Terroristen vom Breitscheidplatz in Berlin. Auch wir decken immer mehr Ungereimtheiten auf: hätte der über Monate von der Polizei observierte Anis Amri nicht viel früher aus dem Verkehr gezogen werden können? Hatte der Schutz von Informanten der Polizei innerhalb der Terroristenszene Vorrang vor der Abwehr von Gefahren für die Bürger? Fragen, bei deren Beantwortung es um Leben und Tod geht. Die Geschichte unseres Autorenteams beginnt mit einem Vorfall, der uns seinerzeit alle massiv verunsichert hat.
Terroralarm im November 2015 in Hannover. Im letzten Moment wird ein Spiel der Deutschen Fußball-Nationalmannschaft abgesagt.
O-Ton:
"Alle bitte raus!"
Grund für die Evakuierung des Stadions: Hinweise auf mögliche Anschlagspläne, darunter von einer Islamistengruppe aus dem nahen Hildesheim.
Mutmaßlicher Mittelpunkt der Gruppe: der Hassprediger Abu Walaa. In ihm sehen Ermittler den Kopf des sogenannten Islamischen Staats in Deutschland. Die Anschlagspläne konnten der Zelle allerdings bisher nicht nachgewiesen werden.
Bei diesen Ermittlungen zur Abu Walaa-Gruppe fällt auch ein Tunesier auf. Name: "Anis". Später wird er als Anis Amri identifiziert. Über ihn berichtet ein Informant des nordrhein-westfälischen Landeskriminalamts: Sein Codename "Vertrauensperson 01". Er hat Amri kennengelernt. VP01 meldet, dass sich "Anis" Kriegswaffen und Sprengstoff beschaffen wolle und Anschläge in Deutschland plane, dass er sich eine Kalaschnikow kaufen und unbedingt für seinen Glauben kämpfen wolle. VP01 sieht ein stark wachsendes Risiko- und Gefährderpotential in Amri, der "im Sinne von Allah" töten wolle.
Anis Amri - nur nahe dran an möglichen Terroristen? Oder schon damals selbst ein potentieller Terrorist? Wie wichtig war er für die Behörden? Ungeklärte Fragen:
André Hahn, MdB (Die Linke):
"Wollte man Amri möglicherweise auch laufen lassen und hoffte man über ihn noch an andere Hintermänner zu kommen. Dazu sind die Aussagen bis jetzt äußerst unbefriedigend."
Wie sind die Ermittler im Fall Amri vorgegangen?
Die Polizei von NRW entschließt sich, Amri zu beobachten und sein Telefon abzuhören. Amri wird jetzt als sogenannter Nachrichtenmittler geführt, als eine Quelle, die nicht weiß, dass sie abgeschöpft wird. Über ihn hoffen die Ermittler, mehr über die terrorverdächtige Au Wallaa-Gruppe herauszufinden. Dazu pflegt der Polizei-Informant VP01 den persönlichen Kontakt zu Amri, um ihn über Aktivitäten der Gruppe auszuhorchen.
Die Polizei benutzt Amri, obwohl sie glaubt, dass von ihm selbst eine Gefahr ausgeht. Im Zuge der technischen Überwachung seiner Smartphones verdichten sich die Terrorhinweise.
Ermittler dokumentieren: Amri chattet mit IS-Terroristen in Libyen, spricht mit dem Mann, der sich im Netz als Kämpfer darstellt. Und er spricht über sein geplantes "Dougma", ein Codewort für einen Selbstmordanschlag. Auf einem IS-Blog informiert sich Amri über tödliches Insektengift und über den einfachen Bau von Sprengkörpern, die er mit Nägeln und mit Rattengift anreichern kann, um mehr Menschen zu töten. Die Polizei zeichnet all das mit.
Doch dies alles reicht nach Einschätzung der Behörden nicht, Amri hinter Gitter zu bringen. Spricht aber etwas anderes dagegen? Soll er als Quelle in der Abu-Walaa-Gruppe nicht versiegen? Oder soll Polizeiinformant VP01 nicht enttarnt und sein Leben nicht riskiert werden? Offene Fragen.
Gleichzeitig wird für die Sicherheitskonferenz im NRW-Innenministerium geprüft, ob Amri abgeschoben werden kann. Laut LKA-Direktor ist - Zitat
"...die Begehung eines terroristischen Anschlags durch Amri zu erwarten. Vor dem Hintergrund der bedrohten Rechtsgüter, nämlich im Falle eines terroristischen Anschlags Leib und Leben einer Vielzahl von Bürgern, wäre eine Abschiebung des Amri auch verhältnismäßig."
Problem: Es gibt zwar viel Belastendes über Amri. Weil aber die Herkunft etlicher Informationen verdeckt ermittelt ist, darf nicht mit ihnen gearbeitet werden.
Im Amtsdeutsch: Sie sind nicht gerichtsverwertbar. Oft über Monate nicht. Bis vier Wochen vor dem Anschlag in Berlin.
Brisantes Behördenwissen über Amris Vorhaben - angeblich nicht gerichtsverwertbar, weil aus verdeckter Ermittlung. Die Freigabe dieser Daten oblag hier der Bundesanwaltschaft. Doch bei ihr fragen die zuständige NRW-Behörden nicht nach.
In der Folge kommt Amri im Frühjahr nicht hinter Gitter, sondern bewegt sich wie ein Fisch im Wasser - oft unter den Augen der Ermittler. Eine Pflichtverletzung, glaubt die Opposition im Bundestag:
André Hahn, MdB (Die Linke):
"Die Polizei ist dem Legalitätsprinzip unterworfen und muss natürlich, wenn Straftaten bekannt werden, auch mögliche Straftaten, unverzüglich handeln. In diesem Fall muss man sagen, dass die Quelle dort tatsächlich werthaltige Informationen gegeben hat. Es ist ja deutlich gemacht worden, dass ein Anschlag geplant wird, dass Vorbereitungen zu Straftaten stattfinden, dann gab es aus meiner Sicht ausreichend Möglichkeiten, Amri in Haft zu nehmen."
Wie heikel solche verdeckten Ermittlungen sind, zeigte sich schon im Februar 2016. Amri, hier nie gezeigte Observationsbilder, reist nach Berlin - wie die Vertrauensperson VP01 berichtet. Mit der Berliner Polizei ist abgesprochen, dass nur verdeckt vorgegangen werden soll. Bei der Ankunft in Berlin kontrolliert und durchsucht ihn die Polizei trotzdem. Die NRW-Beamten sind entsetzt, sorgen sich jetzt um ihren Informanten VP01, Zitat:
"Entgegen der Absprachen wurde Amri durch Kräfte des LKA offen kontrolliert. Hierdurch Gefährdung des weiteren Einsatzes der VP01."
Über Monate wird Amri beobachtet. Das LKA NRW hält ihn für bedrohlich. Für die Polizeiquelle VP01 ein gefährlicher Auftrag.
Kontraste:
Quellenschutz ist auch ein Schutz von Menschenleben, nämlich der Schutz der Quelle.
André Hahn, MdB (Die Linke):
"Es ist sicherlich in einigen Fällen auch vorgeschoben, man möchte Quellen auch noch über längere Zeit haben und nicht verbrennen wie da die Geheimdienste sagen würden. Nur es muss doch auch eine Abwägung geben. Es gibt Quellenschutzprogramme, d.h. sollte wirklich jemand enttarnt werden, gibt es auch die Möglichkeit, ihn mit einer anderen Identität auszustatten und so zu schützen, aber im Mittelpunkt muss doch der Schutz von Menschenleben und die Abwehr von Straftaten stehen."
Quellenschutz oder Gefahrenabwehr zum Schutz der Bevölkerung - ein Dilemma. In Hannover haben geheime Quellen vielleicht einen Anschlag verhindert. Im selben Zug wuchs möglicherweise das Risiko für Berlin.