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Trotz KONTRASTE-Berichten über Sicherheitsmängel am AKW Biblis ist der Reaktor wieder ans Netz gegangen. Der neue Bundesumweltminister Norbert Röttgen will offenbar keine Aufklärung zu den Hinweisen auf gravierende Materialfehler im Notkühlsystem. Doch Experten warnen.
Es ist wohl so sicher wie das Amen in der Kirche: Die schwarz-gelbe Bundesregierung wird die Laufzeiten für Atomkraftwerke in Deutschland verlängern. Das ist umso wahrscheinlicher, als der neue Umweltminister Röttgen jetzt einen Mann an die Spitze der deutschen Atomaufsicht gesetzt hat, der selbst einer der schärfsten Lobbyisten der Atomwirtschaft war. Es wundert daher nicht, dass das umstrittene AKW Biblis vor 4 Tagen still und heimlich wieder ans Netz ging. Dabei haben KONTRASTE-Recherchen klare Hinweise erbracht auf Risiken im Notkühlsystem. Chris Humbs und Manka Heise haben sich den Pannenreaktor Biblis noch mal vorgenommen. Großes Kino!
Werbespot RWE
Kinobesucher
"Hallo? Sag mal, was ist hier mit dem Strom los? Wir sitzen hier im …Was ist hier los ist? Was? Abgeschaltet – das ganze Ding? Da muss man doch vorher darüber reden. "
Grafik-Text:
Für großes Kino braucht man eine sichere Energieversorgung
RWE-vorweggehen: Biblis, ja sicher!
Ein Kinospot von RWE: Biblis ja, sicher! In diesem Punkt ist man sich aber unsicher. Es gab Zweifel, ob das Notkühlsystem im Ernstfall überhaupt funktioniert. Der alte Reaktor durfte deswegen nicht ans Netz – das war Anfang November.
Wir berichteten und die Bundesatomaufsicht nahm unsere Recherchen sehr ernst.
Der Chef der obersten Kontrollbehörde wollte erstmal die offenen Fragen klären, bevor der hessische Meiler wieder Strom produzieren darf.
Wolfgang Renneberg, ehem. Leiter der Bundesatomaufsicht
"Man muss die Unsicherheit haben, ob möglicherweise im Kernkraftwerk Dinge passiert sind, die die Sicherheit der Anlage beeinträchtigen."
Was war passiert?
In über 200 Fällen ist unklar, ob im Ernstfall die einzelnen Rohrteile aus dem Notkühlsystem den Belastungen Stand halten können.
Der Grund: Es fehlen die so genannten Stempelfelder auf den Leitungen. Das sind eingeschlagene Codes, die genau belegen, aus welchem Material die Rohrstücke bestehen, unter welchen Bedingungen gewalzt wurde und wie die Rohre im Detail ausgehärtet sind.
Die Rohre einer jeden Schmelze werden nach Festigkeit geprüft. Nur Formteile mit ganz bestimmten Eigenschaften und Festigkeitskennwerten dürfen wegen der hohen Belastungen in Notkühlsystemen verwendet werden.
RWE bestritt uns gegenüber anfänglich, dass die fehlenden Identifikationsstempel auf den Rohren ein ernstes Problem sein könnten.
Bei der Errichtung in den 70ern war eine solche Stempelung auch schon zwingend vorgeschrieben – damit es eben zu keinen gefährlichen Verwechslungen mit instabilen Rohren kommt.
Biblis B hat somit ein ernstes Problem.
Denn: nach dieser Sachlage betreibt RWE einen Reaktor, der die Voraussetzung für eine Betriebsgenehmigung nicht erfüllt.
Das sah die Bundesatomaufsicht genau so - und beschloss: Der Reaktor soll aus Sicherheitsgründen bis auf weiteres nicht mehr ans Netz. Das war vor vier Wochen.
Doch dann kam die neue Bundesregierung.
Und mit ihr der neue Bundesumweltminister Norbert Röttgen. Der schickte erstmal den besorgten Chef der Bundesatomaufsicht in den vorzeitigen Ruhestand.
Und Biblis B wurde wieder angefahren. Das war vor drei Wochen.
Wir wollen vom neuen Bundesumweltminister wissen, warum man auf einmal keine Sicherheitsprobleme mehr erkennen kann. Keine Antwort von Norbert Röttgen.Schriftlich wird uns lediglich mitgeteilt.
ZITAT
"…zum geplanten Wiederanfahren von Biblis B hat das BMU (das Bundesministerium für Umwelt) keine Einwände erhoben."
Wir geben uns mit dieser Antwort nicht zufrieden. Stellen weitere Fragen an das Bundesministerium – doch Antworten bekommen wir nicht.
Dann wird uns dieses zentrale Dokument aus Hessen zugespielt. Es ist die aktuelle Erklärung von RWE an die Behörden, warum einer Betriebsgenehmigung nichts im Wege steht: Jetzt heißt es, es kann im Reaktor keine Materialprobleme geben, denn man habe von Anfang an sehr wohl alles ordentlich geprüft und gestempelt.
Die Stempel sind nur nicht mehr da.
Sie sind weg – wegen der vielen Überprüfungen. Denn:
ZITAT
"Dabei (bei den Prüfvorgängen) ist nicht auszuschließen, dass auch Stempelfelder beschliffen, bzw. Stempelfelder dadurch entfernt wurden."
Damit sei alles geklärt.
Bundesumweltminister Röttgen findet diese These zum Verschwinden der Stempelfelder überzeugend und sieht keinen Grund die Aussagen im Detail zu überprüfen.
Dass autorisierte Gutachter diesem spurlosen Verschwinden nachgehen – wo möglich noch vor Ort im Reaktor, ist nicht erwünscht.
Wir wollen es genauer wissen, wir treffen einen Ingenieur, der im Auftrag von RWE die Stempelfelder auf genau diesen Rohren geprüft und das Fehlen von etwa 200 festgestellt hat.
Kontraste: "Haben Sie Abschleifungen gesehen?"
Wilfried Rindte, Prüfingenieur:
"Nein ich hab bei diesen Stempelfeldaufnahmen keine Abschleifungen gesehen. Ich kann das deswegen verneinen, weil ich zu der damaligen Zeit diese Stempelfelder gesucht haben und um dies auszuschließen, dass Abschleifungen evtl. die Stempelfelder entfernt waren habe ich mit besonderem Augenmerk darauf geschaut!"
Merkwürdig ist auch: Dort, wo sich eigentlich das Stempelfeld zur Festigkeit befinden sollte, sah Rindte vereinzelt eine andere Ziffer. Diese Nummer legte bei der Montage aber lediglich die Position des Rohres fest.
Kontraste: "Die Nummern hätten auch weggeschliffen sein müssen?"
Wilfried Rindte, Prüfingenieur
"Das habe ich mir dann halt auch überlegt, dass man diese Nummern, wenn man abgeschliffen hätte, warum waren dann grad solche einzelnen Nummern dann zu sehen, die für mich keinerlei Bedeutung hatten. Ich kann es noch mal wiederholen: abgeschliffen habe ich nichts gesehen, das würde man an so einer Leitung auch sehen."
Zudem: Wäre es bei Tests zum Beschleifen in diesem hochsensiblen Bereich gekommen, dann müsste die Zerstörung des Stempels von der hessischen Atomaufsicht genehmigt und dokumentiert worden sein.
Wir fragen nach bei der Hessischen Atomaufsicht, ob dies der Fall ist und ob wir dazu die Akten einsehen können. Wir bekommen trotz mehrfacher Anfragen keine Antwort.
Wir treffen Norbert Meyer. Er ist Werkstoffexperte für Atomanlagen und war einer der Gutachter beim bundesweit größten Störfall in einem Kernkraftwerk.
Laut Gutachten strömten 1995 wegen eines Lecks in Biblis B vier Tonnen radioaktiver Wasserdampf pro Stunde aus.
Es stellte sich heraus, dass das fast abgerissene Rohrteil nicht die Festigkeitskennwerte aufwies, die gefordert waren. Die von RWE vorgelegten Prüfzeugnisse hingegen bescheinigten dem Rohr eine einwandfreie Qualität. Wie es zu diesem Widerspruch kommen konnte, ist unklar.
Das Bauteil mit dem Leck war aus dem gleichen Edelstahl angefertigt worden, wie jene bei denen heute die Stempelfelder fehlen.
Kontraste: "Bewerten diesen Fall jetzt! Kann man das jetzt erstmal in Ruhe angucken oder wie sehen Sie das?"
Norbert Meyer
"Nein, aus meiner Sicht ist das untragbar. Es kann nicht sein, dass in sicherheitsrelevanten Anlagen nicht spezifizierte Werkstoffe eingebaut wurden. Wenn dieser Verdacht besteht, dann muss er vollständig ausgeräumt werden. Das ist ein dicker Hund."
Wir zeigen dem Experten den Schriftwechsel zwischen RWE und Behörden zu den Abschliffen an den Rohren und bitten ihn um eine Bewertung:
Norbert Meyer:
"Das ist Quatsch auf gut Deutsch. Das kann nur jemand aufschreiben, der nie in der Kernenergetik war und der keine Ahnung hat, wie solche Prüfungen erfolgen."
Kontraste: "Das heißt?"
Norbert Meyer:
"Dass wir eigentlich nicht den Sicherheitszustand dieser Rohrleitung kennen."
Kontraste: "Biblis wird angefahren bzw. ist angefahren…"
Norbert Meyer:
"In diesem Zustand darf man Biblis nicht anfahren."
Kontraste: "Es wird aber gemacht!"
Norbert Meyer:
"Das ist falsch und das widerspricht dem Atomgesetz."