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Im jüngst erschienenen Buch "Canceln" werden verschiedene Aspekte der Cancel-Debatte von verschiedenen Autorinnen und Autoren beschrieben. Wir sprechen unter anderem mit der Autorin Mithu Sanyal und dem dem Essayisten Konrad Paul Liessmann.
Ein Antiquariat, das ist zunächst einmal ein Paradies für Bibliophile. Es ist aber auch ein Ort, an dem man auch heute noch Beweise für den völlig selbstverständlichen Alltagsrassismus vergangener Zeiten finden kann. Kolonialismus und Klassismus waren damals kein Problem, sondern dienten der Unterhaltung. So wie in den Abenteuerromanen der britischen Kinderbuchautorin Enid Blyton.
Mithu Sanyal, Autorin
"Also, dass sie alle Köche und Dienstmädchen hatten und wir das nicht hatten, das fand ich nicht merkwürdig. Was mich tatsächlich gestört hat, war, dass alle Ausländer immer verdächtig oder lächerlich waren. Das war schon sehr, sehr offensichtlich."
In der soeben erschienenen Anthologie "Canceln" plädiert die Autorin Mithu Sanyal dafür, die Bücher Enid Blytons trotz kolonialistischer Referenzen weiterhin zu lesen.
Da, wo es um klar rassistische Begriffe in Kinderbüchern geht, hält Sanyal Neuübersetzungen für die beste Lösung. So wie bei Pippi Langstrumpfs Vater. Hier wurde aus dem rassistischen Neger- ein unverfänglicher Südseekönig.
Mithu Sanyal, Autorin
"Es ging halt explizit darum, dass zum Beispiel schwarze Kinder nicht bei der Lektüre ständig rausgeworfen werden, wenn die ständig das N-Wort lesen. Und da ging es ja darum, die Kinder vor einer Beleidigung, die auch Astrid Lindgren niemals so gemeint hätte, zu schützen. Also, da glaube ich tatsächlich, dass die Übersetzung näher an der Intention der Autorin war als dieses Wort, das inzwischen ja auch noch mal ganz anders wahrgenommen wird, als es damals wahrgenommen wurde."
Nur: Das Ausmerzen rassistischer Begriffe ändert natürlich nichts an der Realität, Rassismus bleibt trotzdem bestehen. Der Eingriff in die Literatur hat aber noch ein weiteres Ziel.
Konrad Paul Liessmann, Autor
"Man verwendet bestimmte Begriffe nicht, um tatsächlich nur Betroffenen zu helfen oder sie zu schützen, sondern vor allem, um zu zeigen: Man gehört zu einer bestimmten, moralisch integren, moralisch überlegenen Gemeinschaft."
Es sind nicht nur rassistische Begriffe, die manche glauben, Kindern nicht zumuten zu können. Vor kurzem sollte in einem Buch des britischen Autors Roald Dahl das Wort `fett´ als Beschreibung eines übergewichtigen Jungen gestrichen werden. Nach kurzem, aber heftigem weltweiten Protest gab der Verlag nach. Es soll nun zwei Versionen des Buches geben.
Konrad Paul Liessmann, Autor
"Unsere Besorgnis, dass Kinder zum Beispiel auf TikTok Videos sehen könnten, die ihrem Seelenheil nicht gerade zuträglich sind, ist übrigens wesentlich kleiner als unsere Besorgnis, ein falsches Wort in einem Kinderbuch und, äh, eine Welt bricht zusammen. Da ist auch viel Scheinheiligkeit dabei. Und das, was mich am meisten stört, ist, dass wir dieses Modell einer pädagogischen Besorgnis Kindern gegenüber jetzt ausdehnen auf die Welt der Erwachsenen."
Es ist eine scharfe Debatte. Versuche, sich über die neue Sprachmoral lustig zu machen, sind meist zum Scheitern verurteilt.
Auftritt Dieter Nuhr
"Ich bin ja Antirassist, muss ich sagen, ich bin Feminist, ich bin völlig offen für jegliche Form von Lebensentwürfen, ich habe jede Menge Menge schwuler Freunde und ich bin Veganer, wenn auch nur zwischen 14 und 16 Uhr. Aber: Ich habe Angst, dass das alles irgendwann nicht mehr ausreicht. Ich muss noch so viele neue Worte lernen. Vagina soll man nicht mehr sagen. Weil das Wort suggerieren würde, das weibliche Genital sei nur eine Hülle für den Penis. Man soll deshalb Vulvina sagen. Vulvina. Ab 22 Uhr können Sie auch Muschi nehmen, ist Wurscht."
In manchen Buchhandlungen entsteht der Eindruck, dass die inklusive und gendergerechte Sprache gerade in Kinderbüchern mittlerweile allgemeiner Konsens ist. Aber stimmt das wirklich?
Konrad Paul Liessmann, Autor
"Gerade bei der Sprachpolitik, mit der wir jetzt konfrontiert sind, politisch korrektes Sprechen, gendergerechtes Sprechen, ist es natürlich die Konzeption einer kleinen Elite, die ihren Sprachgebrauch oder den Sprachgebrauch, den sie für richtig hält, tatsächlich zu einer gesamtgesellschaftlichen Usus machen möchte."
Nicht nur Kinderbücher, auch Literatur für junge Erwachsene steht auf dem Prüfstand. Zuletzt weigerte sich eine Lehrerin in Baden-Württemberg, Wolfgang Koeppens Roman `Tauben im Gras´ in einer Abiturklasse zu unterrichten. Ihre Begründung: In dem eindeutig antirassistischen Werk aus der Nachkriegszeit sprechen einige der Protagonisten von `Negern´.
Konrad Paul Liessmann, Autor
"Wenn ich als junger Mensch nur noch mit Büchern konfrontiert werde, die keinen Widerspruch zulassen, die keine Irritation zulassen, sondern die immer moralisch zumindest glatter runtergehen, vielleicht literarisch wertlos sind, aber moralisch glatt runtergehen, dann deformiert mich das in meiner geistigen Lebendigkeit der Welt gegenüber. Und das ist, glaube ich, ein… wäre ein ziemlich großer Verlust."
"Canceln" ist ein gelungener Versuch, beiden Seiten der Sprachdebatte Raum für ihre Argumente zu geben. Dabei zeigt die Essay-Sammlung aber vor allem eines: wie tief nämlich die Gräben zwischen den beiden sind.
Autorin: Petra Böhm