-
Am Abend des 2. Juni 1967, nach der Demonstration gegen den Schah von Persien, stirbt der Student Benno Ohnesorg durch eine Polizeikugel. Und genau diesen Moment hat Jürgen Henschel festgehalten, das Bild geht um die Welt, gehört bis heute zum kollektiven Gedächtnis der Deutschen. Henschel macht danach Fotografie zum Beruf. 100 seiner Bilder sind jetzt erstmals in einer Ausstellung im Schöneberg Museum zu sehen: Seine Blick auf die Jahre 1953 bis 1990 in West-Berlin, zwischen kaputten Fassaden, Mauerbau, Demos und Hausbesetzungen.
Ruprecht Frieling, Journalist
"Jürgen Henschel ist das gar nicht so bewusst gewesen, was das für ein Schicksalstag war. Er hat eben alles fotografiert, was möglich war. Natürlich war er fassungslos, dass die Gewalt so weit ging, dass also vollkommen friedliche Leute – das war ja ein Pazifist der Ohnesorg – erschossen wurde von hinten. Und dann noch von der Polizei, das bestätigte natürlich diese ganze Theorie von der Polizeigewalt, von der Staatsgewalt, die den Schah damals unterstützte. Und das war praktisch der Ausgangspunkt für all die Studentenrevolutionen, für die Studentenunruhen, die West-Berlin ab 67/68 erschütterten."
Über 40 Jahre fotografiert Jürgen Henschel den Wandel in seiner Stadt, von der Nachkriegszeit bis in die 90er Jahre.
Dabei ist er politisch, schaut engagiert auf die linke Szene. Am sogenannten Zickenplatz in Kreuzberg, protestierten in den 70er und 80er Jahren Hunderttausende. Jürgen Henschel macht die Fotos, sein Kollege Ruprecht Frieling schreibt die Texte - gemeinsam für die Tageszeitung "Die Wahrheit", die Parteizeitung der SED in Westberlin.
Ruprecht Frieling, Journalist
"Hier kamen hunderttausend, zweihunderttausend Menschen zusammen, die vor allen Dingen den 1. Mai feierten. Und mittendrin stand ein wunderbarer, kleiner Herr auf einer Leiter mit zwei Kameras umgehängt, einer 6 mal 6 und einer Kleinbildkamera und fotografierte den Aufstand der Massen, den Widerstand."
Jürgen Henschel ist Jahrgang 1923. Er lernt Melker und geht 1942, mit 19, in den Krieg. Er kommt in russische Gefangenschaft, die ihn prägt. Als Pazifist und Antifaschist kommt er nach Berlin zurück.
Ruprecht Frieling, Journalist
"Er war eigentlich ein ganz stiller, überzeugter Mann, der aber nie über seine politische Überzeugung gesprochen hat, sondern die war für ihn selbstverständlich. Er war einfach nur, fühlte sich als Arbeiter, als Arbeiterfotograf und wollte einfach nur dokumentieren, das Leben in West-Berlin von der Seite aus, wo es also kritische Geschichten gab."
Zum 100. Geburtstag von Jürgen Henschel, der mit der BVG zu seinen Einsätzen fuhr, zeigt das Museum Schöneberg nun 100 seiner Bilder. Bei der Recherche über den "Mann auf der Leiter", sprach Kuratorin Johanna Muschelknautz auch mit Ruprecht Frieling. Für die Ausstellung hat sie 23.000 Negative gesichtet. Hilfreich dabei, Jürgen Henschel hat all seine Negativbögen beschriftet und katalogisiert. Dabei hat Johanna Muschelknautz neue Seiten des Fotografen entdeckt.
Johanna Muschelknautz, Kuratorin Museum Schöneberg
"Dass er in den 50er-Jahren schon fotografiert hat und zwar ganz, ganz viel Parteiarbeit fotografiert hat, das wusste ich tatsächlich nicht. Das sind auch zwei meiner Lieblingsfotos: zu sehen ist der internationale Frauentag in der Kreisleitung Schöneberg, 1958, 8. Mai. Und mir gefällt zum einen diese junge Frau hier vorne und mir gefällt diese merkwürdige Situation mit diesen Männern, die da im Hintergrund sitzen."
"Es wirkt für mich extrem weit weg. Also gerade diese 50er-Jahre Fotografie, das ist tatsächlich so ein ganz ganz anderes Zeitalter. Das ist auch ein tolles Foto, weil, es zeigt die Baustelle am Innsbrucker Platz, also den Tunnelbau für die Stadtautobahn. Mich fasziniert, wie dieser kleine Mann in dieser Riesenbaustelle sich da bewegt und ich finde, dass dieser Vordergrund fast was von einem Gemälde hat, also mit diesen Spuren. Das ist ein sehr schönes Bild."
"Ich finde es manchmal fast ein bisschen erschreckend, wie viele dieser Themen immer noch virulent sind, also wenn er dokumentiert: Kitakrise, wenn er Streiks zeigt für bestimmte soziale Belange. Die Ausstellung endet ja mit dem Foto zum Ladenschluss 18.30 Uhr und da können wir heute eigentlich nur noch drüber lachen. Ja, also es gibt ganz, ganz viele gesellschaftliche Themen, die eigentlich immer noch nicht wirklich befriedigend gelöst sind."
1989 geht Jürgen Henschel in Rente, kurz vorm Mauerfall und kurz bevor die Zeitung "Die Wahrheit" eingestellt wird.
Ruprecht Frieling, Journalist
"Es war eine Zeit der Illusion und der Träume und insofern war es einfach wundervoll, wenn man sich mit tausenden Menschen über die Straßen bewegte, weil man ja den Eindruck hatte, dass alle so denken, und dass die ganze Gesellschaft so ist. Dass da hunderttausende auch noch in ihren Wohnungen hockten und anderer Auffassung waren, das war uns nicht so bewusst. Man hat sich also im Rausch der Ereignisse mitreißen lassen."
Autorin: Vera Drude