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Man kann diese Ausstellung, wenn man es weiß, schon vor der Akademie der Künste beginnen lassen. Fotograf Michael Ruetz hat auch hier über Jahrzehnte Fotos gemacht, immer wieder vom selben Standpunkt mit dem Blick auf das Brandenburger Tor – und die Veränderung an Berlins erster Adresse festgehalten.
Michael Ruetz, Fotograf
"Hier sieht man noch nicht diese Menschenmassen, diese Touristenmassen - die gute Stube ist eine wenig gute Stube geworden. Das hier war auch nicht gerade gute Stube – das war eben Niemandsland. Das war gespenstisch."
"Ich will die Zeit sichtbar machen. Die Zeit ist nicht sichtbar, nicht fühlbar und nicht schmeckbar. Wir haben keine Zeit, vielmehr hat die Zeit uns. Die Zeit ist ein übermächtiges Fluidum, das uns alle umgibt, das immer omnipräsent ist, das vor uns da war, das uns alle überlebt. Die Zeit ist möglicherweise nur ein anderes Wort für Gott."
"Du setzt Dich da hin, ich bleibe aus dem Bild bei dem Interview, das ist Dein Interview."
"Nicht ohne meine Assistentin" hat Michael Ruetz gesagt. Die "Timescapes", übersetzen wir es mal mit "Zeitlandschaften", sind sein Großprojekt über Jahrzehnte. 600 Standpunkte, die meisten in Berlin – von dort immer wieder fotografiert.
Astrid Köppe, Assistentin
"Ich finde besonders bemerkenswert diese Ausdauer, diese Persistenz und auch diese Sturheit, die damit verbunden ist. Denn ich finde, dass Sturheit und Dranbleiben ganz wichtige Charakteristika von Künstlern sind, tatsächlich."
Ein Projekt über den Wandel, das im stets sich wandelnden Berlin akribisch protokolliert werden muss. Wenn Astrid Köppe hier nicht mit ordnender Hand gewaltet hätte, gäbe es dieses Projekt so nicht. Beispiel Potsdamer Platz:
"Das war die 25. Platte, Richtung Stresemann, vier Platten und da ist dann der Standort."
- "Micha, ich glaube, es ist hier."
Michael Ruetz, Fotograf
"In Berlin habe ich dann die meisten dieser Bilder gemacht, um zu zeigen, welch ein gewaltiger Sturm der Veränderung über Berlin hinweg gegangen ist. Das ist mein Hauptwerk, danach werde ich nicht mehr sehr viel Großes zustande bringen. Ich bin jetzt 84!"
Wie alles begann. Das erste Foto für diese Reihe macht Michael Ruetz 1966 auf dem Gendarmenmarkt – der deutsche Dom ist da noch eine Ruine.
Michael Ruetz, Fotograf
"Der gesamte Marktplatz war überwachsen mit diesem mannshohen gelben Gras. Ich konnte mir nicht vorstellen, dass das ewig so bleiben kann. Auch Ost-Berlin entwickelte sich. Ich bin also nach 30 Jahren wieder hingegangen und da war dieser Plattenbau entstanden."
"Dies hier ist das schockierendste Timescape von allen. Hier tat sich eine Idylle gleich nach dem Mauerfall auf, ein junger Künstler namens P. Art Fuchs gründete dort eine Republik und hatte noch ein paar Gänse angestellt, wenn jemand sich näherte. Sie sehen, wie brutal die Metamorphose hier weitergeht. Das ist ja noch die Idylle aber dann kommt die Zerstörung und Vernichtung und hier sieht man: es ist eine gänzlich andere Stadtlandschaft entstanden."
"Es wird hier einfach mit großer Rücksichtslosigkeit gebaut. Und wir sind machtlos, wir Einwohner. Wir Berliner werden gar nicht mehr gefragt."
Wie sich Stadt, Land und Gesellschaft verändern ist immer das große Thema von Michael Ruetz gewesen. Er hat für die großen Magazine von Stern bis Life fotografiert – bekannt geworden ist er durch seine Bilder der Studentenbewegung in den späten 60ern.
Michael Ruetz, Fotograf
"Warum ich diese Bilder machen konnte war, weil ich ein positives inneres Verhältnis zu diesen hatte. Das war meine Generation und meine Freunde."
"Das ist Rudi Dutschke als Menschenfresser. Der ist eigentlich ein friedlicher Mensch aber dann ergab sich das so, weil ein Scheinwerfer hinter seinem Kopf diese Aura bildete, diesen Heiligenschein."
Und er hat Zugang zu einem der ganz großen der Kunst – Joseph Beuys. Ruetz kann den Provokateur auch in sich ruhend zeigen.
Michael Ruetz, Fotograf
"Niemand hat ihn so gezeigt, niemand hat ihn von Nahem so gesehen. Das hat die anderen ärgerlich gemacht, weil sie sagten, wir haben ihn doch bei seinen wilden Aktionen auf der Bühne aufgenommen, das ist doch viel wichtiger. Eigentlich finde ich das hier genauso wichtig, er ist ja auch ne Privatperson, er ist ja auch n Mensch und n Freund."
Die Zeit hat keinen Beginn und kein Ende – die Timescapes zeigen das Investorenparadies Berlin und ein verträumtes Stück stillgelegter Autobahn.
Michael Ruetz, Fotograf
"Ich fand das so faszinierend, wie die Natur sich die Autobahn, die Technik zurücknimmt."
Michael Ruetz hat die Arbeit an den Timescapes für sich nun beendet – aber alle Daten liegen vor. Vielleicht setzt jemand anders seine Arbeit fort?
Michael Ruetz, Fotograf
"Was damit passiert, da kann ich so viele Wünsche haben, wie ich will aber es geht mich nichts mehr an. Deswegen stirbt man ja. damit einem endlich alles egal ist."
Autor: Steffen Prell