3D-Grafik der Schilddrüse mit vier Nebenschilddrüsen (Bild: imago/agefotostock)
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Interview l Standardmedikament vom Markt genommen - Therapieanpassung: Nebenschilddrüsen in Not

Klein, aber wichtig: Nebenschilddrüsen regeln vor allem unseren Kalziumspiegel. Sind sie geschädigt, stört das u.a. Knochenstoffwechsel und Muskelsteuerung. Ein verbreitetes Medikament zur Therapie der Nebenschilddrüsenunterfunktion, Dihydrotachysterol, ist nun vom Markt genommen. Was (noch) Nutzende wissen sollten, wie man Not der Nebenschilddrüsen bemerkt und jetzt behandelt, haben wir den Endokrinologen Prof. Dr. Stephan Petersenn gefragt.

Die vier linsengroßen Nebenschilddrüsen, die an unserer Schilddrüse außen aufsitzen, regeln über das "Parathormon" vor allem den Level des Kalziums in unserem Körper. Eine extrem wichtige Funktion für viele Zellstoffwechselprozesse und auch starke und gesunde Knochen. Doch Kalzium ist nicht nur für Knochen, sondern auch Muskeln wichtig, denn es wird auch zur Signalübertragung zwischen Gehirn und Muskeln gebraucht. Zu wenig Kalzium im Blut kann außerdem Muskelkrämpfe auslösen.

Herr Prof. Petersenn, wenn unsere Nebenschilddrüsen beschädigt oder erkrankt sind, werden sie weniger leistungsfähig. Die Folge ist eine Unterfunktion, Hypoparathyreoidismus. Was bedeutet das für Betroffene? Und was sind die häufigsten Ursachen?
 
Die Nebenschilddrüsen sind ja kleine Drüsen, die quasi an der Schilddrüsenkapsel aufsitzen - je zwei an einer Seite. Und die sind dafür verantwortlich, dass der Kalziumspiegel im Blut schön stabil bleibt. Der konstante Kalziumspiegel ist sehr wichtig, um Zellfunktionen immer normal ablaufen zu lassen. Die Unterfunktion der Nebenschilddrüsen kommt meist durch eine vorhergegangene Operation der Schilddrüse zu stande. Wesentlich seltener, aber auch möglich, ist die Schädigung durch das eigene Immunsystem.
 
Wenn jetzt die Nebenschilddrüsen verletzt sind, dann wird dieses Hormon aus der Nebenschilddrüse, das sogenannte Parathormon, nicht ausreichend gebildet. Damit fällt der Kalziumspiegel ab. Außerdem kommt es dann häufig auch zu einem Anstieg des Phosphatspiegels.
 
Dieser niedrige Kalziumspiegel führt nun dazu, dass das Nervensystem quasi übererregt ist. Das typische Symptom bei Patienten ist, dass sie zunächst mal über Kribbeln in den Händen klagen. Dass die Muskulatur sich teilweise verkrampft, dass sie Zuckungen in der Wangenmuskulatur verspüren. Das sind alles Zeichen, dass der Kalziumspiegel in der Tat zu niedrig ist.

Das kann man sicher auch recht schnell über die Blutwerte diagnostizieren, oder? Zumindest wenn man auf die Idee kommt, sie checken zu lassen.
 
Genau, deshalb ist es auch Standard, dass man nach einer Operation der Schilddrüse den Kalziumspiegel einmal prüft, um festzustellen, ob es vielleicht zu einer solchen Schädigung der Nebenschilddrüsen gekommen ist.
 
Das sollte eigentlich bei einem erfahrenen Chirurgen bei weniger als einem von 100 Patienten passieren. Aber es passiert eben und das besonders bei Patienten, die vielleicht sehr große Knoten in der Schilddrüse haben oder bei bösartigen Tumoren oder erheblichem Lymphknotenbefall. In diesen Situationen kann es dazu kommen, dass bei der Operation die Nebenschilddrüsen geschädigt werden.

Nur um ein Gefühl für die Verhältnisse zu bekommen: Die Unterfunktion der Schilddrüse ist ja recht häufig in Deutschland. Statistiken schwanken zwar, aber legen nahe, dass allein rund zehn Prozent der Bevölkerung an der Autoimmunerkrankung Hashimoto-Thyreoiditis leiden, die zur Schilddrüsenunterfunktion führt. Das sind bis zu acht Millionen Menschen. Wie häufig ist die Unterfunktion der Nebenschilddrüse?
 
Naja, zur Unterfunktion der Nebenschilddrüse gibt es in Deutschland gar nicht so gute Zahlen. Aber international, z.B. in den USA und auch in Dänemark gibt es ganz gute Registerdaten. Da geht man von einer Häufigkeit von etwa 20 Personen auf 100.000 Personen aus, das ist die sogenannte Prävalenz. Und beim autoimmun bedingten Ausfall der Nebenschilddrüsen wäre das noch mal deutlich seltener. Man schätzt da zwischen ein bis fünf Personen auf 100.000 Personen.

Wie würde denn das Ärzteteam nach einer OP die Schädigung der Nebenschilddrüsen erkennen und behandeln?
 
Die Patienten werden über das Risiko schon informiert, wenn sie an der Schilddrüse operiert werden. Das ist ja, wie gesagt, eine häufige Ursache und dann wird auch besonders aufmerksam auf die Symptome geachtet, die dann auftreten können. Das sind Symptome, die relativ rasch - am nächsten Tag schon - deutlich werden. Man würde jedenfalls erst mal den Kalziumwert messen und auch das Hormon aus der Nebenschilddrüse, ob das entsprechend niedrig ist.
 
Dann würde man mit Kalzium substituieren, also dem Kalziummangel entgegenwirken. Und dann muss man den Verlauf beobachten, denn sehr häufig ist das vorübergehender Natur: 90 Prozent der Patienten erholen sich innerhalb von sechs Monaten, weil die Nebenschilddrüsen bei der Operation nur vorübergehend geschädigt wurden, z.B. weil mechanisch die Durchblutung vorübergehend gestört war. Binnen sechs bis zwölf Monaten kann man oft feststellen, dass sich die Funktion normalisiert.
Bei rund zehn Prozent oder etwas weniger der Patienten wird das aber leider bestehen bleiben.
Wenn man jetzt das Gefühl hat, dass es nach wenigen Tagen immer problematischer wird, dann kommt der nächste Schritt: dass man zur Kalziumzugabe hochdosiert mit Vitamin D substituiert, um die Funktion der Nebenschilddrüsen zu ersetzen.

Das ist auch weiter die klassische Therapie bei der Nebenschilddrüsenunterfunktion - Kalzium- und Vitamin D-Gabe?
 
Genau, das ist die klassische Therapie. Es ist etwas ungewöhnlich in der Endokrinologie, denn eigentlich sind wir in der glücklichen Situation, dass wir bei Krankheiten der Hormondrüsen oder deren Ausfall inzwischen das Hormon selber ersetzen können. Fast alle Hormone sind quasi als Medikament verfügbar.
 
Nur beim Hypoparathyreoidismus gab es bis vor wenigen Jahren noch die Situation, dass wir eben nicht das Parathormon selber ersetzen konnten, sondern uns helfen mussten, indem wir hochdosiert Vitamin D geben. Das hat gewisse Nachteile, weil das Parathormon, das ist ja, wie gesagt, dafür notwendig, dass das Kalzium entsprechend angepasst wird - es wird erhöht, wenn der Körper merkt, das der Kalziumspiegel sinkt. Der Körper würde also über das Parathormon Kalzium aus dem Knochenspeicher herausholen und so den Spiegel wieder anheben. Gleichzeitig senkt das Hormon das Phosphat über eine vermehrte Ausscheidung in der Niere.
 
Das hochdosierte Vitamin D macht das in gewisser Weise auch, dass es das Kalzium erhöht. Das funktioniert so ganz gut, hat aber den Nachteil, dass es den Phosphatwert auch erhöht. Und das macht dann teilweise die Schwierigkeiten dieser Ersatztherapie aus.
 
Es gibt inzwischen einen gewissen Fortschritt, weil es dieses Parathormon tatsächlich jetzt auch als Medikament gibt. Es wurde in den letzten Jahren zugelassen, aber zunächst mal nur für Patienten, die eben mit der klassischen Therapie [über Gabe von Kalzium und Vitamin D] nicht gut einstellbar sind.

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Nun ist vor wenigen Wochen, im Juli 2021, ein sehr weit verbreitetes Medikament der klassischen Behandlung vom Markt genommen worden: das Vitamin D-Derivat Dihydrotachysterol (Handelsname AT10® oder Tachystin®).
Besonders Menschen, die schon länger von Nebenschilddrüsenunterfunktion betroffen sind, nutzen das als Kalziumregulator. Die kommen ja jetzt in die Situation, dass sie so langsam mal wieder ein Rezept einlösen wollen, aber es gibt das Medikament nicht mehr. Was sollten diese Menschen jetzt tun?

 
Ja, das ist in der Tat eine unglückliche Situation, dass das nicht besser kommuniziert wurde, auch weil es ja in letzter Zeit häufiger vorkommt, dass Medikamente aus anderen Gründen teilweise nicht verfügbar sind. Und gerade bei so einem Medikament - da sind Menschen häufig lebenslang eingestellt, denn es ist ja nur sehr selten zu beobachten, dass die Nebenschilddrüsen sich wieder erholen [wenn das nicht in den ersten Monaten nach der Schädigung passiert ist].
 
Die Patienten sind am Anfang natürlich häufig beim Endokrinologen gewesen, um die Dosierung erstmal richtig einzuspielen, aber dann sehen wir als Endokrinologen sie seltener und viele Patienten bekommen langfristig ihre Präparate weiter bei ihrem Hausarzt.
 
Da gibt es keine Mitteilung oder einen Brandbrief [vom Hersteller]. Und so passiert genau das jetzt, dass Patienten vielleicht plötzlich feststellen, wenn sie ihr Rezept wollen: Das ist nicht mehr verfügbar. Wir spüren das täglich und bekommen Anfragen von Patienten: "Wie sollen wir jetzt vorgehen?”
 
Wichtig ist, dass Patienten, die davon erfahren, nicht abwarten, bis ihre Vorräte erschöpft sind, sondern jetzt den Kontakt zu einem Endokrinologen suchen. Wir sehen auch, dass die Hausärzte das häufig nicht so gerne machen wollen - die Neueinstellung mit neuen Präparaten. Und es braucht in der Tat eine gewisse Erfahrung, wie man die Umstellung vornimmt. Von daher ist es wünschenswert, dass die Patienten frühzeitig den Kontakt suchen, weil das sonst auch kaum zu bewältigen ist, wenn alle Betroffenen in Deutschland gleichzeitig das Problem bemerken.

Hintergrund

Nebenschildddrüse: Welche Rolle spielt Vitamin D?

Eine wichtige Rolle, auch in der Therapie, spielt Vitamin D: Es fördert die Aufnahme von Kalzium und Phosphat aus dem Dünndarm. Bei Menschen mit Nebenschilddrüsenerkrankung wird es deshalb oft dazu eingesetzt, den Kalziumspiegel zu erhöhen - zusammen mit einer direkten Kalziumgabe.

 

Nachteil: Im Gegensatz zum echten Hormon wird bei dieser Therapie nicht der Phosphatlevel reguliert. Das Parathormon würde die Nieren zum vermehrten Abbau von Phosphat animieren - Vitamin D bringt es eher verstärkt in Umlauf. Es kommt einerseits zu einer Art Rückopplung: Zu viel Phosphat kann die Vitamin D-Produktion des Körpers beeinträchtigen. Und: Überschüssiges Phosphat kann sich zudem mit Kalzium verbinden und im Körper ablagern - eine typische Folge sind Nierensteine, aber auch der Graue Star wird begünstigt, wenn die Ablagerungen am bzw. im Auge stattfinden.

Mit welchen Präparaten würde man denn die Neueinstellungen machen? Haben die sich im Vergleich zu dem jetzt "weggefallenen" Vitamin D-Derivat verändert?
 
Ja, das weggefallene Präparat hatte bereits an Bedeutung verloren. Es war lange Zeit bevorzugt, weil es deutlich preisgünstiger war, als die alternativen aktiven Vitamin-D-Präparate, die man auch nutzen kann. Die alte Variante war quasi ein synthetisches Vitamin D-Analog. Jetzt sind die neueren aktiven Vitamin D-Substanzen, die dem körpereigenen Vitamin D entsprechen, auch deutlich günstiger geworden, sodass der Preisunterschied eigentlich nicht mehr ins Gewicht fällt.
 
Ein Vorteil bei den synthetischen Präparaten war noch die lange Halbwertszeit [Wirkung lässt sehr langsam nach]. Also wenn der Patient mal eine Kapsel vergisst oder die Tropfen, kommt es nicht gleich zum Abfall des Kalziumspiegels.
Aber es hat dadurch auch den Nachteil: Wenn zum Beispiel die Nierenfunktion mit steigendem Lebensalter eingeschränkter ist, dass dann die Spiegel im Blut ansteigen und dann beobachten wir gelegentlich, dass die Patienten mit zu hohem Kalziumspiegel kommen.
Deswegen bevorzuge ich auch die neueren Substanzen. Das heißt: Der Patient muss schon täglich wirklich darauf achten, diese einzunehmen. Aber es gibt bei Nierenfunktionsstörungen oder in ähnlichen Situationen keine Probleme. Man kann dann sehr rasch die Dosis anpassen.

Wie macht man den Umstieg konkret?
 
Wir von der DGE haben vorgeschlagen, dass man Kontakt zu seinem Endokrinoklogen aufnimmt, vor dem Termin dann eine Woche mit dem alten Medikament pausiert und dann Kalziumspiegel, das Phosphat und die Nierenwerte kontrolliert. Das würde man dann die folgenden Wochen so zweimal die Woche fortführen, um den besten Zeitpunkt abzupassen, wenn man merkt: Der Kalziumspiegel fängt an zu fallen.
 
Dann würde man mit einer niedrigen Dosierung der neueren Präparate wieder beginnen zu ergänzen. Ich habe gerade heute eine Patientin gehabt, die war relativ hochdosiert mit dem alten Präparat eingestellt - da dauert es natürlich entsprechend länger. Sie hatte das tatsächlich drei Wochen abgesetzt, auch weil sie so rasch keinen Termin fand. Aber wegen der hohen Dosierung zuvor hatte sie keine Symptome gespürt. Also wenn man natürlich vorher eine relativ hohe Dosis eingenommen hat, dann dauert es länger, bis man negative Effekte merkt, wie z.B. Empfindungsstörungen in den Fingern.

Nun könnte man ja heute schon das fehlende oder mangelhafte Parathormon bei Patientinnen und Patienten direkt ersetzen. Wie sehen Sie die Entwicklung? Wird das mal der Standard?
 
Naja, man würde sich wünschen, dass das breiter eingesetzt werden könnte. Es hat aber den Nachteil, dass es sehr teuer ist. Und es muss auch täglich subkutan verabreicht, also ins Gewebe gespritzt werden. Der Aufwand und die Kosten sind dementsprechend hoch.
 
Dafür hat das Parathormon den Vorteil, dass es eben nicht nur zu einer Erhöhung des Kalziums kommt, sondern auch zur Absenkung des Phosphatwertes. Beim Vitamin D ist letzteres nicht der Fall und wenn dann Kalzium und Phosphat zusammentreffen, können sie kristallisieren und bilden Kalziumphosphat - wenn das in der Niere stattfindet, kommt es zum Beispiel zu Nierensteinen oder Verkalkungen der Niere.
So ähnlich kann es im Auge zu Verkalkungen in der Augenlinsen kommen, dem Katarakt oder Grauen Star. Es gibt auch Beobachtungen, dass es zu Verkalkungen in bestimmten Abschnitten des Gehirns kommen kann, die neurologische Auswirkungen haben können.
 
Das klingt jetzt alles relativ einschneidend - man sieht das zum Glück nicht so häufig bei der Behandlung mit Vitamin D und es betrifft vor allem Patienten, bei denen der Kalziumspiegel zu stark durch Vitamin D- und Kalziumgabe angehoben wird. Das ist etwas, was wir augenblicklich auch lernen mit größeren Registerstudien.
 
Ich denke, dass man in den nächsten Jahren sehen wird, dass sich Parathormon als Therapie bewährt und man kann natürlich auch hoffen, dass die Kosten im Verlauf mit weiterem Einsatz fallen werden. Dann wäre es schon das Ziel, dass man mehr Patienten damit wirklich einstellen und manche Komplikationen beim Weg über Vitamin D vermeiden kann.

Sie haben ja aus Ihrer Erfahrung mit Patientinnen und Patienten auch erzählt, dass die vom Markt Nahme von Dihydrotachysterol für Verwirrung sorgt, gerade weil die Betroffenen ja so ein Mittel jahrelang begleitet. Es geht ja um eine lebenslange Therapie bei der Nebenschilddrüsenunterfunktion.
Gibt es etwas, was man aus der Situation lernen kann? Was würden Sie sich wünschen?

 
Naja, es ist vielleicht so ein Paradebeispiel für die ärztliche Beratung [man geht eine kurze Zeit zu Fachärzten, stellt alles ein und dann läuft das bei Hausärztin oder Hausarzt einfach Jahre weiter, solange es keine Beschwerden gibt.] Ich glaube, es wäre wirklich wünschenswert, dass die Patienten vielleicht einmal pro Jahr auch beim Endokrinologen vorstellig werden. Weil es eben doch bestimmte ergänzende Untersuchungen gibt, die der Hausarzt vielleicht nicht so vor Augen hat. Dass man mal die Nieren im Ultraschall anguckt z.B. - gibt es Hinweise für Steine oder Verkalkungen? Dass man an den Grauen Star denkt. Dass das Warnzeichen sind und es vielleicht einer Umstellung bedarf.
 
Wenn solche Folgekomplikationen sichtbar werden, haben Patienten ja auch schon jetzt die Möglichkeit, vielleicht kombiniert mit Parathormon behandelt zu werden.
 
Ich fürchte manchmal ein bisschen, dass solche Komplikationen nicht immer mit der Erkrankung in Verbindung gebracht werden. Und das wäre vielleicht ein guter Punkt, dass auch bei langer Therapie ein Endokrinologe involviert ist und man das mitdenkt.

Herr Prof. Dr. Petersenn, vielen Dank für das Gespräch!
Das Interview führte Lucia Hennerici

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