Verwirrtheit nach OP: Delir - "Die großen Gefahren des Delirs: Demenz und Pflegebedürftigkeit"
Immer mehr ältere Menschen werden operiert. Jeder Eingriff bedeutet ein Risiko - für Verwirrtheit, auch Delir genannt. Die Folgen können gravierend sein: Betroffene haben Schwierigkeiten, in den Alltag zurückzukehren, werden öfter pflegebedürftig und müssen ins Heim. Wie können postoperative Delirs verhindert werden? Die rbb Praxis hat nachgefragt.
Kanne, Filter, Kaffee – sorgfältig hat Maria Sinnig* (Name von der Redaktion verändert) alles für ihren Morgenkaffee vorbereitet. Langsam gießt sie das kochende Wasser auf. Im Wohnzimmer schüttelt Pflegerin Stenia Kowalczyk aus Bydgosz die Kissen auf, vor vier Wochen ist die Polin zu Maria Sinnig gezogen. Im Herbst 2019 tanzte die lebenslustige alte Dame noch auf der silbernen Hochzeit ihrer Tochter, drei Tage später stürzte sie.
Schulterbruch, die Ärzte flickten das Gelenk in einer mehrstündigen OP. Wenige Tage später lag Sinnig erneut in Narkose auf dem OP-Tisch: Die Neurochirurgen mussten eine Art Fenster in die Schädeldecke schneiden, weil beim Sturz ein Gefäß geplatzt war und der Bluterguss auf das Gehirn drückte.
Von dem Klinikaufenthalt hat Sinnig sich bis heute nicht erholt: Sie vergisst viel, erzählt wieder und wieder das Gleiche, lebt in ihrer eigenen Welt. Alleine wohnen – undenkbar. Die beiden Töchter haben einen Plan aufgestellt, wer wann bei der Mutter sein kann. Und sie haben Stenia Kowalczyk ins Haus geholt, damit ihre Mutter nicht ins Heim muss.
Das Delir-Risiko lässt sich mindern
Maria Sinnig ist kein Einzelfall. Experten zufolge entwickeln bis zu einem Drittel der Patienten nach einem operativen Eingriff massive Einschränkungen der Hirnleistung. Betroffen sind vor allem ältere ab 65 Jahre: Nach der OP sind sie verwirrt, haben Halluzinationen, Schwierigkeiten, sich in Raum und Zeit zu orientieren, schlafen am Tag und liegen nachts wach. Meist tritt das sogenannte postoperative Delir in den ersten sieben Tagen nach einem chirurgischen Eingriff auf, kann aber noch Monate nach der Narkose mit kognitiven Einschränkungen verbunden sein.
Dazu müsste es nicht kommen: Modellprojekte zeigen, dass sich durch verschiedene Maßnahmen vor, während und nach der OP das Auftreten der postoperativen Verwirrtheit vermindern lässt - um bis zu 50 Prozent. Indem geschultes Personal die Patienten vor der OP auf Risikofaktoren untersucht, die Patienten passende Medikamente und Orientierungshilfen bekommen und sich bald nach dem Eingriff wieder bewegen.
Was ist ein Delir?
Wörtlich übersetzt bedeutet Delir "aus der Spur geraten". "Beim Delir liegt eine Konnektivitätsstörung des Gehirns vor, die verschiedenen Hirnbereiche ‚kommunizieren’ nicht mehr richtig miteinander", erklärt Claudia Spies, Chefärztin der Anästhesiologie der Charité Berlin.
Bei rund 12 Millionen operativen Eingriffen jährlich erleidet bis zu jeder dritte Patient ein Delir, von über 65-Jährigen sogar jeder Zweite. Derzeit werten deutsche und niederländische Experten die Daten einer europäischen Studie aus, für die mehr als 1.000 Patienten befragt wurden: biocog.eu ist ein europäisches Projekt und untersucht, wie eingeschränkte kognitive Fähigkeiten entstehen.
Vor der OP: Diese Faktoren erhöhen das Risiko
Blutarmut, Stress, Gebrechlichkeit, Vorerkrankungen, aber auch begleitende Medikamente - schon vor einem operativen Eingriff ist klar: Verschiedene Faktoren erhöhen die Gefahr, ein Delir zu entwickeln.
Bei Maria Sinnig kam ein weiterer Risikofaktor hinzu: Die alte Dame war bereits vor dem Eingriff nicht hundertprozentig geistig fit, vergaß Termine und Verabredungen. Experten sprechen von neurokognitiven Störungen. "Auch das biologische Alter und Infektionen, oft Harnwegsinfektionen, erhöhen das Risiko für ein postoperatives Delir", sagt Spies.
Delir bedroht Selbstständigkeit
Je länger das Delir anhält, so die Anästhesistin, desto größer sei auch die Gefahr, dass Hirnzellen absterben und Hirnschäden dauerhaft sind. "Die großen Gefahren des Delirs sind neurokognitive Störungen, das kann sogar im Bereich einer Demenz liegen, und Pflegebedürftigkeit, aber auch Depressionen und Angststörungen", so Anästhesistin Claudia Spies.
Wer nach Hause entlassen wird, kann oft nicht mehr alleine leben, verliert seine Selbstständigkeit, muss in ein Pflegeheim oder eine Wohngemeinschaft umziehen. Patienten mit einem postoperativen Delir haben zudem ein dreifach höheres Risiko, in den Monaten nach Entlassung zu sterben.
Screening vor dem Eingriff
Zunehmend nutzen Experten Maßnahmen vor, während und nach dem Eingriff, um die Delir-Rate zu senken. So macht es schon vor der OP Sinn, die Patienten zu "screenen": Wer hat eine Blutarmut und sollte zunächst mit Eisen oder bei Nierenerkrankung auch mit Erythropoetin aufgepäppelt werden? Wer hat bereits neurokognitive Störungen und muss während der Narkose besonders intensiv überwacht werden?
Weil vor allem ältere Menschen für ein Delir gefährdet sind, werden sie in der Anästhesieambulanz der Charité besonders streng untersucht. Bei Patienten mit Risikofaktoren für ein Delir kommen bestimmte Medikamente gar nicht zum Einsatz. Andere Medikamente bedürfen einer strengeren Indikation. Opioide beispielsweise, stärkste Scherzmittel, sollten nur so viel gegeben werden, wie es notwendig ist, um den Schmerz zu unterdrücken.
Während der OP: Mehr Präzision bei Risikopatienten
Während des Eingriffs überwachen die Anästhesisten gefährdete Patienten besonders sorgfältig. Bei ihnen darf die Narkose weder zu flach noch zu tief sein. Um das zu verhindern, misst der Narkosearzt per EEG kontinuierlich die Hirnströme.
In einer Untersuchung der Charité mit 1.155 Patienten, die 60 Jahre und älter waren, konnte die Delir-Rate mit Hilfe einer Elektroenzephalografie (EEG) um knapp 23 Prozent gesenkt werden. "Das Neuromonitoring per EEG erlaubt uns, die Narkosetiefe präziser durchzuführen", sagt Spies. "Das macht es einfacher für uns, Veränderungen beim Patienten zu erkennen und darauf zu reagieren."
Verbesserte Pflege
Eine Präventionsstudie belegt: Drei Viertel der Delirien lassen sich durch einfache pflegerische Interventionen vermeiden. An der Charité haben Fachleute zwei Intensiv-Doppelzimmer eingerichtet, damit deren Bewohner seltener ins Delir rutschen: indem spezielle Lampen Tageslicht imitieren und den Tag-Nacht-Rhythmus der Patienten verbessern, indem zu laute Geräusche unterdrückt werden, das lästige nächtliche Piepsen der Monitore im Zimmer verschwindet und medizinische Geräte optisch in den Hintergrund rücken. Die neuen Intensivzimmer senkten die Delirien-Rate um knapp die Hälfte; die Patienten brauchten insgesamt weniger Medikamente.
Delir-Demenz-Management
Nicht immer sind solche umfangreichen Umbauten adhoc möglich. Oft reicht es schon, wenn es einen festen Ansprechpartner für die Patienten gibt - oder zumindest speziell ausgebildetes Personal. In zahlreichen Kliniken bundesweit unterstützen sogenannte Delir-Pfleger und -Pflegerinnen die Arbeit des Stationspersonals. Die Altenpfleger mit langjähriger gerontopsychiatrischer Erfahrung sind ähnlich wie eine Schmerz-, Wund- oder Diabetesschwester besonders geschult, um Verwirrtheitszustände zu verhindern oder zumindest zu minimieren.
Wesentliches Hilfsmittel: Zuwendung, Fürsorge und Reizabschirmung. Delir-Pfleger achten auf möglichst seltene Zimmer- und Pflegewechsel. Veranlassen, dass eine Uhr, ein Kalender oder ein vertrautes Foto Orientierung geben. Sorgen dafür, dass Patienten ihre Brillen oder Hörgeräte nutzen und dass sie regelmäßig essen und trinken. Sie helfen auch beim Einüben von Bewegungsabläufen, die im Krankenhausalltag leicht verloren gehen. Je schneller die Patienten nach einer OP wieder mobil sind, desto seltener entwickeln sie ein Delir.
Delirprävention braucht neue Strukturen
Doch diese Fürsorge ist personalintensiv. "Wir müssen Strukturen entwickeln, die uns die Delirprävention ermöglichen und die die Selbstheilungsprozesse der Patienten anstoßen", sagt Claudia Spies. In Griechenland, wo es üblich ist, dass Patienten im Krankenhaus rund um die Uhr von ihren Angehörigen begleitet und betreut werden, sind Delirien weitaus seltener. Das zeigt einmal mehr: Vor allem intensive Betreuung vor, während und nach der Operation kann ein Delir verhindern oder zumindest seine Folgen abmildern.
Im Moment weiß niemand, ob das bei Maria Sinnig noch gelingen kann. Die alte Dame macht sich Kaffee, schon zum dritten Mal in dieser Stunde. Kaffee kochen, das kann sie - sich erinnern, was sie in den letzten Minuten getan hat, fällt ihr schwer. Ob die Fürsorge und Zuwendung ihrer Töchter und ihrer Pflegerin das ändern können, wird sich in den nächsten Wochen zeigen.
Ein Beitrag von Constanze Löffler