Studentin arbeitet spät in der Nacht an ihrem Schreibtisch (Quelle: imago/photothek)
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Interview | Seelische Gesundheit - 'Es ist gut, die eigenen Stressfallen zu kennen'

Deutschland ist im Dauerstress. Seit Jahren steigt die Anzahl der Krankschreibungen aufgrund psychischer Erkrankungen, obwohl die wöchentliche Arbeitszeit sinkt. Liegt das nur daran, dass psychische Leiden weniger stigmatisiert sind als früher oder sind wir wirklich gestresster? Was können wir als Gesellschaft und jeder für sich gegen den Stress tun? Und welche Rolle spielt die Großstadt dabei? Über diese Fragen hat rbb Praxis mit Mazda Adli gesprochen. Der Psychiater ist Chefarzt der Fliedner Klinik Berlin und Stressforscher an der Charité.

Herr Dr. Adli, wo man hinhört: Jeder scheint Stress zu haben. Für einige gehört er inzwischen fast zum guten Ton. Aber was ist eigentlich Stress?

Stress ist eine unspezifische Antwort des Körpers und der Psyche auf eine Anforderung, die man vor sich hat. Er ist per se weder positiv noch negativ.

Wann wird er denn zu etwas Negativem oder sogar gefährlich für die Gesundheit?

Je mehr wir das Gefühl haben, dieser Anforderung nicht aus eigener Kraft Herr werden zu können, die Situation nicht selbst in der Hand zu haben, wir uns also ausgeliefert fühlen. Gesundheitsrelevant ist in erster Linie chronischer, also anhaltender Stress – darunter verstehen wir eine Belastung ohne Aussicht auf Entlastung.

Sind die Deutschen heute gestresster als früher?

Wir sehen in der Tat eine Zunahme von psychischen Erkrankungen, die man als Stressfolge verstehen kann. Die massive Zunahme von "Burnout" als Grund für Krankschreibungen in den letzten 15 Jahren mag das reflektieren. Die bekannteste psychische Stressfolgeerkrankung ist aber die Depression. Die deutliche Zunahme dieser Diagnose in den letzten Jahren ist vor allem Folge einer besseren Erkennungsrate, zum Beispiel beim Hausarzt. Und Betroffene trauen sich heute viel mehr, über psychische Probleme zu sprechen. Wir sehen aber auch eine Tendenz, dass der Erkrankungsgipfel der Depression sich in Richtung jüngerer Altersgruppen bewegt. Über die Gründe kann man spekulieren: Chronischer Alltagsstress spielt immer früher im Leben eine Rolle. Es gibt auch eine Reihe neuer chronischer Stressoren, die es vor einer Generation noch gar nicht gab. Wir leben und arbeiten heute komplett durchdigitalisiert, auch über verschiedene Zeitzonen hinweg. Wir wohnen in Städten, die immer größer werden und bewegen uns einem System, das für den Einzelnen immer schwieriger zu durchschauen ist.

Wie meinen Sie das?

Die Welt ist vernetzter und dadurch komplexer geworden. Ursache und Wirkung sind nicht mehr so leicht zu benennen wie zu analogen Zeiten. Das löst Stress aus. Genauso, dass durch die Digitalisierung unseres Lebens die Grenze zwischen Arbeit und Privatleben verschwimmt.

Wie groß ist der Stress durch die Digitalisierung?

Das Ausmaß lässt sich nur schwer beziffern. Die Arbeitszeitgesetze sind in den letzten Jahren viel strenger geworden. Da wäre es ja logisch anzunehmen, dass nun klarer ist, wann Freizeit ist und wann gearbeitet wird. Aber das Gegenteil ist der Fall. Achtzig Prozent der Beschäftigten in Deutschland sind auch nach Feierabend noch für Kunden, Vorgesetzte oder Patienten erreichbar. Zwanzig Prozent gehen auch im Bett noch einer berufsbezogenen Tätigkeit nach, indem sie etwa ihre E-Mails checken. Weil diese Art von Stress mittlerweile in alle Lebensbereiche eingezogen ist, lässt er sich schwer messen.

Wie könnte man den Stress durch die Digitalisierung vermindern?

Die Digitalisierung wird aus unserem Leben nicht wieder verschwinden, das müssen wir akzeptieren. Was wir brauchen, ist eine Ethik des digitalisierten Lebens. Das fängt bei Kindern und Jugendlichen an, die Anleitung für einen guten Umgang mit dem Smartphone brauchen. Und es muss klar sein, wie Beschäftigte mit ihrem Smartphone umgehen sollen, wann sie reagieren müssen, wenn plötzlich eine E-Mail nach Feierabend kommt – und wann sie sie getrost ignorieren können. Das wird bisher niemandem beigebracht. Wir brauchen einen Kodex, der solche Situationen regelt.

Zum Beispiel: keine Mails mehr nach Feierabend?

Das muss nicht in jedem Fall die Lösung sein. Vor allem muss kommuniziert werden. Wenn es einmal aus einem bestimmten Grund wichtig ist, jemanden nach Feierabend zu erreichen, dann kann man das absprechen. Aber es sollte eben vorhersehbar und planbar sein. Sonst ist der Organismus ständig im Standby-Modus, immer in Alarmbereitschaft, und das führt zu chronischem Stress, der auch gesundheitsrelevant ist.

Welche körperlichen Folgen kann Stress haben?

Das können unspezifische Beschwerden wie Rückenschmerzen, Kopfschmerzen oder Verdauungsstörungen sein. Aber auch unser Herz-Kreislauf-System ist anfällig für chronischen Stress. Er kann zu Bluthochdruck führen und das Risiko für einen Herzinfarkt erhöhen. Langfristig erhöhte Stresshormonspiegel beeinträchtigen außerdem das Immunsystem und können zu vermehrten Infekten führen. Deshalb sollte man auf Frühwarnzeichen achten: innere Unruhe, Nervosität, Gereiztheit. Man lässt sich leichter ablenken, kann sich nicht konzentrieren oder schläft schlechter.

Wer ist besonders anfällig für Stress?

Perfektionisten zum Beispiel. Wer perfektionistisch ist, will alles sehr genau und gut machen. Das sind zwar Tugenden, die beliebt sind und für die man häufig gelobt wird. Aber sie können auch zur Stressfalle werden. Anfällig sind auch Menschen, die große Angst haben, sich unbeliebt zu machen. Sie können nicht gut "Nein" sagen und nehmen Aufgaben an ohne Rücksicht darauf, ob sie sie bewältigen können.

Bedeutet viel Arbeit immer auch viel Stress?

Nein. Es ist nicht die Menge von Arbeit, die uns krank macht, sondern die Umstände. Wenn unsere Arbeit anerkannt und honoriert wird, wenn wir sie als sinnvoll empfinden, dann verrichten wir sie gern. Man weiß aus Studien: Es ist nicht die Anzahl an Arbeitsstunden, die jemanden krank macht, sondern die Anzahl an schlecht verbrachten Arbeitsstunden.

Sie forschen zum Thema Stress und Großstadt. Sind Städter gestresster als Landbewohner?

Stadtbewohner haben ein höheres Risiko für Stressfolgeerkrankungen wie Depressionen, Angststörungen oder Schizophrenie. Wir vermuten, dass dahinter sozialer Stress steht. Das ist die Art von Stress, die aus dem Zusammenleben von Menschen auf begrenztem Raum resultieren kann. Er entsteht aus der Gleichzeitigkeit von sozialer Enge und sozialer Isolation: Zwar lebt man inmitten vieler Menschen, aber trotzdem fühlt man sich einsam.

Spielt auch eine Rolle, wo in der Stadt man wohnt?

Man weiß, dass Grünflächen einen positiven Effekt auf die Psyche haben. Aber auch die Architektur hat einen Einfluss. Eine gesunde Stadtplanung bietet den Bewohnern offene Bereiche, wo sich Menschen begegnen und miteinander interagieren können. Die Menschen müssen vor die Tür gehen wollen, zum Beispiel um Einkäufe zu erledigen oder Sport zu treiben. Diese Aspekte müssen zukünftig in der Stadtplanung viel mehr berücksichtigt werden. Bis 2050 werden zwei von drei Menschen in Städten wohnen. Es wird höchste Zeit zu verstehen, wie man dafür sorgen kann, dass Städte lebenswerte Orte sind.

Und was kann jeder Einzelne unabhängig davon gegen den Stress unternehmen?

Es ist gut, seine Stressfallen zu kennen. Dann kann man gezielt versuchen, sie zu entschärfen: etwa durch Entspannungs- oder Achtsamkeitsübungen. Man sollte sich jeden Tag fragen: Was kann ich heute dafür tun, damit es mir gut geht? Sich einmal diese Frage zu stellen hilft oft schon. Auch Sport und Bewegung tun der Seele gut, vor allem Ausdauersport. Dadurch werden Glückshormone ausgeschüttet und unsere Nervenzellen vernetzen sich besser. Wem all diese Methoden auf Dauer nicht helfen, der sollte sich professionelle Hilfe suchen.

Und was hilft Ihnen persönlich gegen Stress?

Vor allem das Singen. Ich habe den einzigen Psychiater-Chor der Welt gegründet, die "Singing Shrinks". Singen ist ein guter Weg, um Stress loszuwerden. Es führt dazu, dass man ruhiger atmet, lockert die Muskulatur, und gleichzeitig stimuliert es positive Emotionen. Die werden noch verstärkt durch das Gemeinschaftsgefühl, wenn man mit anderen musiziert. Nach einer Chorprobe geht es mir immer gut.

Danke für das Gespräch, Dr. Adli.
Das Interview führte Florian Schumann.  

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