Multiresistente Keime - Verschwenderischer Umgang mit Reserveantibiotika?
Sie sollten eine Waffe in der Not sein, wenn der menschliche Körper sich gegen Bakterien nicht mehr alleine zu helfen weiß: Reserveantibiotika. Doch eine aktuelle Studie zeigt, Reserveantibiotika werden zu häufig verschrieben und damit das Risiko für resistente Keime erhöht.
Zurzeit halten SARS-CoV-2 und seine Mutationen die Welt in Atem und immer noch wird daran geforscht, wie das Virus den Weg zum Pandemieverursacher für Menschen weltweit so "erfolgreich" gehen konnte.
Aber auch der Blick zurück in die Zeit vor der Pandemie und in die Welt z.B. der Bakterien zeigt, wie leichtfertig Menschen mit Risiken für die Entstehung gefährlicher Erreger bisweilen umgehen: Eine aktuelle Studie des AOK-nahen Forschungsinstituts WIdO zeigt, dass Ärzt*innen 2019 bei der Verschreibung von Antibiotika zu 53 Prozent ein Reserveantibiotikum verschrieben.
Seit 2012 sehe man zwar einen leichten statistischen Rückgang bei der Verschreibung gerade dieser Antibiotikagruppe (2012: 66 Prozent, 2019: 53 Prozent an den verordneten Antibiotika insgesamt). Allerdings liege dieser Anteil der Reserveantibiotika an den insgesamt verordneten Antibiotika stets klar über 50 Prozent.
Nur ein kleiner Trost laut den Expert*innen des Instituts: 2019 wurden im ambulanten GKV-Arzneimittelmarkt insgesamt 34 Millionen Mal Antibiotika verordnet, 2000 waren es noch 49 Millionen, 2012 41 Millionen.
Wo sind Verschreibungen am häufigsten?
Klar ist: Die meisten Antibiotika werden von Patient*innen eingenommen, deren Erkrankung keinen Klinikaufenthalt erfordert. In Deutschland machen diese Fälle rund 85 Prozent aller Antibiotika-Verschreibungen aus.
Forscher*innen des Zentrums für Entwicklungsforschung an der Universität Bonn (ZEF) haben in einer großen Metastudie genau da angesetzt und 73 internationale Einzelstudien analysiert, um herauszufinden, ob diese Nutzung bestimmte Patient*innengruppen besonders betrifft. Das Ziel der Studie beschreibt schon ihr Titel: "Was treibt die Nutzung von Antibiotika in der Gesellschaft? [...]"
Ergebnisse: Der Bonner Analyse zufolge ist gut belegt, dass die Hauptnutzer*innengruppe von Antibiotika was das Alter betrifft Kinder und Senioren sind. Außerdem zeigte sich, dass Menschen, die in Städten oder Ballungsgebieten leben, ebenso häufiger Antibiotika einnahmen, als Anwohner*innen eher ländlicher Gebiete. Die Autor*innen der Studie vermuten hier einen Zusammenhang mit der besseren medizinischen Infrastruktur (z.B. Zahl der Arztpraxen, etc. und weniger "Aufwand" medizinische Hilfe in Anspruch zu nehmen).
Einen ähnlichen Effekt vermuten die Forscher*innen in Verbindung mit dem Faktor Bildung: Zwar wirkt ein höherer Bildungsstand tendenziell eher bremsend auf den Antibiotikakonsum - allerdings nur in modernen Industriegesellschaften. In ärmeren Ländern dagegen nutzen die besser Gebildeten vermutlich schlicht häufiger ihre besseren Möglichkeiten an ein Antibiotikum zu kommen, als das anderen Bevölkerungsteilen überhaupt möglich ist, selbst wenn sie sie wirklich bräuchten, vermuten die Wissenschaftler.
Gefährliche Wunder einer Evolution
Der sparsame Einsatz von Antibiotika ist kein Selbstzweck - im Kampf gegen Erreger, die maximal anpassungsfähig sind, kommt es darauf an, so wenig "leichten Kontakt" wie möglich zuzulassen. Anders gesagt: Begegnen Bakterien Reserveantibiotika und überleben diese Begegnung - beispielsweise, weil das Mittel vorschnell abgesetzt wird, weil es gegen einen schnell auskurierten Infekt eingesetzt wurde - ergibt sich daraus die Chance für diese "Überlebenden" Resistenzen zu entwickeln und an die "Nachkommen" weiterzugeben. Da sich Bakterien unter guten Bedingungen exponentiell entwickeln, wird dieses Risiko durch das Gesetz der großen Zahl real: Antibiotika können schlimmstenfalls unwirksam werden.
Auf Basis von Daten der Antibiotika-Resistenz-Surveillance (ARS) des RKI und Prävalenzstudien gehen Experten des Robert Koch-Instituts (RKI) davon aus, dass in einem durchschnittlichen Jahr (ohne Pandemie) 30.000 - 35.000 Menschen in Deutschland an multiresistenten Keimen sterben. Je mehr Resistenzen entstehen, desto größer wird die Gefahr einer Infektion, gegen die am Ende nur noch wenige Antibiotika, schlimmstenfalls kein Antibiotikum mehr hilft.
Die Sache mit den Erkältungskrankheiten
Ja, Erkältungen nerven und oft weiß man erst einmal nicht, wie schlimm es noch wird. Trotzdem kann man deutlich sagen, dass viele, wenn nicht die meisten Erkältungskrankheiten kein Grund für den Einsatz von Antibiotika sind - einerseits, weil es hier oft auch andere Behandlungsmethoden gibt, andererseits, weil viele Erkältungen durch Viren verursacht werden, gegen die Antibiotika unwirksam sind - sie helfen nur bei bakteriellen Infektionen.
Wann braucht es Antibiotika wirklich?
Als wirklich wichtig gelten Antibiotika bei schweren Erkrankungen, wie Lungenentzündung, Blutvergiftungen, Harnwegsinfektionen, Nierenbeckenentzündungen oder auch Nebenhöhlenentzündung (Sinusitis).
Allerdings: Auch hier können Antibiotika "eingespart" werden - vor allem, indem der Arzt schnell das wirksamste gegen den jeweiligen Erreger findet und weniger mit sogenannten Breitspektrumantibiotika arbeiten muss. Das sind Antibiotika, die viele Bakterien aus dem grammpositiven und grammnegativen Bereich umfassen, in besonders breiten Varianten auch z.B. Chlamydien, Mykoplasmen oder Protozoen. Erreger-Tests vor dem Einsatz könnten hier helfen.
Antibiogramme: Schluss mit Kanonen bei Spatzen
Analysieren und dann erst verschreiben - das ist die Idee hinter dem Antibiogramm. Dazu wird Patient*innen Blut abgenommen und der Erreger identifiziert. In aller Regel weiß man nach wenigen Tagen, mit wem man es zu tun hat und welches Antibiotikum am wirksamsten hilft - so hinterlässt man wenig bis keine "Überlebenden" unter den Bakterien und vermeidet Resistenzen.
Die meisten Patient*innen haben diese zwei bis vier Tage für eine Analyse und haben davon wiederum ein besonders wirksames Mittel, das dann schnell hilft. Und auch wichtig: Ein Antibiogramm könnte so auch eine Alternative zum "einfach mal abwarten" sein, das Patient*innen in vielen Fällen ohnehin betreiben, obwohl sie ahnen, dass es eben nicht um einen leichten Infekt geht. Idee: Statt zu warten, bis es so schlimm ist, dass sofort ein Breitbandantibiotikum zum Einsatz kommen muss, könnte man auch frühzeitiger eine Blutkultur ins Labor schicken und dann den Gegner des Immunsystems kennen, um gezielter zu helfen. Natürlich ist das nicht immer möglich - aber wo es geht, lohnt der Versuch.
Antibiotika richtig einnehmen
Ist das richtige Antibiotikum gefunden, kommt es auf den Patienten an, es richtig anzuwenden: Nur mit Hilfe der richtigen Dosierung über den richtigen Zeitraum kann das Medikament seine volle Wirkung entwickeln. Antibiotika zerstören Bakterien und/oder verhindern deren Vermehrung - aber das kann nur dann gelingen, wenn der Wirkstoff in der richtigen Menge im Körper vorhanden ist. Insbesondere das zu frühe Absetzen von Antibiotika kann dazu führen, dass hartnäckige Bakterien überleben und Resistenzen bilden.
Aber: Auch in Sachen Wechselwirkungen ist es wichtig, dass der Patient alle Informationen an den Arzt weitergibt. So können Magensäurehemmer die Aufnahme des Wirkstoffs hemmen. Umgekehrt können manche Antibiotika zum Beispiel bei Diabetikern die Blutzuckerwerte beeinflussen. Für unseren künftigen Schutz vor Keimen, gegen die nichts mehr hilft, kommt es also auch auf jeden Einzelnen an Antibiotika - zusammen mit dem behandelnden Arzt - sinnvoll einzusetzen.