Füße auf Waage, die 97.9 Kg anzeigt (Quelle: Colourbox)
Bild: Colourbox

Adipositasforschung | Interview - Noch kein Wundermedikament

Übergewicht ist eine Krankheit – die einer umfassenden Behandlung bedarf. Noch sind Experten dabei, die verschiedenen Mechanismen der Erkrankung aufzuklären. Mit mehr Wissen über die Zusammenhänge, ließen sie sich besser therapieren, beispielsweise mit Medikamenten.

Der Adipositasforscher Peter Kühnen von der Berliner Charité ist diesem Ziel einen Schritt näher gekommen.

Herr Prof. Kühnen, welche Mechanismen regulieren unser Körpergewicht?

Es gibt zwei wichtige Aspekte. Zum einen spielt die Energieaufnahme eine wichtige Rolle, die durch das Hunger- beziehungsweise das Sättigungsgefühl reguliert wird. Auf der anderen Seite ist das der Energieverbrauch oder Grundumsatz relevant, also wie viel Energie der Körper verbraucht oder verbrennt.

Das klingt erst mal überschaubar. Vermutlich stecken aber komplexe Mechanismen dahinter.

Das stimmt. An der Regulation des Gewichts ist eine Vielzahl von Botenstoffen und Signalmolekülen beteiligt. Nehmen wir mal das Sättigungszentrum. Es sitzt im Gehirn, genauer im Hypothalamus. Zwei Botenstoffe regulieren das Sättigungszentrum. Das eine Hormon heißt Leptin. Es wird im Fettgewebe gebildet. Wenn es an seine passende Andockstelle bindet, an den sogenannten Leptinrezeptor, führt das dazu, dass ein zweiter Botenstoff gebildet wird, das Melanozyten-stimulierende Hormon (MSH). Sobald das wiederum an seinen Rezeptor andockt, an den Melanocortin-4-Rezeptor, ist dies das Zeichen für unser Gehirn ‚Ich bin satt’. Wir sprechen auch vom Leptin-Melanocortin-Signalweg.

Und der kann gestört sein.

Richtig. Ist eines der Gene dieses Signalweges mutiert oder krankhaft verändert, führt das dazu, dass die Signalkaskade nicht mehr ausreichend funktioniert. Dem Gehirn fehlt das Signal "Sättigung". Mit anderen Worten: Die Betroffenen haben mehr oder weniger immer Hunger.

Wie muss man sich das Zusammenspiel von Hormon und Rezeptor vorstellen?

Die Hormone passen ähnlich wie ein Schlüssel ins Schloss immer nur zu einem zugehörigen Rezeptor. Sobald das Hormon dort andockt, löst es in der Zelle eine Reihe von biochemischen Vorgängen aus. Normalerweise produziert der Körper genau so viel Hormon, damit es ausreichend wirkt. Bei Patienten mit einem Leptin-Rezeptor-Defekt gibt es zwar Leptin und potenziell gäbe es auch MSH, aber die Vermittlungsstelle – eben der Rezeptor – funktioniert nicht. Das Signal kann nicht ausreichend weitergeleitet werden. Die Betroffenen sind quasi nie satt.

Vermutlich essen viele Menschen mal über den Appetit. Was unterscheidet eine gesunde Person von jemandem, bei dem der Leptin-Melanocortin-Signalweg nicht funktioniert?

Diese Patienten haben ein ausgeprägtes Hungergefühl. Das Gefühl ist für Außenstehende sehr schwer vorstellbar. Ein Patient hat das mal mit einem Schatten verglichen, der die betroffene Person ständig begleitet. Man hat kontinuierlich das Verlangen zu essen. Kommt man nach Hause, will man am liebsten sofort an den Kühlschrank. Die Störung ist übrigens angeboren. Schon Babys entwickeln in den ersten Lebenswochen und -monaten ein gesteigertes Hungergefühl. Sie sind eigentlich ständig hungrig und verlangen nach Nahrung.

Es ist also nicht das Essen schuld, dass diese Menschen dick sind, sondern es sind ihre Gene.

Am Ende nehmen die Patienten zu, weil sie zu viel essen. Der Auslöser ist aber ein genetischer Defekt, der dazu führt, dass ihre Energie- oder Nahrungsaufnahme gestört ist und sie sich eigentlich nie richtig satt fühlen.

Wie häufig sind die Störungen, die den Leptin-Melanocortin-Signalweg betreffen?

Sie sind sehr, sehr selten. Wir kennen wenige hundert Menschen weltweit mit einem genetischen Defekt in diesem Signalweg. Mutationen des Melanocortin-4-Rezeptors, an den MSH andockt, sind etwas häufiger. Knapp zwei Prozent aller massiv übergewichtigen Menschen haben eine Mutation, die ihr Sättigungsgefühl so verändert, dass es sich aufs Körpergewicht auswirkt. Mittlerweile empfehlen die Fachgesellschaften, Kinder, die bereits in den ersten Lebensjahren auffällig übergewichtig sind, auf genau diese Gene zu untersuchen.

Lässt sich die Mutation des Melanocortin-4-Rezeptors behandeln?

In der Regel scheitern bei diesen Patienten alle herkömmlichen Behandlungsversuche. Selbst eine Operation, beispielsweise eine Magenverkleinerung, hilft ihnen nicht, langfristig abzunehmen. Sie ändert eben nicht das Grundproblem des gesteigerten Hungergefühls. Bei einer jungen Patientin, der dadurch das zweite wichtige "Sättigungshormon" MSH fehlte, stellten wir uns irgendwann die Frage, ob man diesen Botenstoff nicht ersetzen könnte? Einige pharmazeutische Unternehmen hatten derartige Präparate in der Vergangenheit schon mal untersucht. Teilweise waren dabei jedoch schwere Nebenwirkungen beispielsweise auf den Blutdruck aufgetreten.

Konnten Sie der Patientin dennoch helfen?

Wir haben im Rahmen einer eigenen Studie ein Prüfpräparat getestet, das eine amerikanische Firma damals in einer sehr frühen Phase untersuchte. Vor Beginn der Studie wussten wir nicht, ob das Präparat der Patientin helfen und das Hungergefühl reduzieren könnte. Sie nahm dann tatsächlich in den ersten drei Monaten über 24 Kilo ab. Ihr Hungergefühl normalisierte sich.
 
Später beobachteten wir einen ähnlichen Verlauf bei einer zweiten Patientin, die wir in die Studie einschlossenBeide haben mittlerweile nahezu ihr Normalgewicht erreicht. Aber das Präparat ist kein Wundermittel, das für Tausende übergewichtiger Menschen geeignet wäre.

Wie lassen sie sich am besten behandeln?

Das ist ungleich schwerer. Genetisch gesehen sind wir wie unsere Vorfahren in der Steinzeit immer noch mehr oder weniger auf Nahrungsknappheit eingestellt. In der Vergangenheit hatten die Menschen einen Überlebensvorteil, die Nahrungsenergie gut als Fett speichern konnten. In einer relativ kurzen Zeitspanne hat sich die Situation komplett verändert. Die, die gut Fett speichern können, sind heute gefährdet, adipös zu werden. Wir haben Nahrung im Überfluss und bewegen uns weniger. Zu dieser genetischen Ausstattung gesellen sich weitere Risikofaktoren, die das Gewicht beeinflussen: Umweltfaktoren, psychologische Aspekte, die soziale Situation, in der wir aufwachsen.

Welche Behandlungsmöglichkeiten sehen Sie bei ihnen?

Eine Erkrankung, die durch verschiedene Faktoren potentiell beeinflusst wird, sollte meiner Meinung nach interdisziplinär behandelt werden. Medikamente allein können hier nur wenig ausrichten. Die größten Effekte – abgesehen von einer operativen Korrektur – hat eine multimodale Therapie, die neben Medizinern auch Psychologen, Ernährungsspezialisten und Bewegungsexperten in die Therapieplanung einschließt. Wichtig ist auch, die Angehörigen in das Betreuungskonzept einzuschließen.

Wie relevant ist solch eine Therapie?

Übergewicht zieht so viele Krankheiten nach sich. Sie ist der Hauptrisikofaktor für Typ-2-Diabetes und führt zu Bluthochdruck, Herzinfarkt und Schlaganfall. Wenn man es schaffen würde, Therapiestrategien zu entwickeln, mit denen sich die Anzahl der adipösen Patienten weltweit reduzieren ließe, würde das unsere Gesundheitssysteme sehr entlasten. Die Patienten wären gesünder und würden länger leben.

Wie schätzen Sie das Thema Prävention ein?

Dies ist einer der wichtigsten Punkte. Alle bisherigen Bestrebungen konnten die Situation nicht wirklich dramatisch ändern. Die Zahlen stagnieren allenfalls auf einem sehr hohen Niveau. Wir Kinderärzte beobachten mit wachsender Sorge die zunehmende Anzahl von Kindern und auch Kleinkindern, die ein Problem mit ihrem Körpergewicht haben. Aus Untersuchungen wissen wir, dass, wenn man als Jugendlicher adipös ist, die Wahrscheinlichkeit extrem hoch ist, dies auch als Erwachsener zu bleiben. Wir müssen daher nach neuen Ansätzen suchen und überlegen, ob man zum Beispiel Bewegung in den Schulen mehr fördert, dass sich Angebote beispielsweise am Schulkiosk ändern oder dass wir Werbestrategien für zuckerhaltige Produkte hinterfragen. Es gibt verschiedene Ansatzpunkte. Wir haben hier ein gesellschaftliches Problem, für das wir als Gesellschaft Verantwortung übernehmen müssen.

Vielen Dank für das Gespräch.
 
Wir gratulieren Prof. Peter Kühnen zum diesjährigen Paul-Martini-Preis. Der Preis ist mit 50.000 Euro dotiert und wird Wissenschaftlern für herausragende Leistungen in der klinisch-therapeutischen Arzneimittelforschung verliehen.
 
Das Interview führte Constanze Löffler.

Weitere Themen