Alles andere als harmlos - Getestet: Rezeptfreie Medikamente für Kinder
Dem Kind läuft die Nase, der Hals tut weh und erhöhte Temperatur hat es auch. Gerade in Coronazeiten scheuen manche Eltern den Gang zum Kinderarzt und schauen, was die eigene Hausapotheke hergibt. Ob verschreibungspflichtige Medikamente oder frei verkäufliche: werden sie bei Kindern angewendet, muss man besonders vorsichtig sein. Denn Kinder sind keine "kleinen Erwachsenen".
Welche Medikamente für Kinder geeignet sind und welche nicht und warum so wenig Medikamente überhaupt speziell für Kinder zugelassen sind, darüber sprach rbb Praxis mit Prof. Dr. Gerd Glaeske. Der Apotheker und Arzneimittelversorgungsforscher war Leiter eines unabhängigen Gutachterteams, das rund 1.100 Bewertungen für die meist verordneten oder selbstgekauften Medikamente für Kinder geprüft hat. In dem Buch "Medikamente für Kinder". herausgegeben von der Stiftung Warentest, wurden die Ergebnisse im April dieses Jahres veröffentlicht.
Brauchen wir überhaupt Medikamente, die speziell für Kinder zugelassen sind?
Unbedingt. Denn Kinder sind eben keine "kleinen Erwachsenen". Medikamente, die Kindern verabreicht werden, müssen bezogen auf den kindlichen Organismus und die kindliche Entwicklung angepasst sein. Der Stoffwechsel von Kindern unterscheidet sich deutlich von dem der Erwachsenen. Organe wie Leber und Niere, die für den Abbau von Arzneimitteln zuständig sind, sind bei Kindern ja noch im Wachstum. Das gilt auch für das Gehirn, weshalb zum Beispiel Medikamente, die auf das zentrale Nervensystem einwirken, wie Narkosemittel, bei Kindern anders dosiert werden müssen als bei Erwachsenen.
Wie viele Medikamente sind überhaupt speziell für Kinder zugelassen?
Wir haben derzeit rund 106.000 Arzneimittel auf dem Markt. Von diesen 106.000 sind ungefähr 50.500 rezeptpflichtig. Ein Teil der übrigen Präparate können entweder nur in Apotheken gekauft werden, sie sind dann "apothekenpflichtig". Der andere Teil der Medikamente kann völlig frei auch in Drogerien und Supermärkten gekauft werden. Wenn man die Arzneimittelzulassungen seit 2001 anschaut, dann gibt es 400 Medikamente, die speziell für Kinder zugelassen sind und darunter sind kaum Mittel aus der Selbstmedikation, d.h. Mittel, die ohne Rezept gekauft werden können. Das zeigt ganz deutlich, dass die pharmazeutische Industrie über die Jahre Kinderarzneimittelstudien nicht unbedingt in den Vordergrund gestellt hat und es einen großen Nachholbedarf gibt.
Warum ist das so?
Arzneimittel, die für Kinder zugelassen werden sollen, müssen auch an Kindern getestet werden. Und das ist schon mal die erste Hürde, weil man dafür das Einverständnis der Eltern braucht. Hinzu kommt, dass diese Studien sich für die Pharmafirmen kaum lohnen, weil sie aufwändiger sind und weil die Patientengruppe, die am Ende das Medikament bekommt, relativ klein ist. Seit 2007 hat sich die Situation etwas gebessert, weil mit der EU-Kinderverordnung auf europäischer Ebene Kinderstudien für bestimmte Arzneimittel abgefordert werden. Aber viele der Arzneimittel in der Selbstmedikation sind eher ältere Präparate, bei denen solche Studien nicht vorliegen. Dann wird auf der Basis von Erfahrungswissen entschieden, ob ein Medikament für Kinder geeignet ist und in welcher Dosis es verabreicht wird. Es werden im Bereich der Selbstmedikation auch viele pflanzliche Mittel angeboten, doch da ist die Datenlage keinesfalls besser. Hinzu kommt, dass pflanzliche Präparate entgegen der weit verbreiteten Meinung nicht immer harmlos sind. Schöllkraut zum Beispiel, wie es in einem pflanzlichen Medikament gegen Magenverstimmungen enthalten ist, würde ich für Kinder nicht empfehlen. Denn das Schöllkraut kann die Leber schädigen, die bei Kindern noch nicht ausgereift ist.
Kindern gibt man dann häufig eine geringere Dosis des Medikaments. Ist das eine gute Lösung?
Früher hat man sich oft damit beholfen, dass man gesagt hat: Kindern gibt man einfach die Hälfte oder noch weniger. Davon ist man aber inzwischen weggekommen. Inzwischen werden die Erfahrungen im Umgang mit nicht extra für Kinder zugelassenen Medikamenten gesammelt. Dabei kann dann herauskommen, dass man die Dosis gegenüber der Dosis für Erwachsenen halbieren oder auch erhöhen muss. Letzteres gilt zum Beispiel beim Einsatz von Medikamenten bei Krebserkrankungen, Schmerzzuständen oder Herz-Kreislauferkrankungen.
Arzneimittel für Kinder werden oftmals in anderen Darreichungsformen angeboten. Ist das sinnvoll oder nur eine Marketingstrategie?
Das ist durchaus sinnvoll, denn Arzneimittel schmecken nicht immer gut und da kann es hilfreich sein, wenn ein Medikament als Zäpfchen, Tropfen oder Saft erhältlich ist. Solche neuen Darreichungsformen für Kinder müssen neu zugelassen werden, auch wenn der Wirkstoff der gleiche ist.
In welchen Bereichen gibt es konkrete Fortschritte?
Zum Beispiel bei dem Wirkstoff Ibuprofen. Dieser Wirkstoff war eine Zeitlang für Kinder überhaupt nicht geprüft und es gibt seit einigen Jahren ein Medikament, welches speziell für Kinder ab sechs Monaten zugelassen worden ist. Das heißt, hier sind Studien durchgeführt worden, die genaue Aussagen darüber zulassen, ab welchem Alter, in welcher Dosierung Ibuprofen gegen Fieber und Schmerzen verabreicht werden darf. Im Bereich der verschreibungspflichtigen Medikamente, gibt es inzwischen bei vielen Erkrankungen wie HIV, Bluthochdruck, Morbus Crohn, und Krebserkrankungen sowie Schmerzzuständen, durchaus Medikamente, die speziell für Kinder zugelassen sind. Allerdings müssen Kinderärzte bei verschreibungspflichtigen Medikamenten immer noch in 30 bis 40 Prozent der Fälle auf Medikamente zurückgreifen, die keine Kinderzulassung haben. Im Krankenhaus bei der Versorgung von Frühgeborenen sind es sogar 90 bis 95 Prozent der verabreichten Medikamente, die nicht an Kindern getestet wurden. Da sind die Ärzte auf ihr Erfahrungswissen angewiesen, was auch überwiegend gut funktioniert. Nichtsdestotrotz werden die Medikamente in diesen Fällen ohne Zulassung eingesetzt, man spricht dann von Off-Label-Use.
Gibt es bekannte Arzneimittel, die Kindern nicht gegeben werden sollten?
Ja, zum Beispiel Acetylsalicylsäure, ASS. Wir warnen davor, ASS bei Kindern einzusetzen, weil es bei ihnen zu schweren Nebenwirkungen kommen kann. Zum Beispiel zu Hirnhautentzündungen und Leberschäden; Ärzte sprechen dann von einem so genannten Reye-Syndrom. Das ist für manche Kinder sogar tödlich ausgegangen. Ein anderes Beispiel sind Antihistaminika, die zum Beispiel bei Schlafstörungen oder gegen Übelkeit oder Erbrechen eingesetzt werden und die Diphenhydramin oder Dimenhydranit enthalten. Wir wissen inzwischen, dass Medikamente mit diesen Wirkstoffen bei Kindern zu Krampfanfällen und Herzrhythmusstörungen führen können, weshalb sie eher nicht eingesetzt werden sollten. Gegen Reizhusten wird Erwachsenen Codein verschrieben, was bei Kindern aber nicht eingesetzt werden darf, da es zu Atemproblemen führen kann. Das gilt in etwas abgeschwächter Weise auch für den Wirkstoff Dextromethorphan. Das heißt, ich bin beim Reizhusten bei Kindern recht schnell in der Situation, dass ich eigentlich kein Medikament zur Verfügung habe. Dann kann das Inhalieren eine Alternative sein, wobei auch da wieder Vorsicht geboten ist, wenn ätherische Öle eingesetzt werden, vor allem Campher und Menthol. Die können bei Babys und Kleinkindern zu starken Atembeschwerden und sogar Erstickungsanfällen führen.
Kritisch sehe ich auch den Einsatz von antibakteriellen Medikamenten, die bei Halsschmerzen eingesetzt werden. Die meisten Halsschmerzen sind virusbedingt. Da ist jedes Präparat, dass bakteriell wirken soll, nicht nur überflüssig, sondern möglicherweise sogar schädlich, weil es die Resistenzen gegen Antibiotika fördern kann. Auch Kombinationspräparate, die gern bei grippalen Infekten eingesetzt werden und die drei oder vier Wirkstoffe enthalten, sind für Kinder ungeeignet. Sie enthalten oftmals Acetylsalicylsäure oder andere für Kinder nicht geeignete Wirkstoffe wie Alkohol. Das kann bei diesen Kombinationspräparaten schnell übersehen werden und insofern rate ich dazu, bei Kindern nur Medikamente einzusetzen, die einen einzigen Wirkstoff enthalten, weil man dann auch besser die unerwünschten Nebenwirkungen zuordnen kann.
Wir haben für das Buch "Medikamente für Kinder" die 500 meist angewendeten Arzneimittel in rund 1.100 Anwendungsgebieten auf der Basis der vorliegenden Publikationen bewertet. Dabei kam es bei etwa 40 Prozent zu keinem positiven Ergebnis. Das heißt, in diesen Fällen gab es wenig überzeugende Daten und wenig aussagekräftige Studien und das betrifft auch Arzneimittel im Bereich der Selbstmedikation.
Was können Eltern tun, um ihre Kinder vor unerwünschten Nebenwirkungen zu schützen?
Wenn man Medikamente für Kinder kauft, dann sollte man in der Apotheke unbedingt sagen, dass sie für Kinder gedacht sind. Eltern sollten auch fragen, ob das Medikament schon vor längerer Zeit zugelassen wurde und ob es spezielle Dosierungshinweise für Kinder gibt.
Wer zuhause im Arzneimittelschrank nach geeigneten Medikamenten für Kinder sucht, sollte zum Beispiel nicht einfach nach dem erst besten Nasenspray greifen, sondern darauf achten, dass es auch für Kinder geeignet ist. Mittel für Erwachsene enthalten eine 0,1 prozentige Lösung; für Kinder eine 0,05 prozentige Lösung. Der Beipackzettel spielt bei den Medikamenten aus der Hausapotheke eine wichtige Rolle und man sollte ihn auch wirklich aufmerksam lesen. Er gibt häufig wichtige Hinweise, ob ein Arzneimittel für Kinder überhaupt geeignet ist oder nicht.
Darüber hinaus darf man nicht vergessen, dass die Gabe von Medikamenten an Kinder auch eine psychische Komponente hat. Manche Eltern neigen dazu, ihren Kindern Medikamente zu geben, wenn etwas nicht "funktioniert", zum Beispiel in der Schule. Wenn ich aber lerne, dass - wenn ich etwas einnehme - es mir besser gehen sollte, dann praktiziere ich das unter Umständen mein Leben lang. Und das sollte man auf jeden Fall vermeiden.
Vielen Dank für das Gespräch, Prof. Dr. Glaeske.
Das Interview führte Ursula Stamm.