"Kinder vom Tod fernzuhalten ist, wie Kinder vom Leben fernzuhalten."

Interview mit Prof. Dr. Dr. Christoph Student

 

Viele Erwachsene sind der Ansicht, dass man Kinder mit dem Thema Tod besser nicht konfrontieren sollte: Richtig oder falsch?

Erwachsene wollen dadurch die Kinder vor Ängsten bewahren. Aber das ist Unfug – Kinder vom Tod fernzuhalten ist, wie Kinder vom Leben fernzuhalten. Deshalb sollte man auf Fragen eingehen, die Kinder zu diesem Thema stellen. Man muss gar nicht so viel sagen, häufig ist es besser zu fragen: "Was denkst du denn dazu?" Und die Vorstellungen, die sie dann äußern, sollte man ihnen auch belassen. Es sei denn, sie sind allzu destruktiv, dann kann man das ein wenig korrigieren, aber ganz behutsam. Natürlich muss man solche Gespräche auch nicht provozieren. Aber es gibt ja immer wieder Gelegenheiten, über den Tod zu reden, etwa wenn sie ein totes Tier sehen.

In welchem Alter können Kinder wirklich begreifen, was tot sein bedeutet?

Bis zum dritten Lebensjahr wird vermutlich schon das kurze Weggehen der Mutter als kleiner Tod empfunden, aber eben auch als vorübergehender Zustand. Ab dem dritten Lebensjahr etwa gibt es dann schon die Empfindung, dass verstorbene Menschen wirklich verschwinden und man sie vermisst. Aber in diesem Alter beziehen die Kinder das nie auf sich selbst: Sie halten sich für unsterblich. Der Tod ist etwas, das anderen passiert. So ungefähr ab fünf Jahren setzt das Fragealter ein, und auch das Interesse am Thema Tod nimmt zu. Aber auf sich selbst beziehen sie es immer noch nicht. Allmählich verstehen sie allerdings, dass der Tod etwas Endgültiges ist – Tote sind definitiv weg. Etwa ab dem neunten Lebensjahr begreifen die Kinder dann, dass der Tod unvermeidlich ist, auch für sie selbst. Allerdings immer noch mit Einschränkungen: "Wenn ich mich geschickt anstelle, entkomme ich dem Tod – ich hab' da so meine Tricks. Der kann mich mal!" Mit der Pubertät, also zwischen zehn und 14 Jahren, gleichen sich die Vorstellungen der Kinder vom Tod allmählich denen Erwachsener an. Sie wissen, dass der Tod auch sie persönlich betrifft, allerdings noch nicht jetzt. Die Entwicklung geht weiter, bis sie dann mit rund 18 Jahren die massive Angst der Erwachsenen vor dem Tod entwickelt haben.

Familie am Grab, Quelle: Fotolia



Kinder halten sich selbst lange für unsterblich. Eltern können aber ihren Kindern bei dem Thema mehr zutrauen, vor allem, wenn ein Todesfall eingetreten ist.

 

Wie verändert sich speziell bei Kindern im Grundschulalter die Todesvorstellung?

In dieser Zeit gibt es keine großen Entwicklungssprünge, das läuft sehr kontinuierlich: Die Kinder haben zwar die Endgültigkeit des Todes begriffen, beziehen ihn aber kaum auf sich selbst. Das ändert sich erst ungefähr mit dem Eintritt in die weiterführenden Schulen.

Gibt es, abgesehen vom Alter, noch andere Faktoren, die für die Entwicklung der Todesvorstellungen ausschlaggebend sind?

Eigene Erfahrungen können natürlich eine wichtige Rolle spielen, das Durchleiden einer schweren Krankheit etwa. So etwas kann die emotionale und kognitive Entwicklung beschleunigen, weil die Ängste dann realer werden. Auch eine hohe Intelligenz oder Bildung kann zu einer solchen Beschleunigung führen. Die Sozialisation spielt ebenfalls eine Rolle.

Welchen Einfluss hat die Religion der Eltern auf die Vorstellungen der Kinder?

Zunächst einmal ist die Religion der Eltern nicht besonders entscheidend. Etwas anderes ist es natürlich, wenn die Eltern sehr klare religiöse Vorstellungen haben und dann indoktrinieren. Dann wird das Kind diese Vorstellungen wohl übernehmen, aber eventuell auch als fremd empfinden. Besser ist es, die Kinder an der langen Leine zu lassen. Eine gewisse Angleichung an die Vorstellungen der Eltern findet meist sowieso irgendwann statt.

Welche Rolle spielen die Medien – etwa erst sterbende und dann wiederauferstehende Comicfiguren?

So etwas entspricht natürlich genau dem Lebensgefühl von Kindern im jüngeren Grundschulalter, deren Vorstellung von der Endgültigkeit des Todes noch eher wackelig ist. Problematischer ist es, wenn ein Kind im Übergang von der Grundschule zur weiterführenden Schule in Computerspielen herumballert und die Figuren immer wiederauferstehen. Das befördert schnell falsche Vorstellungen und ist nicht gesund, da das Kind es eigentlich schon besser wissen sollte. Darüber sollten dann die Eltern mit dem Kind sprechen: "Das ist nur im Spiel so, nicht im Leben."

Hatten Kinder in Zeiten, in denen mehr zu Hause und weniger in Krankenhäusern gestorben wurde, realistischere Vorstellungen vom Tod?

Heute lernen Kinder den Tod vor allem durch Bücher und Filme kennen, und da ist er meist sehr dramatisch. Den echten, den natürlichen Tod, der ja auch etwas Ruhiges haben kann, erleben sie seltener.

Wie können Eltern ihren Kindern solche ruhigen, undramatischen Erfahrungen heute ermöglichen?

Sie sollten bei einem Todesfall den Kindern mehr zutrauen. Wenn das Kind mit zur Beerdigung kommen will, sollten sie ihm diesen Wunsch nicht absprechen. Das gilt auch für spätere Friedhofsbesuche. Etwas vorsichtiger wäre ich allerdings beim so genannten Leichenschmaus. Wenn die Erwachsenen erst traurig sind, dann munterer werden und zum Schluss vielleicht sogar richtig lustig sind, können gerade jüngere Kinder damit häufig nicht umgehen. Vielleicht verlieren sie dadurch sogar ein Stück weit Achtung vor den Erwachsenen, weil sie dieses Verhalten als unanständig empfinden.

Kinder haben eher naive Vorstellungen vom Tod. Liegt das daran, dass über das Thema nicht genug gesprochen wird? Oder eher daran, dass Kinder dieses komplexe Thema noch nicht komplett verarbeiten können?

In erster Linie sind es die kognitiven Fähigkeiten, die sich bei Kindern erst noch entwickeln. Junge Kinder verwechseln den Tod beispielsweise häufig mit Schlaf – etwa wenn sie ein totes Tier sehen. Das ist für sie kaum zu unterscheiden, denn um auf Dinge, wie Brustkorbbewegungen, zu achten, braucht man schon einen hohen Kenntnisstand. Oft ist für sie auch alles belebt, was sich bewegt. Wenn sie einen Stein schmeißen, ist er lebendig, wenn er fliegt, und tot, wenn er liegt. Man kann so viel tabuisieren, wie man will: Kinder machen sich ihre eigene Story daraus.

Sollte Aufklärung zum Thema Tod ähnlich institutionalisiert werden wie Aufklärung zum Thema Sexualität – etwa durch Unterrichtseinheiten in Schulen?

Ganz klares Ja. Der Tod wird zwar im Religionsunterricht thematisiert, aber oft viel zu spät. Die Beschäftigung damit sollte früher stattfinden und außerdem Teil des Kernunterrichts sein. Die Sexualaufklärung ist ein gutes Beispiel, weil das Thema Tod heute ähnlich tabuisiert wird wie früher der Sex.

Professor Student
Prof. Dr. Dr. Christoph Student, Jahrgang 1942, studierte evangelische Theologie, Philosophie und Philologie, anschließend Medizin. Von 1980 bis 1997 war er Professor für Psychiatrie an der Evangelischen Fachhochschule in Hannover. Im Jahr 2004 gründete er das Ambulante Kinder-Hospiz im Hospiz Stuttgart. Seit 2006 leitet er das Deutsche Institut für Palliative Care, eine Einrichtung, die es sich zum Ziel gesetzt hat, die Situation sterbender und trauernder Menschen zu verbessern. Seit 2008 eigene Praxis für Kinder- und Jugendpsychiatrie in Freiburg.