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Nur zehn Kilometer jenseits der deutschen Grenze schaut die polnische Stadt an der Oder auf eine junge Vergangenheit zurück. Nach dem Zweiten Weltkrieg wird die einst flächenmäßig drittgrößte Stadt Deutschlands Polen zugesprochen. Die ehemalige Hauptstadt Pommerns. Fast die gesamte Bevölkerung wird ausgetauscht. Aus Stettin wird Szczecin.
Noch viele Jahre danach begegnen sich die Nachbarn mit Misstrauen. Die ausgesiedelten Deutschen fühlen sich ihrer Heimat beraubt. Die ebenso umgesiedelten Polen schlagen lange keine Wurzeln, zu unsicher scheint ihnen die neu festgelegte Grenze. Werden die Deutschen nicht doch eines Tages wieder kommen?
Der Journalist Andrzej Kotula glaubt, die Szczeciner sind bis heute auf der Suche nach ihrer Identität. Sie kamen 1945 in eine Stadt, deren Geschichte und Infrastruktur sie nicht kannten. Nach der Vertreibung der Deutschen setzte eine Polonisierung der Stadt ein. In den Jahren der sozialistischen Zeit wurden die deutschen Wurzeln Stettins aus der offiziellen Geschichtsschreibung getilgt. Erst nach der Wende begannen sich gerade junge Polen für diesen Teil der Geschichte ihrer Stadt zu interessieren.
Noch heute ist die Stadt voller Spuren preußischer Vergangenheit. Stettin entwickelte sich im 18. Jahrhundert zum wichtigsten Hafen des preußischen Kernlandes. Die Industrialisierung wird angekurbelt durch die frühe Eisenbahnverbindung mit Berlin 1843. Die Berliner leisten sich für dieses Reiseziel einen eigenen mondänen Stettiner Bahnhof. Stettin ist das Tor der Berliner zur Ostsee.
1936 wird die Autobahn zwischen Berlin und Stettin eröffnet. Drei Jahre später wird durch die Eingemeindung von 36 umliegenden Orten Groß Stettin geschaffen. Auf ihrem Weg in die Reichshauptstadt überrennt 1945 die Rote Armee Pommern und die schon schwer zerstörte Stadt. Nach den Verhandlungen von Jalta und Potsdam ist zunächst klar: Stettin bleibt deutsch. Die Grenze orientiert sich am Verlauf der Oder.
Die Deutschen erlebten eine Zeit der Wirren und Ängste in der Nachkriegszeit. Viele flohen vor der heranrückenden Roten Armee in Richtung Westen, nach Mecklenburg. Dort wurden sie von den sowjetischen Behörden aufgefordert, nach Stettin zurück zu kehren. Das wäre schließlich eine deutsche Stadt.
Niemand ahnte, dass Stalin schon 1944 polnischen Exilkommunisten die Stadt versprochen hatte. Als nach drei deutschen Bürgermeistern nach dem Krieg plötzlich eine polnische Stadtverwaltung eingerichtet wird, treffen immer mehr Polen aus dem Osten in der Stadt ein. Zeitzeugen berichten in der Dokumentation von den Wirren und Ängsten der Kriegs- und Nachkriegszeit.
Bis 1947 herrscht eine "Wildwest-Stimmung", ein El Dorado für Plünderer und Abenteurer. Dazu kommen Tausende umgesiedelte Polen, die sich mit den Deutschen die wenigen Wohnungen und den Hausrat teilen müssen.
Die Dokumentation erzählt unbekannte Kapitel der einst deutschen und heute polnischen Stadt, und auch, wie sich die heutige Generation um eine gute Zusammenarbeit und die gemeinsame Aufarbeitung der Geschichte bemüht.
Film von Lutz Rentner und Frank Otto Sperlich
Erstausstrahlung am 29.11.2016/rbb