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Wie war es, in Berlin in den frühen 30er Jahren Kind zu sein und wie war es 70 Jahre später, in den Nullerjahren, in Berlin seine Kindheit zu verbringen? Das Langzeitprojekt "Berliner Kindheiten" befragt Menschen aller Altersgruppen und aller Herkünfte nach ihrer Kindheit in Berlin. So vielfältig die Antworten sind, so spannend, erschütternd, berührend und natürlich auch fröhlich sind sie. Die Gespräche werden aufgezeichnet, können als Videostream abgerufen werden und ein erster Zwischenstand ist in dem Buch "Freiheit ist auf der Straße" im Transit Verlag erschienen.
Hier hat alles seinen Anfang genommen, in der Böckhstraße in Kreuzberg. Hier lebte Waltraud Gasche, Jahrgang 1927. Ihrem Nachbarn hat sie so lange von ihrem Leben erzählt, bis der irgendwann die Kamera auspackte und alles aufnahm – Geschichten vom Aufwachsen damals, in Kreuzberg, in ihrem Fall ohne Vater.
Waltraud Gasche
"Vielleicht wusste der ja auch nicht, dass ich überhaupt existiere. Der hat ja meine Mutter verlassen und weg war er, hallihallo… Und der wusste das vielleicht gar nicht, sonst hätte er sich doch gemeldet. Ich wollte gerne wissen wo in Amerika, ich wollte was schreiben."
Vom Wandel der Stadt erzählen die Berliner Kindheiten, von historischen Einschnitten, von Weltgeschichte im Persönlichen. Bei Waltraud Gasche auch von Ausgrenzung – ihr verschwundener Vater war vermutlich Jude – und sie daher eine Ausgestoßene.
Waltraud Gasche
"Ich durfte in keinen BDM rein. Und ich wäre gerne mit bei gewesen, hätte gerne was gemacht und ich bin auch mit der Büchse gegangen. Meine Hauswartin, die hatte immer ne Büchse gekriegt, und da bin ich immer gegangen. Ich habe sämtliche Gaststätten kennengelernt, was hier ringsum so war. Und ich hatte jedesmal die Büchse vollgekriegt."
Eine Reise durch die Stadt, durch die Jahrzehnte – auch durch die Ideologien ist dieses Projekt. Die Linienstraße ist heute schickes und teures Berlin-Mitte – es gibt noch ein unsaniertes Haus. Als eine von sieben wächst Renate Spiering in der Linienstraße auf – Jahrgang 1949.
Renate Spiering
"Ich habe mich sehr viel mit dem Kommunismus befasst, weil – die haben dann gesagt: da kann man alles ohne Geld kaufen und kann so viel essen, wie man möchte. Und weil wir ja mit der Zeit immer mehr Kinder wurden, war das für mich so: Mensch, Weihnachten für sich mal ne eigene Entenkeule zu haben, ist doch ne schöne Sache, der Kommunismus."
Vom Mauerbau erfährt Renate Spiering gleich am 13. August 1961 – damals ist sie mit ihrer besten Freundin im Pionierlager. Dort heißt es, dass sowjetische Truppen aufgefahren sind, um die DDR zu beschützen.
Renate Spiering
"Natürlich haben wir gedacht, jetzt bricht wieder ein neuer Krieg aus, es war ganz große Panik, wenn du nicht zuhause warst. Wir haben dann geweint, wir wollen nach Hause. Die haben gesagt: nein, es geht alles gut – die Sowjetunion mit ihren Panzern hat es rechtzeitig absichern können, es ist nichts passiert."
Die Mauer wird Realität – für manche Alltag und Selbstverständlichkeit. Hier in Tempelhof hat Sascha Niemann, Jahrgang 75, als Knirps im Hinterhof sein Unwesen getrieben.
Sascha Niemann
"Da habe ich immer Fußball gespielt, Fenster zerschossen, teilweise und Ärger mit dem Hausmeister gehabt."
Die kleine Tempelhofer Welt reicht ihm voll und ganz aus, damals in den Achtzigern. Die Kneipe im Erdgeschoss als soziales Zentrum der Straße, ab und zu mal zum Kudamm – ein Inselleben.
Sascha Niemann
"Das, was aus Westdeutschland immer so kam: Mensch ihr armen Westberliner, ihr habt’s doch so hart, die bösen Russen vor der Tür… dann noch irgendwie die Grenze usw.. ihr seid so stark begrenzt… Das fand ich ehrlich gesagt gar nicht – weil der kleine Raum, den wir halt in Westberlin hatten, eigentlich war aus meiner Sicht alles da. Aber ich kannte auch nicht viel."
Als die kleine Welt sich dann fundamental ändert, sorgen die Fernsehbilder in Tempelhof eher für Irritation. Die kleine Welt beginnt sich aufzulösen.
Sascha Niemann
"Mein erster Ausspruch war damals quer übern Flur zu meiner Mutter, die mit ‘ner Nachbarin dastand: Äh, Mama, hier stimmt irgendwas nicht. Nicht so von wegen: Geil, die Mauer ist auf, sondern: Hier stimmt irgendwas nicht. Meine Mutter kam irgendwie über den Flur angerannt, guckte sich irgendwie die Bilder an aufm kleinen Fernseher und brüllte denselben Spruch rüber zur Nachbarin: Irmchen, komm rüber, hier stimmt was nicht."
Die Kindheiten sind so vielfältig wie die Stadt groß ist – auch neuere Geschichten werden im Projekt erzählt. In Reinickendorf verbringt der türkischstämmige Tugay Sarac, Jahrgang 1997, seine ersten Jahre.
Tugay Sarac
"Meine Familie ist ja in den 60er Jahren nach Deutschland gekommen. Aus Dörfern, zwei Dörfern… aus den Bergen. Und die sind hierhergekommen und haben sich eigentlich nicht – ich sag mal – weiterentwickelt von da an. Das sind dann alte Werte… Zum Beispiel: Du mußt heiraten, Homosexualität geht gar nicht."
Tugay Sarac ist LGBTQ-Beauftragter einer liberalen Berliner Moschee – er ist schwul. Muslimisch und queer, das hat ihn als Jugendlichen in seinem Umfeld fast zerrissen.
Tugay Sarac
"Das war sehr irritierend für mich, ich fand das gar nicht okay, und wollte es dann auch verändern. Und das habe ich versucht, indem ich immer religiöser und konservativer wurde und irgendwie versucht habe, das wegzubeten. So war das dann für mich."
Die Freiheit ist auf der Straße – so heißt das Buch, in dem diese und andere Geschichten versammelt sind. Nur - heute gehört die Straße den Autos – oder wie sehen das die Kinder von heute?
Marieke
"Eigentlich spiele ich gar nicht auf der Straße. Das würde natürlich schön sein, wenn man es ändern würde, dass man vielleicht einfach nicht auch nur Autos hat, wo man vielleicht Angst hat, dass die einen gleich überfahren, wenn man nicht mal aufpaßt."
Und dennoch: Irgendwie gibt Berlin dem Taufschein oder der Geburtsurkunde noch immer die besondere Würze.
Autor: Steffen Prell