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Vor 70 Jahren erhoben sich in der DDR Bürgerinnen und Bürger gegen das SED Regime. Der Anlass war eine Erhöhung der Arbeitsnormen. Aber schnell richtete sich der Protest auch gegen die Unterdrückung durch die Regierung. Die Proteste wurden auch mit Hilfe sowjetischer Panzer niedergeschlagen, es gab dutzende Tote, hunderte wurden eingesperrt. Nun hat der Historiker Ronny Heidenreich im Bundesarchiv zahlreiche Akten und Dokumente zum 17. Juni entdeckt, die zeigen, wie unterschiedlich die dramatischen Ereignisse von der DDR und in der Bundesrepublik gesehen wurden und wie die jeweiligen Geheimdienste den Aufstand in der DDR für eigene Zwecke nutzten.
Berlin, Check Point Charlie am 17. Juni 1953. Diese Fotos hat Ronny Heidenreich jetzt erstmals öffentlich gemacht. Eine Sensation für den Historiker, sie stammen von einem Spitzel des westdeutschen Verfassungsschutzes und wurden damals vermutlich Kanzler Adenauer direkt vorgelegt. Ronny Heidenreich hat sie im Archiv des Bundeskanzleramts entdeckt.
Ronny Heidenreich, Historiker
"Wenn man sich das Foto anschaut, haben die sowjetischen Panzer in dem Moment zwei Straßenzüge weiter in Richtung ostberliner Innenstadt gestanden. Und man sieht auch, wie die Menschenmasse aus Ostberlin zurückweicht Richtung Westsektoren, um sich in Sicherheit zu bringen."
10 Minuten zu Fuß vom Checkpoint, das Finanzministerium. 1953 war es der Sitz der DDR-Regierung. Hierher zogen die Demonstranten, forderten bessere Arbeits- und Lebensbedingungen – und freie Wahlen.
Ronny Heidenreich hat Aussagen von Augenzeugen zusammengetragen und Berichte von Spionen. Eine V-Frau mit dem Decknamen Herta Müller hat direkt aus dem ostdeutschen Regierungssitz an den Westen berichtet.
Ronny Heidenreich, Historiker
"Wir wissen nicht genau, wer diese Frau war, weil sie eine Spionin einer westlichen Organisation war, die hier im Haus der Ministerien vermutlich als Sekretärin gearbeitet hat. Und Herta Müllers Büro muss irgendwo hier gelegen haben, denn sie hatte einen Blick auf die Leipziger Straße, Wilhelmstraße, also genau von da, wo die Demonstrationszüge am 16., 17. Juni hier sich vor dem Haus der Ministerien gesammelt haben."
Ausschnitt Bericht von Herta Müller
"Um 8.30 Uhr kam in der Leipziger Straße aus Richtung Friedrichstraße ein Zug Demonstranten in Straßenbreite. Er reichte etwa von der Post Krausenstraße bis zum Ministerium. Es waren Arbeiter der verschiedensten Betriebe und aller Berufe. Auch Frauen und Jugendliche."
Ronny Heidenreich, Historiker
"Man kann sich vorstellen, dass die Atmosphäre in den Vormittagsstunden des 17. Juni hier sehr aufgebracht war. Der Platz voller Menschen, keiner weiß so richtig, was passiert auch nicht, wie die Staatsmacht auf diese Demonstration reagiert. Insofern kann man davon ausgehen, dass hier eine sehr, sehr angespannte Stimmung herrschte."
Lutz Rackow war im Juni 1953 Wirtschaftsredakteur bei der Tageszeitung "Der Morgen". Der damals 21-Jährige ist schon am 16. Juni dabei, als die Bauarbeiter aus der Stalinallee den Protest in Berlin beginnen. Sie fordern die Rücknahme der Normerhöhung, die eine Kürzung der Löhne bedeutet.
Lutz Rackow, Zeitzeuge / Journalist
"Ich bin durch meinen Bruder, der Bauführer war an der Stalinallee darauf aufmerksam gemacht geworden, dass die Demonstration abläuft. Und als am nächsten Tag, das ganze Land man kann schon sagen in Brand stand, da konnte man dann wirklich davon ausgehen, dass der 16. die Initialzündung für den 17. war, und damit war nicht zu rechnen. Ich war dabei und habe auch nicht damit gerechnet."
Auch die SED-Führung ist überrascht. Obwohl sie am Nachmittag des 16. Juni die Normerhöhung zurücknimmt, eskaliert der Protest. Denn es geht um mehr als nur die Norm.
Ronny Heidenreich, Historiker
"Was man ganz klar sieht in diesen Augenzeugenberichten ist, dass es einfach die Lebensumstände waren und die Erfahrung, die die Leute mit dem SED-Regime gemacht haben, die sie auf die Straße bringen. Das heißt Mangelversorgung, Bevormundung, schlechte Lebensbedingungen. Und ja auch das Versprechen, was die SED ja offiziell propagiert, dass man durch harte Arbeit zu einer lichteren Zukunft kommt, dass das alles nicht eingelöst wurde, und dass der 17. Juni, sozusagen als Ventil auch genutzt wird, um diesem Unmut Luft zu machen."
Den Stimmen der Menschen auf der Straße stellt Ronny Heidenreich in seiner nun veröffentlichten Edition die Sichtweise der Geheimdienste gegenüber. Die Berichte der SED sind seit 1989 zugänglich. Die westdeutschen Geheimdienste aber halten ihre Unterlagen bis heute unter Verschluss. Als Ronny Heidenreich bei einem Forschungsprojekt im Archiv des Kanzleramts die Berichte des BND und des Verfassungsschutzes findet, sorgt er für ihre Veröffentlichung.
Ronny Heidenreich, Historiker
"Zum Beispiel diese Quelle hier: eine Meldung der Organisation Gehlen also des BND-Vorläufers an das Kanzleramts, in dem die Organisation Gehlen noch eine Woche nach dem Volksaufstand versucht nachzuweisen, dass dieser Aufstand von den Sowjets angezettelt wurde, um die SED zu stürzen. Und als ich das gelesen habe, da war ich konsterniert."
Ausschnitt Organisation Gehlen, 18. Juni 1953
"Der Anstoß ist von sowjetischer Seite erfolgt.
Die deutschen Arbeiter haben die Demonstrationen schnell in weit stärkerem Maße zu ihrer Sache gemacht, als es die Absicht der Sowjets war. Die Entwicklung ist den Sowjets entglitten."
Ronny Heidenreich, Historiker
"Man wusste ein bisschen aus der Literatur, dass es Fehleinschätzung westlicher Dienste auch gegeben haben könnte, aber in der Deutlichkeit und auch in den Argumenten, die bemüht werden. Das war wirklich beeindruckt."
Fast alle Geheimdienste sehen den Volksaufstand durch ihre ideologische Brille. Wie mutig die Menschen Freiheit und ein anderes Leben fordern, wird verdrängt.
Ronny Heidenreich, Historiker
"Und das ist ja auch ein wesentlicher Punkt, der die Fehleinschätzung der Geheimdienste über den 17. Juni so maßgeblich beeinflusst. Sie nehmen die Bevölkerung als Akteur nämlich nicht ernst. Die SED tut das ein bisschen, indem sie darauf schauen, wie entwickelt sich die Stimmung in der Bevölkerung, ohne danach zu arbeiten. Bei den westdeutschen Geheimdiensten sehen wir ganz deutlich, sie nehmen die Bevölkerung nicht ernst und glauben, dass sich diese DDR einfach auf Gewalt gründet und diese Gewalt die DDR auch zusammenhält."
Nach dem Volksaufstand verhaftete die Polizei im Osten etwa 15.000 Menschen. Zur Abschreckung werden einige Todesurteile verhängt.
Der 17. Juni bleibt ein Trauma der SED-Führung und der Überwachungsapparat der Stasi sorgt dafür, dass er sich nicht wiederholt. Trotzdem, der Volksaufstand kann als Erfolg der DDR-Bürger gesehen werden, denn von der totalitären, stalinistischen Linie wendet sich die SED ab.
Ronny Heidenreich, Historiker
"Der 17. Juni hat gezeigt, dass die Lebensumstände die Menschen auf die Straßen getrieben haben. Und weil sie keine andere Möglichkeit hatten mitzugestalten, zu partizipieren, haben sie keinen anderen Ausweg gesehen, als den Versuch dieses Regime zu stürzen. Ich denke, das was vom 17. Juni bleibt, ist die auch heute noch gültige Erfahrung, dass ein Staat nicht gegen seine Bürger regieren kann."
Autorin: Vera Drude