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Mit der Ausstellung "Nationalgalerie. Eine Sammlung für das 21. Jahrhundert" präsentiert der Hamburger Bahnhof einen Querschnitt seiner Sammlungen. Dabei sind auch viele Neuentdeckungen. Zum Beispiel Selma Selman. Die Neu-Berlinerin stammt aus eine Roma-Familie in Bosnien-Herzegowina und ihre Kunst bezieht sich auf eine verbreitete Lebensgrundlage der Roma auf dem Balkan: das Sammeln von Altmetall. Selma Selman zerschneidet für ihre Installation Autowracks. Nach dem Vorbild ihrer Familie, entfernt sie die Katalysatoren, die wertvolle Edelmetalle wie Platin oder Rhodium enthalten. Daraus macht sie einen kostbaren Edelmetallklumpen. Seit etwa 100 Jahren versorgen sich die Roma durch Recycling. Doch erst in jüngster Zeit wird der ökonomische, ökologische und mit Selma Selman nun auch künstlerische Wert dieser Praxis erkennbar.
Manche nennen sie respektvoll "die gefährlichste Frau der Welt": Selma Selman geht mit Axt und Flex auf Autos los. Oder sie brüllt Passanten während des Wahltags in Washington an.
"Ihr habt keine Ahnung!", brüllt sie. "Nicht vom Präsidenten, nicht vom Leben, von Nichts." Und wenn Selma Selman Waschmaschinen auseinandernimmt, nennt sie es "Selbst-Portrait." Kein Zweifel: diese wütende Künstlerin hat sich in der Welt durchgeboxt.
Selma Selman, Künstlerin
"Die gefährlichste Frau zu sein, das kann vieles bedeuten. Mit deinem Wissen zu kämpfen, zum Beispiel, wenn du Bücher liest, erfolgreich bist, Geld machst, bist du eine Gefahr für die Gesellschaft. Wenn du deine Stimme erhebst und die Wahrheit sagst, bist du auch eine Gefahr für die Gesellschaft. Ich schätze, das ist es, was die Leute fürchten."
Selma Selman, 1991 geboren in Bihać, stammt aus einer Roma-Familie. Sie hat in New York und Amsterdam studiert, zig Preise gewonnen und stellt international aus. Jetzt auch hier: im Hamburger Bahnhof.
Vorsicht Kunst! Und Schwerstarbeit: 750 Kilo wiegen die Teile ihrer neuesten Arbeit.
Selma Selman, Künstlerin
"Sie sind unkaputtbar, das ist das Schöne an meinen Skulpturen: du kannst sie nicht zerstören. Ich kann sie immer wieder so zurichten, dass sie genauso aussehen, wie ich will."
Insgesamt fünf Autowracks müssen ins Museum – ob sie Platz haben werden? Selma Selman ist etwas nervös, ob das klappen wird. Vorab hat sie den Schrottautos schon das Wertvollste entnommen, seltene Edelmetalle.
Selma Selman, Künstlerin
"Hier ist der Katalysator; alle Autos haben einen. Darin sammelt sich schwarzer Russ und seltene Edelmetalle. Ich habe sie extrahiert und eine Art Goldstück gewonnen. Ich interessiere mich total für Alchimie und Wissenschaften. Schaut aus wie ein Fötus, ein wiedergeborenes Ding."
Selma Selman versteht ihre Kunst als Statement für Recycling, als Kritik an der globalen Müllwirtschaft. Aber auch als Schlag gegen die patriarchale Welt. Ihre ganze Familie lebt davon, schrottreife Autos auszuschlachten – Selma verwandelt diese harte und dreckige Arbeit in eine Kunst-Performance. Gemeinsam mit ihrem Vater, dem Bruder und Nachbarn.
Selma Selman, Künstlerin
"Da vermischen sich zwei Lebenswelten. Das, was mein Vater in seinem Dorf macht, landet jetzt im Museum. Das Schöne daran, diese Arbeit, die so wenig respektiert wird, wird nun in einer der privilegiertesten Gesellschaften anerkannt."
Es war nicht einfach, hier anzukommen, als Frau, als Künstlerin, als Roma. Ihre Familie, die Herkunft ist Selma Selmans Arbeitsmaterial. Dieses Zimmer in Pink hat sie für ihre Mutter gemacht – Kunst zum Bewohnen. Ein Traum-Zimmer, das die früh verheiratete Mutter nie hatte.
Selma Selman, Künstlerin
"Mit dieser Arbeit gebe ich ihr ihre Unabhängigkeit zurück und ihre Identität."
Die Mutter liebt diesen Raum, ihre Freiheit. Ihrer Tochter hat sie früher immer gesagt, sie solle nicht so werden wie sie.
Selma Selman, Künstlerin
"Sie ist eine Helden-Mutter. Normalerweise sagen Eltern das nicht zu ihren Kindern. Im Gegenteil, sie sagen ihnen, was sie zu tun haben. Meine Mutter hatte nur das eine Ziel, ich sollte mehr werden als Ehefrau und Mutter. Ich sollte nicht auf andere Leute hören. Sie wollte, dass ich auf mich höre."
Selma Selman wurde immer von ihrer Familie unterstützt – und hat trotzdem gearbeitet: Kupferkabel aus Waschmaschinen geholt, um ihre Schule zu finanzieren. Inzwischen hat sie eine Stiftung gegründet, für die Mädchen ihres Dorfes, damit auch sie die Schule beenden können. Alles finanziert mit ihrer Kunst, die jetzt auch im Hamburger Bahnhof ausgestellt wird, als Teil der neupräsentierten Sammlung!
Catherine Nichols, Kuratorin
"Das hier soll der Schlusspunkt der Ausstellung sein, quasi der letzte Kick!"
Kunst für das 21. Jahrhundert wird präsentiert: Wolfgang Tillmanns, Katharina Sieverding, Mona Hatoum. Zusammengestellt unter der Leitung von Co-Direktor Sam Bardaouil. Aber wohin mit dieser Miniskulptur? Noch ist alles im Fluss, eine einzige Baustelle eben, passend zu Berlin. Diese Atmosphäre gefällt Selma Selman, gern würde sie umziehen, von Amsterdam nach Berlin.
Selma Selman, Künstlerin
"Deutschland präsentiert sich als Land von utopischer Glücklichkeit. In Berlin zu leben, das böte ein paar mehr Chancen. Aber ich bin noch nicht sicher, ob ich nach Berlin ziehe. Da ich einen Bosnischen Pass habe, ist es hart, die Papiere zu bekommen. Das ist der beängstigende Teil."
Hoffentlich lässt sich diese spannende Künstlerin davon nicht abschrecken – Selma Selman: die angeblich "gefährlichste" Frau der Kunstszene.
Autorin: Petra Dorrmann