-
Sind Tattoos Körperkunst? Der legendäre Tätowierer Henk Schiffmacher behauptet zumindest, dass Vincent van Gogh heute seine Bilder in die Haut stechen würde. Eine neue ARD-Kulturdokureihe gibt spannende Einblicke, wie und warum sich die Menschen mit Nadeln und Farbe verschönern lassen.
Die ersten Belege von Tätowierungen lassen sich 12.000 Jahre zurückverfolgen – man sollte hier also nicht von einer Mode sprechen, eher von einem Bedürfnis. Warum also lassen sich Menschen tätowieren? Ist es eine Botschaft an andere? Will man zeigen, wer man ist? Oder vielleicht auch lieber vergessen, wer man von dem Tattoo war?
Daniel Bluebird, Tätowierer
"Magst du direkt mal aufstehen, dann können wir sehen, wie wir weitermachen heute."
Corinna hat sich als junges Mädchen an Armen und Beinen Schnittwunden zugefügt, in dem sie sich immer wieder selbst mit spitzen Gegenständen verletzt hat. Solange die Narben da sind, ist diese Verletzlichkeit präsent. Für sie und andere. Wie ein Schatten. Jetzt geht sie zum "Cover Up", zum Überstechen, wie das beim Tätowieren heißt.
Daniel Bluebird, Tätowierer
"Als Corinna sich gemeldet hatte, da war sie glaube ich noch gar nicht tätowiert. Sie schickte mit einem langen entsprechenden Text, wo sie mir auch gleich ein bisschen was über sich erzählte. Die Geschichte war sehr persönlich und die Narben sind, ja, eindrucksvoll."
Daniel Bluebird ist einer der wenigen Tätowierer, die solche Motive stechen. Narben machen das Auftragen von Farbe kompliziert, weil die Haut erhaben ist. 5,6 Millionen Menschen sind in Deutschland von Selbstverletzungen betroffen: Leistungsdruck, Traumata, Unzufriedenheit. Daniel Bluebirds Buch "Überwunden" zeigt Haut als Krisengebiet und wie Farbe zur Heilung beiträgt.
Henk Schiffmacher, Tattoo-Legende
"Ich bin mir sicher, dass Tattoos Leben verändern. Sie können Menschen komplett verändern, die zum Beispiel die gemobbt wurden – oder psychische Probleme hatten. Tattoos werden häufiger in schwierigen Lebensphasen gemacht: In der Pubertät, in der Midlife-Crisis. Es gab immer schon Zeiten in denen Menschen Antworten und Hilfe in Tätowierungen gesucht haben."
Corinna
"Die Vergangenheit ist abgeschlossen, das kann man jetzt zuklappen. Und das ist jetzt meine neue Haut. Also es fühlt sich an, als hätte ich eine neue Haut geschenkt bekommen. Das kann ich nicht so ganz in Worte fassen, wie viel mir das bedeutet. Bitte schön. Tut mir leid."
Tattoo-Studios sind intime Orte. Die Doku-Reihe "Flaesh" erzählt episodenhaft von Tätowierern und ihren Kunden und verhandelt – ganz nebenbei – gesellschaftliche Fragen. Zum Beispiel ob ein japanisches Tigermotiv auf einem deutschen Rücken schon Aneignung oder Ehrerbietung für eine alte Kulturtechnik ist?
Toshihide, Tätowierer aus Japan
"Also, diese Nadeln kann man nicht kaufen. Bzw. sie werden auch von niemandem verkauft. Denn bei jedem Horishi-Tätowierer, je nach Familientradition, unterscheidet sich die Herstellungsweise der Nadel."
Tebori heißt dieses traditionelle Verfahren, es wird von Hand gestochen und in Japan von Meister zu Schüler weitergegeben. In so einem Motiv stecken 60 Stunden Schmerz, allein das verändert ein Leben. Solche Tattoos sind in Japan Clan-Zeichen, sie stehen für die Yakuza, für die Gesetzlosen, in Europa sind sie extrem populär.
Toshihide, Tätowierer aus Japan
"Tatsächlich hat mein eigener Vater mich gefragt, was das denn solle, als ich ihm erzählte, dass ich nach Deutschland gehen will, um als Tätowierer zu arbeiten. Wieso? Wozu? Was wollen denn irgendwelche Ausländer mit japanischer Tattookunst? Was soll es denn bitte für einen Sinn haben, Ausländer zu tätowieren?"
Allerdings, sagt Toshihide, verstünden manche seiner Berliner Kunden mehr von japanischer Kultur, als die Menschen in Japan. Sie lesen und kochen japanisch, sie reisen dorthin - mit ihren Tattoos. Vielleicht verändert das die Akzeptanz dafür in seinem Land?
Henk Schiffmacher, Tattoo-Legende
"Das Erste, wonach sich ein menschliches Wesen sehnt, ist, sich mit anderen auszutauschen. Denn sein Selbstwert ist abhängig von der Wertschätzung durch seine Mitmenschen. Tattoos helfen dabei, mit anderen zu kommunizieren und dem Gegenüber klarzumachen, wer man ist. Jeder hat eine Geschichte. Und das ist ein Weg, diese Geschichte zu erzählen."
Acht dieser Geschichten zeigt jetzt die ARD-Doku "Flaesh". In der Vertrautheit von kleinen Tattoo-Studios entstehen Motive, die von Verletzung, Aufbegehren und dem Kampf um Gleichberechtigung erzählen. Die Serie ist eine Gelegenheit Tätowierungen nicht als Gedankenlosigkeit abzutun und eine Antwort auf die Frage, warum sich dieses Phänomen so erstaunlich lange hält.
Autorin: Anika Mellin