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Die Premiere von "Floß der Medusa" ist ein künstlerisches Giga-Projekt. Wohl auch deshalb produziert die Komische Oper das Singspiel von Hans Werner Henze aus dem Jahr 1968 im riesigen Hangar 1 des Flughafen Tempelhof. Inhalt und Form sind radikal, es geht um die Kannibalismus-Geschichten rund um die Besatzung des 1816 gesunkenen französischen Schiffs "Medusa" vor der Küste Westafrikas.
Eigentlich lautet die Regel: vor einer Premiere bewertet man keine Inszenierung. Aber wir lehnen uns mal aus dem Fenster. Beeindruckenderes als dieses "Floß der Medusa" hat Berlin lange nicht erlebt. Ein Oratorium über Elend und Not - statt im Konzertsaal in Tempelhof.
Tobias Kratzer, Regisseur
"Es ist, ich würde sagen, ein Avantgarde-Blockbuster. Es ist ein Stück, das eigentlich für ein Orchesterpodium gedacht ist, also gar nicht szenisch. Und wenn man das szenisch umsetzt, dann ist es natürlich auch interessant, das in ein ganz anderes Ambiente zu setzen, weil man dann ganz andere Aspekte daran hervorkehren kann, als in nem ganz normalen Theater, wo – ich glaube – es nicht unbedingt auf den Spielplan gesetzt hätte, aber hier kommt man an diese rohen Urgewalten, die da in dem Stück bewegt werden, ganz anders ran."
Um das zu ermöglichen ist die Komische Oper bei ihrem Gastspiel in Tempelhof gewaltig in Vorleistung gegangen. Im Flughafenhangar ist eine kleine Opernstadt entstanden, mit Kantine, Garderoben, Requisite, Containern und und und.
Rainer Simon, Leiter Außenspielstätten
"Insgesamt, kann man sagen, 600 Personen gehen hier ein und aus, während der Proben- und Produktionszeit."
Und es musste schnell gehen. Zweieinhalb Wochen hat die erste Phase des Einbaus gedauert, dann begannen schon die Proben.
Rainer Simon, Leiter Außenspielstätten
"Es war sehr stressig, wir hatten ein sehr toughen Aufbauzeitplan, den wir strikt einhalten mussten, denn bei einer kleinen Verschiebung hat es gleich Konsequenzen für die anderen Gewerke."
Aufblasbare Gummischläuche helfen dabei, die hallige Akustik in den Griff zu bekommen. Und dann ist da natürlich das Wasserbecken – 160.000 Liter, für empfindliche Sängerlungen leicht angewärmt.
Rainer Simon, Leiter Außenspielstätten
"Wir sind jetzt bei 25 Grad Wassertemperatur, was so weit okay ist, also ein bisschen wärmer als im Prinzenbad ist es."
Puschen und Bademäntel in der Probenpause gehören hier dazu – es geht aufs Wasser. "Das Floß der Medusa", so heißt auch eines der berühmtesten Gemälde aus dem Louvre – 1816 werden die letzten Überlebenden eines Schiffsunglücks vor dem Senegal gerettet. Zwei Wochen waren sie hilflos auf dem Wasser getrieben. Kannibalismusberichte sorgten für Schaudern. Am Anfang der Inszenierung steht dieses Bild. Ein existenzielles Drama.
"Dieses ist die Seite der Lebenden – und dies ist die Seite der Toten… Drei Stunden später ist der Mut gesunken. Die Strömung ist zu stark, die Boote stehen unter vollen Segeln."
Kapitän und Offiziere des gesunkenen Schiffs hatten die Taue zwischen ihrem Rettungsboot und dem Floß gekappt und die anfangs 154 Menschen ihrem Schicksal überlassen. Klassenkampf.
"Jetzt war die Nacht…"
Hans Werner Henze (1972), Komponist
"Ich glaube, dass die Beziehung der Gegenwart zu sehen ist in dem Kampf der Dritten Welt um Überleben und um Leben überhaupt. Leben im Sinne von menschenwürdig leben können, sondern auch im Kampf von Minoritäten überhaupt."
Hat sich etwas zum Besseren verändert seit Hans Werner Henze 1968 dieses Stück komponiert hat? Die Bilder aus dem Mittelmeer sind omnipräsent bei diesem "Floß der Medusa". Eine Inszenierung von beklemmender Intensität.
"Kommt, ihr Zu-Viele, eure Zeit ist um."
Tobias Kratzer, Regisseur
"Es ist ein Stück, was sehr oft in Bezug auf eine Flüchtlingsproblematik gelesen wird. Ich glaube, es ist als Fabel oder Parabel sogar noch weitreichender. Es geht gar nicht rein um Klassismus. Es geht schon um Ressourcenknappheit, dass Wasser, Essen, Lebensraum auf dem Floß immer geringer wird und dass sozusagen ein Hauen und Stechen beginnt. Und das ist natürlich etwas, was man auf viele weltpolitische Themen übertragen kann, vielleicht auch auf ne ganz allgemeine conditio humana."
"Es ist die erste Nacht in der sie nichts getrunken haben."
Der Mensch wird des Menschen Wolf, im Kampf ums nackte Überleben. Bis das rettende Schiff am Horizont erblickt wird. Heute Abend werden die Premierengäste hier beim Gläschen Sekt anstoßen, direkt nebenan auf dem Flugfeld leben Flüchtlinge in ihren Containern. Ist das okay?
Tobias Kratzer, Regisseur
"Eigentlich bringt es ja nur nochmal ein Nebeneinander auf den Punkt, was man sonst vielleicht nicht so nah erlebt, aber was natürlich, wenn man in die Mitteldistanz zurückzoomt, ja eigentlich das Verhältnis der bürgerlichen Welt zu Geflüchteten auf den Punkt bringt. Also, ob das jetzt so nahe sich rückt: es macht ja eigentlich nur kenntlich, was ein grundsätzlicher Mechanismus der Gesellschaft ist."
Am Ende öffnet sich das Tor für die Geretteten – ein wenig Hoffnung für die Zukunft darf man trotz allem haben. Ein großer Wurf.
Autor: Steffen Prell