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In seinem neuen Buch "Die rissige Brücke über den Bosporus" analysiert der im berliner Exil lebende türkische Journalist Can Dündar die aktuelle Situation in der Türkei und den anhaltenden Erfolg von Präsident Erdogan vor dem Hintergrund der Entwicklung des türkischen Staats, der am 29. Oktober vor 100 Jahren gegründet wurde.
Über die Türkei hat Can Dündar hat schon einige Bücher geschrieben. Sein neuestes, zum 100. Geburtstag der Republik, beschreibt ein Land zwischen zwei Welten, Europa und Asien, West und Ost. Ein Land, das den Halt verliert. Es geht um Republikgründer Atatürk, den "Vater der Türken". Und immer wieder um Recep Tayyip Erdogan, den Präsidenten, der die Türken wie ein Autokrat regiert.
Unter ihm kehrt die Türkei zur Religion zurück: Ende der Frauenrechte und des weltlichen Staats? 100 Jahre moderne Türkei, das waren auch immer wieder Militärcoups, gewaltsame Auseinandersetzungen, Kämpfe um den richtigen Weg.
Die Zerrissenheit spiegelt sich in der türkischen Community auch in Berlin: Junge Türken tragen sie auf die Straße: Für oder gegen Erdogan.
Can Dündar, Journalist und Autor
"Ich glaube allerdings, weder die Deutschen noch die Türken – also die neue Generation türkischer Gastarbeiter – haben irgendeine Ahnung von der Geschichte. Ich dachte mir also: Schreib mal einen Guide für Anfänger!"
Seit sieben Jahren lebt der ehemalige Cumhurriyet-Chefredakteur in Berlin im Exil. Erdogan verfolgt Dündar, weil der 2015 über Waffenlieferungen an syrische Dschihadisten berichtete: Für ihn Journalistenpflicht, für Erdogan: Verrat.
Can Dündar kann nicht zurück in die Türkei. So arbeitet er hier, sendet aus dem eigenen Hörfunkstudio Botschaften nach dort. Sein neues Buch beginnt im Mai dieses Jahres, mit einem Moment großer Erwartung: Der Präsidentenwahl in Istanbul, die dann doch wieder ER gewinnt.
Es ist eine Nacht zwischen Hoffnung und Verzweiflung.
Can Dündar, Journalist und Autor
"Die Meinungsumfragen sahen Erdogans Herausforderer vorn. Auch wir waren optimistisch. Meine Frau hatte schon Tickets gekauft für unsere Rückkehr in die Türkei. Aber jetzt weiß ich: Autokratien, nicht nur in der Türkei sorgen schon dafür, dass ihre Gegner nicht gewinnen."
Mustafa Kemal Atatürk, der Begründer der Republik, modernisiert mit harter hand ein rückständiges Land, schaffte Kopftuch und Sultanat ab, reformiert die Türkei nach westlichem Vorbild. Für Can Dündar sind Atatürk und Erdogan die Symbolfiguren dieses heute so gespaltenen Landes.
Can Dündar, Journalist und Autor
"Die Türkei ist, jedenfalls noch das einzige demokratische und wirklich säkulare Land in der Islamischen Welt. Das ist sensationell. Das verdanken wir Atatürk. Doch diese Hoffnung stirbt. Wir geben den weltlichen Staat auf für einen religiösen. Und Erdogan sieht sich als den neuen Sultan."
Can Dündar beschreibt, wie Recip Tayyip Erdogan die Türkei nach seiner Vision umgebaut, nach und nach den Staat unter seine Kontrolle gebracht hat. Terroranschläge, der gescheiterte Putsch 2016 spielten ihm dabei in die Hände: Angst, schreibt Dündar, war der größte Player in der jüngeren türkischen Geschichte.
Can Dündar, Journalist und Autor
"Diese Angst vor Unsicherheit und Chaos lässt die Menschen einen Autokraten wählen, einen starken Führer. Wer der dann das Militär, die Polizei, den Geheimdienst und auch die Straße kontrolliert, wenn er auch noch mit der Mafia zusammenarbeitet - dann hat er gewonnen."
Gewonnen hat Erdogan auch bei vielen in Deutschland lebenden Türken. Wenn er im November wieder nach Berlin kommt, werden sich diese Bilder wohl wiederholen.
Can Dündar, Journalist und Autor
"Erdogan gibt diesen jungen Türken eine Identität. Das hat Deutschland nicht geschafft. Er lässt sie fühlen: Wir sind die Größten, unser Erdogan fordert die Welt heraus! Kanzlerin Merkel durfte auf seinem Thron sitzen. Und der neue Kanzler lud, kaum gewählt, Erdogan nach Deutschland ein. Das nennt man das Spiel der Macht. Und Erdogan hat es gewonnen."
Der Westen, glaubt Dündar, hat die Türkei nie gewollt. Aber um Europa die Geflüchteten vom Leib zu halten, war Erdogan der Richtige. Und vielleicht kann er uns sogar bei der Ukraine helfen? Was ist der Preis für all diese Partnerschaften?
Can Dündar, Journalist und Autor
"Ich frage: War es das wert? War es gut, dafür die Türkei zu verlieren? Den demokratischen Kräften dort die kalte Schulter zu zeigen, um Deals mit Erdogan zu machen?"
Can Dündar hat ein leidenschaftliches und spannendes Buch über die Türkei geschrieben – und über uns, wie wir auf sie blicken. Es gibt bittere Töne. Aber immer wieder die Hoffnung, dass die Geschichte eine neue, andere Richtung nimmt.
Autor: Andreas Lueg