Der 11-jährige Daniel findet seinen Vater…. tot…. Im Schnee.
 
"Maman!"

Wie und warum starb Samuel Maleski. Ein Unfall? Selbstmord? Wurde er aus dem Fenster gestoßen? Die Autopsie schafft keine Klarheit über die Todesursache. Was also ist passiert im abgelegenen Chalet in den französischen Alpen, wo Samuel mit Sohn und Ehefrau Sandra, einer erfolgreichen Schriftstellerin lebte. Sie gerät unter Tatverdacht, wird des Mordes angeklagt. Die französische Regisseurin Justine Triet hat mit "Anatomie eines Falls" einen Thriller auf die Leinwand gebracht, der dunkle Familiengeheimnisse enthüllt.
 
Justine Triet, Regisseurin
 
"Ich wollte das Leben dieser Frau und ihres Partners aufdecken in Form eines Gerichtsfilms, und die Zuschauer sollten die Rolle der Geschworenen einnehmen. Alles sollte bis in die kleinsten Winkel ausgeleuchtet werden, dabei die Hauptfigur mysteriös und schwer greifbar bleiben."
 
Was geht in der Angeklagten vor, die mal kühl und kontrolliert, mal verzweifelt wirkt? Wie ihr Mann zu Tode stürzte, lässt sich nicht eindeutig rekonstruieren.
 
"Es gibt zwei mögliche Erklärungen für die drei Blutspritzer. Entweder stammen sie von hier, und damit von einem Schlag auf Mr. Maleskis Kopf. Oder sie stammen vom Aufprall auf den Rand dieses Daches."
 
Auf der Suche nach einem möglichen Mordmotiv seziert das Gericht die Familienverhältnisse der Angeklagten. Ihre Beziehung zu einem Mann, der wie sie Romane schreiben wollte, aber erfolglos blieb. Und zudem die Schuld trug an der Sehbehinderung des gemeinsamen Sohnes:
 
"Waren Sie wütend auf Ihren Mann nach dem tragischen Unfall Ihres Sohnes?"
 
- "Ja, für einige Tage."
 
"Nur einige Tage? Ihr Sohn ist fast erblindet, und Sie waren nur einige Tage wütend?"
 
Intime Details einer ungleichen Beziehung kommen zutage. Sie, berühmt! Betrügt ihn - er frustriert und tablettensüchtig. Wer schuldet wem was?
 
Justine Triet, Regisseurin
 
"Die Ermittlungen im Film legen Schicht für Schicht die Abgründe dieser Familie frei. Aber anders als in den meisten Gerichtsdramen, bei denen allmählich die Wahrheit zu Tage tritt, werden die Dinge hier immer komplexer. Je mehr man erfährt, desto weniger weiß man am Ende."
 
Sandra Hüller bringt diese Ambivalenzen brillant auf die Leinwand. Der Film "Anatomie eines Falls" erhielt in Cannes die Goldene Palme, sie wurde jüngst beim Filmfest in Hamburg als eine der herausragendsten europäischen Schauspielerinnen ausgezeichnet. Das französische Kinopublikum liebt den Star aus Deutschland. Für die Regisseurin: die Idealbesetzung.
 
Justine Triet, Regisseurin
 
"Ich hatte sie von Anfang an im Kopf, weil sie gleichzeitig freundlich und distanziert wirkt. Mir gefällt an ihr, dass sie nicht versucht, zu verführen. Sandra ist einfach sie selbst. Wir haben im Film so wenig Make-up wie möglich verwendet. Ein typisch weibliches Klischee hätte auch nicht zu ihrer Rolle gepasst."
 
Ein heimlich vom Ehemann aufgezeichneter Streit lässt das Pendel auf die "Schuldig"-Seite kippen.
 
"Du bist ein Monster, selbst Daniel sagt das!"
 
- "Er spürt deine Schuldgefühle und versucht, sie dir zu nehmen, merkst du das nicht?"
 
"Du bist brutal!"
 
- "Ja, ich bin brutal!"
 
Justine Triet, Regisseurin
 
"Seltsamerweise schafft es Sandra, obwohl sie in dieser Szene ziemlich unsympathisch wirkt, die Mehrheit der Zuschauer auf ihre Seite zu ziehen. Viele haben mir gesagt, dass sie im Kinosaal zu ihr gehalten haben. Das scheint paradox, aber ihre Figur strahlt etwas zutiefst Menschliches aus. Sie argumentiert, weiß sich zu verteidigen."
 
"Manchmal ist ein Paar ein einziges Chaos. Und manchmal kämpfen wir miteinander, manchmal kämpfen wir allein, und manchmal kämpfen wir gegeneinander."
 
Was wirklich geschah? Ob schuldig oder nicht?...bleibt in der Schwebe. Und wir? dürfen ihr glauben oder nicht.

Autorin: Hilka Sinning