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So einen Sound hat man aus Berlin schon länger nicht gehört: schmachtende Gitarren, Orgel oder Harfe. Dazu die melancholische Stimme von Ilgen-Nur, die vom Blick durchs Autofenster erzählt und vom lila Mondlicht. Es klingt nach Wüste und nach dem US-Folk einer Joni Mitchell. Dabei ist Ilgen-Nur mit türkischer Musik im Schwäbischen aufgewachsen, bevor sie über Stuttgart und Hamburg in Berlin landete. Nur um gleich wieder ein paar Monate in Los Angeles zu verbringen. Dort und im Funkhaus-Studio in Oberschöneweide hat sie jetzt ihr neues Album "It’s all happening" produziert. Ein Brückenschlag zwischen zwei Musik-Szenen, der cool und grandios geraten ist.
Berlin ist oft kalt, wie heute im Volkspark Friedrichshain. Auch deshalb ist Ilgen-Nur für ihr neues Album an ihren Sehnsuchtsort gefahren: Los Angeles.
Ilgen-Nur, Musikerin
"Ich glaube, es hätte nur da entstehen können, weil ich viele der Songs dort geschrieben habe, eben auch über die Landschaft dort, die Berglandschaft und das Meer. Und es hat sich richtig angefühlt, das eben dort festzuhalten, wo ich es auch gefühlt und geschrieben habe. Und ich glaube, es wäre nicht das Gleiche gewesen, hätte ich es später in Berlin aufgenommen. Ich glaube, man spürt die Wärme von der Sonne in ein paar der Songs."
Musik, die nach früher klingt. Wie zu einem 80er Jahre Road-Trip. Das Video wurde mit einer alten VHS-Kamera aufgenommen. Ilgen-Nur auf der Suche nach einem Gefühl weit weg von ihrer Berliner Gegenwart.
Ilgen-Nur, Musikerin
"Irgendwie ist es eine Art Kulisse oder ein Ort, in dem ich mich irgendwie entfalten kann, der vielleicht auch nichts mit meiner deutschen, meiner türkischen Identität zu tun hat. Wahrscheinlich deshalb. Und das ist vielleicht auch eines der Gründe, warum ich vielleicht auch auf Englisch singe, weil sie es mir komfortabel anfühlt und weil sie es anders anfühlt und weil es nicht so direkt nah an mir dran ist. Ich bin einfach so ein extrem sensibler, emotionaler Mensch. Ich brauche mal so ein bisschen einen kleinen Abstand zu der Welt und zu den Dingen."
Schon bei ihrem Debütalbum vor vier Jahren, sucht sie ein Kulisse weit weg vom Zuhause: in New York. Die Kritik in Deutschland feiert sie derweil als Königin des Indie-Sounds.
Ilgen-Nur, Musikerin
"Ich weiß nicht, Kritiker-Liebling sein, wie du sagst. Ich freue mich, wenn die Leute verstehen, was ich zu sagen habe oder was ich empfinde und fühle mich dann verstanden. Und das bedeutet mir viel. Gleichzeitig kann ich fünf gute Kritiken lesen. Dann lese ich einen Kommentar, wo ich krass beleidigt werde aufgrund meines Namens oder meiner Musik, was auch immer. Solche anderen negativen Sachen bleiben einfach viel mehr bei mir hängen als die positiven, was total schade ist."
Aufgewachsen ist Ilgen-Nur in einem Dorf in Baden-Württemberg. Ihre Eltern hören türkisches Radio, die Schwester Klassik.
Schon bald zieht es sie in die Stadt: erst Hamburg, dann Berlin. Jetzt L.A. Dort spürt sie eine besondere Nähe zu ihren Idolen: Joni Mitchel zum Beispiel. Oder Eliott Smith.
Ilgen-Nur, Musikerin
"Ich bin fast jeden Tag an dieser Figur-Eight-Wand vorbeigefahren, wo er jetzt einzelne Albumcover fotografiert hat. Das Gleiche mit Joni Mitchell. Ich bin oft an dem Haus vorbeigefahren und war auch an Orten, in denen sie wahrscheinlich Zeit verbracht hat. Es gibt auf jeden Fall in meinen Songs auch immer wieder Textzeilen oder kleine Melodien, die immer Referenzen sind, für die Musiker, die mich irgendwie inspiriert haben zum Schreiben, deren Musik mir einfach viel bedeutet und deren Songs mich auch in dieser Zeit begleitet haben."
Kalifornien war eigentlich gar nicht geplant. 2020 wird Ilgen-Nur in die USA eingeladen. Das Konzert wird wegen Corona abgesagt, doch sie bleibt einfach. Drei Monate später, zurück in Berlin, fängt sie an über diese Zeit zu schreiben. Sie fährt wieder nach L.A., wo schließlich ein ganzes Album entsteht: "It’s all happening" – "es passiert alles".
Ilgen-Nur, Musikerin
"Es war erst ein Satz, den ich mir oft selber viel gesagt habe, um mich an die Gegenwart zu erinnern. Und es ist für mich eben so eine Erinnerung, dass alles passiert und passieren wird und passiert ist. Was ich gefühlt habe, habe ich festgehalten in diesen Songs. Und wir sitzen jetzt hier und die Tage vergehen, die Monate vergehen. Also was habe ich überhaupt gemacht? Was habe ich dieses Jahr gemacht?Erstmal habe ich das und das und das erlebt und das und das und das verarbeitet. Und ja, dadurch, dass wir auch den ganzen Tag am Handy sind und unsere Birne wegscrollen, ich auch, bleiben wenige Momente, manchmal zum Reflektieren, aber die sind eben essenziell."
Ilgen-Nur, Musikerin
"Dieses Jahr alleine ist einfach so unfassbar viel passiert auf dieser Welt, was einfach erschütternd ist und uns zweifeln lässt, an der Menschheit und an der Art und Weise, wie wir mit dem Planeten umgehen und mit unseren Mitmenschen umgehen. Es ist auf jeden Fall etwas, was ich immer verarbeite, würde aber behaupten, dass ich versuche mit Musik, ob ich sie jetzt höre oder schreibe, doch irgendwie so einen Raum zu kreieren, in dem ich kurz frei sein kann oder nicht darüber nachdenke."
Ilgen-Nurs Musik ist auf eine wunderbare Art "aus der Zeit gefallen". Ein cooler Sound zwischen der Sonne Kaliforniens - und dem Herbst von Berlin.
Autor: Max Burk