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Vor 100 Jahren kostete eine Hungersnot in der Sowjetunion zwischen 1921 und 1923 rund 5 Millionen Menschen das Leben. Doch das Leid der Menschen findet in den russischen Geschichtsbüchern ebenso wenig Platz wie die internationale Solidarität aus dem Westen, die Hunderttausende gerettet hat – trotz der divergierenden politischen Systeme. Davon erzählt jetzt eine unabhängige russische Doku, die über Crowdfunding ermöglicht wurde – und in russischen Kinos nicht gezeigt werden darf.
Maksim Kurnikov will sich lieber draußen treffen in Berlin-Mitte. Er wirkt ganz entspannt – dabei gehört er zu denen, die aufpassen müssen. Wo das Studio von Radio Echo, sein Arbeitsplatz, genau liegt - das verrät er vorher nicht. "Echo" ist ein kremlkritischer Radiosender – in Russland ist er abgeschaltet worden. Aber er sendet weiter, über eine App.
Maksim Kurnikov, Journalist und Regisseur
"Hier steht "Echo", das Logo unserer App – es gibt sie seit einem Jahr. In der Woche, als wir sie veröffentlicht haben, war sie die Nummer eins in den russischen App Stores und im russischen Google Play Store. Wir haben viele Hörer in Russland."
Seit anderthalb Jahren lebt Maksim Kurnikov in Deutschland. Nach dem Beginn des Angriffs auf die Ukraine hat er Russland schnell verlassen. In Berlin arbeitet er inzwischen beim russischsprachigen YouTube-Kanal der Bild-Zeitung – und für "Echo" - gegen die Propaganda der Putin-Regierung.
Er ist aber auch Filmregisseur. "Famine" heißt die Dokumentation, die er als einer von drei Autoren gedreht hat. Es geht um eine fürchterliche Hungersnot in der Sowjetunion, die vor hundert Jahren Millionen Menschen das Leben kostete – ein verdrängtes Trauma. Auch Maksim Kurnikov weiß davon lange nichts - obwohl er Geschichte studiert hat. Die Entscheidung, sich des Themas anzunehmen, fällt, als er als Journalist miterlebt, wie importierte Lebensmittel auf Anweisung russischer Behörden vernichtet werden. 2015 war das, eine russische Antwort auf EU-Sanktionen.
Maksim Kurnikov, Journalist und Regisseur
"Sie sind mit Traktoren darübergefahren. Dieses Bild war so seltsam… Ich dachte: vor hundert Jahren sind hier viele Menschen in einer Hungersnot gestorben, und jetzt werden in diesem Land Lebensmittel zerstört. Da habe ich entschieden, darüber zu schreiben."
Nach jahrelanger Recherche ist auch ein Dokumentarfilm zum Thema entstanden, finanziert durch Crowdfunding. Ab 1921 breitet sich in der Wolgaregion die Hungersnot aus. Die Wirtschaft ist nach dem ersten Weltkrieg ruiniert, der Sommer ist trocken, die Bauern wehren sich gegen Kollektivierung.
Fünf Millionen Menschen sterben in den folgenden Jahren. Doch als das Filmteam diese verdrängte Geschichte recherchiert, wird es immer wieder behindert.
Maksim Kurnikov, Journalist und Regisseur
"Zweimal wollte uns die Polizei vom Filmen abhalten. Einige Museen und Archive haben uns den Zugang verwehrt. Als wir gefragt haben: Warum dürfen wir nicht bei euch filmen?, sagten sie uns hinter vorgehaltener Hand, dass der FSB, der Inlandsgeheimdienst, dahintersteckt. Das Thema ist verboten, wir dürfen nicht filmen."
Dennoch bringen die Filmemacher grausame Details ans Licht: Manche Hungernde wurden zu Kannibalen. In dieser Not half ausgerechnet der Klassenfeind USA. Eine amerikanische Hilfsorganisation baute mit russischen Helfern vor Ort Kantinen auf. Sie versorgen phasenweise zehn Millionen Menschen, vor allem Kinder, regelmäßig mit Essen. Doch dass die Sowjetunion die Krise nicht alleine meistert, passt nicht ins Weltbild.
Maksim Kurnikov, Journalist und Regisseur
"Was man an dieser Geschichte sieht, ist, dass Russland ruiniert war. Russland war schwach. Es herrschte Hunger. Aber die anderen Länder haben das nicht ausgenutzt. Sie haben einfach nur geholfen. Das hat alle sowjetische Propaganda zerstört."
Schon unter Stalin wird die Erinnerung an diese düstere Zeit systematisch verdrängt. Und heute? Vom schwachen Russland soll auch nach hundert Jahren niemand wissen. Schon einen Tag nach der Premiere in Moskau wird der Film in russischen Kinos verboten. Doch über YouTube findet er sein Publikum. Über zwei Millionen Aufrufe. Und tausende Kommentare, in denen Zuschauer traumatische Familiengeschichten erzählen.
Maksim Kurnikov, Journalist und Regisseur
"Er hat mir erzählt, dass sie Gras essen mussten und dass alle Kinder dadurch krank geworden sind."
"Wir hatten nicht erwartet, dass so viele Menschen den dringenden Wunsch hatten, endlich ihre Geschichten zu erzählen. Weil es in Russland eben ein verbotenes Thema ist."
Inzwischen ließe sich dieser Film gar nicht mehr drehen, sagt Maksim Kurnikov. Ein Film vom Leiden und Helfen, von den Nachwirkungen eines Krieges – kein Stoff von gestern.
Maksim Kurnikov, Journalist und Regisseur
"Als der Angriffskrieg gegen die Ukraine begann, haben wir gedacht: Das können wir vergessen. Niemand will gerade wissen, was vor 100 Jahren los war. Aber als der Film fertig war, haben wir gemerkt, dass es eine sehr wichtige Geschichte ist. Auch über das Heute."
Autor: Steffen Prell