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Weg, raus, ein neues Leben anfangen. Das ist schwer, vor allem, wenn in der eigenen Großfamilie Unterdrückung, Kriminalität und Gewalt zum Alltag gehören, wenn ein Leben nichts zu zählen scheint, schon gar nicht das, einer Frau. Latife Arab beschreibt in Ihrem Buch, wie sie es trotzdem geschafft hat, sich und ihre Kinder zu retten.
Sie will ihr Gesicht nicht zeigen. Aus gutem Grund: Wird sie erkannt, riskiert sie ihr Leben. Die Gefahr droht ihr von den eigenen Verwandten, einem weitverzweigten kriminellen Clan.
Latife Arab, Autorin
"Meine Familie hat zweimal versucht, mir das Leben zu nehmen. Ich habe beide Male überlebt. Ich habe Angst. Angst um meine Kinder, dass sie das erleben müssen, was ich erlebt habe."
Was sie erlebt hat, und wie es ihr gelang, sich aus den Fängen des Clans zu befreien, erzählt Latife Arab in ihrem Buch "Ein Leben zählt nichts". Mit 5 Jahren kam sie aus der Türkei nach Deutschland. Wuchs auf in einer abgeschotteten Welt, ohne Kontakt zu den Menschen vor Ort. Man brachte ihr bei, dass die Familie alles und sie selbst nichts wert sei und dass für Frauen andere Regeln gelten als für Männer.
Latife Arab, Autorin
"Eine Frau hat einen bestimmten Grund, warum sie auf der Welt ist, und zwar ganz einfach, der Familie zu dienen und Kinder für sie auf die Welt zu setzen. Je mehr Kinder, desto besser. Meine komplette Kindheit über dachte ich, es muss so sein, weil es ja die Männer so vorschreiben, weil die Männer das so vorleben, dass alles, was außerhalb dieser oder unserer Gesellschaft existiert, nicht dazu gehört."
Was in Latifes Parallelwelt geschieht, dringt nicht nach außen. Hinter verschlossenen Türen herrscht Gewalt. Dass Männer ihre Frauen, Eltern ihre Kinder krankenhausreif prügeln, ist üblich. Immer wieder müssen Latife, ihre Mutter und ihre Schwestern ärztlich behandelt werden.
Latife Arab, Autorin
"Zuschlagen mit voller Wucht ins Gesicht, wenn man auf dem Boden liegt, noch zutreten. Eine schwangere Frau - ist bei denen ja vollkommen egal. Sie tun dir Gewalt an bis zum Äußersten. Das geht bis zum Mord, um in der Familie etwas klarzustellen."
Die Anwältin und Frauenrechtlerin Seyran Ateş kennt solche Fälle. Sie hat mit Opfern gesprochen, aber auch mit Tätern, für die gilt: Wer nicht zuschlägt, ist kein Mann.
Seyran Ateş, Rechtsanwältin
"Die Gewalt ist ein System und ein wichtiger Pfeiler der patriarchalen Struktur, denn über diese Gewaltanwendung werden auch die Herrschaftsverhältnisse klar gesetzt. Die Frauen stehen unter den Männern und die Kinder wiederum ganz unten und der Mann ganz oben als Patriarch, entscheidet darüber, was eine Frau braucht."
Natürlich entscheidet Latifes Vater auch welchen Ehemann sie braucht - einen, der dem Clan nützt. Sie ist gewohnt, in die kriminellen Machenschaften der Verwandtschaft verwickelt zu werden. Muss Brüdern und Cousins Alibis geben, Botendienste verrichten. Regelmässig steht die Polizei vor der Tür, es gibt Razzien und Hausdurchsuchungen.
Latife Arab, Autorin
"Ich hab das schon als Kind mitgekriegt, wenn Sie dieses Klappern der Stiefel hören, und Sie sehen dieses Blaulicht am Fenster und Sie wissen ganz genau, was gleich in ihrer Wohnung passiert. Es war für mich die Hölle. Sie wollen rein, sie wollen gucken, hast du irgendwas, ob das jetzt Diebesgut war oder was auch immer."
All das will Latife Arab, inzwischen Mutter von drei Kindern, hinter sich lassen. Will selbstbestimmt leben. Sie versucht auszubrechen, immer wieder, so schreibt sie. Zieht in ein Frauenhaus, sucht sich Jobs. Und immer wieder wird sie bedroht und kehrt dennoch zur Familie zurück.
Syran Ateş, Rechtsanwältin
"Die Familie erlaubt das Ausbrechen nicht, weil jeder Mensch, der in diese Familie hineingeboren wurde, ist Eigentum von irgendjemandem innerhalb dieser Familienstruktur. Sie sind Teil eines Stammesdenkens, einer Stammeskultur, nämlich eines Clans. Wenn man anders tickt in so einer Familie, dann wird man zurechtgebogen, dann muss man diesen Menschen so weit brechen, dass er sich anpasst in den Strukturen des Clans."
In ihrem Buch beschreibt Latife Arab den langen, schmerzhaften Weg, den sie gehen musste, bis die Trennung von dem ungeliebten Ehemann und der Familie vollzogen war. Ein Weg, geprägt von Phasen der Resignation und Verzweiflung.
Latife Arab, Autorin
"Ich dachte mir am Ende, vielleicht macht es gar keinen Unterschied, ob sie mich umbringen oder ob ich mir das Leben nehme, damit das aufhört. Da war aber noch eine Sache, meine Kinder, meine Mädchen."
Ihre Töchter können heute in Freiheit leben. Doch der Clan ist immer präsent, schwebt über ihr wie eine unsichtbare schwarze Wolke. Was wird passieren, wenn das Buch erschienen ist? Dass "Latife Arab" ein Pseudonym ist, wird ihr wenig nützen.
Latife Arab, Autorin
"So wie ich sie kenne, werden sie früher oder später darauf kommen. Das ist klar aber ich hoffe, dass ich bis dahin so viele Leute erreicht habe, dass die das lesen, damit sie wissen, wenn sie das Wort "Clan" hören, was dahintersteckt."
Eine unerschrockene Frau, die aufklären und anderen Mut machen möchte.
Autorin: Hilka Sinning