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Immer wieder begegnet uns der Aufruf "Nie wieder ist jetzt". Wir sollen die deutsche Geschichte nicht vergessen. Doch diese Aufgabe ist in einer Medienwelt zwischen Tiktok und Fake-News immer herausfordernder. Jetzt gibt es neue Videospiele, die Geschichte anders und auch für Jüngere greifbar macht. Das Team von Playing History aus Berlin ist dafür für den Deutschen Computerspielpreis nominiert.
"Die Staatsführung wollte Proteste mit allen Mitteln unterbinden, die Leute rechneten mit dem Schlimmsten. Nun hing es von jedem Einzelnen ab, wie der Tag enden würde."
Oktober 1989 in Leipzig. Einen Tag der friedlichen Revolution spielbar machen – das wagt Martin Thiele-Schwez. Für eine Ausstellung im Deutschen Historischen Museum in Berlin hat er mit seinem Team das passende Spiel dazu entwickelt.
Martin Thiele-Schwez, Game-Producer
"Das Spiel stellt aber die Frage, wie hätte die Geschichte anders verlaufen können, hätten sich einzelne Akteure und Akteurinnen in gewissen Momenten der Geschichte anders verhalten? Und da reicht mitunter ein Bereitschaftspolizist, der in der Gemengelage die Nerven verliert, und schon hätte der ganze Tag für eine Vielzahl von Menschen anders aussehen können."
In Leipzig gehen 70.000 Menschen auf die Straße, um gegen die Staatsführung zu demonstrieren. Viele fürchten, dass die Proteste gewaltsam gestoppt werden. Die Spieler können in "Herbst 89", in sieben verschiedene Rollen schlüpfen und durch ihre Entscheidungen den Verlauf des Tages beeinflussen. Für die Entwickler ein Balanceakt zwischen Wahrheit und Fiktion. Dabei waren sie immer in engem Austausch mit Historikern.
Martin Thiele-Schwez, Game-Producer
"Sobald wir uns in dem Bereich bewegen, was hätte passieren können, bewegen wir uns automatisch im Bereich des Spekulativen und damit tun sich Historiker und Historikerinnen natürlich ein bisschen schwer. Deswegen haben wir uns nur sehr behutsam nach vorne gewagt und auch versucht, das möglichst quellennah zu prüfen."
Martin Thiele-Schwez will Geschichte leicht zugänglich machen. Hier in Berlin Kreuzberg hat er deshalb 2020 mit einem Freund ein Entwicklungs-Studio für Spiele gegründet: "Playing History".
Martin Thiele-Schwez, "Playing History"
"Gerade wenn wir beispielsweise an NS-Geschichte denken, sind wir damit konfrontiert, dass eben zunehmend Zeitzeuginnen und Zeitzeugen nicht mehr leben und dass wir gleichzeitig gucken müssen, auch in der Zeit von Fake News, dass Medien produziert werden, die auf eine sinnvolle Erinnerungskultur einzahlen und zugleich auch junge Zielgruppen abholen."
"Am 24. Oktober 1943 ist Anna in der Heil- und Pflegeanstalt Wehnen verstorben. Angeblich aufgrund einer Herz-Kreislauf-Schwäche. Ich begann nachzuforschen, zum Umgang der Nazis mit Behinderung, zu Wehnen, zu Anna."
Den richtigen Ton finden, wie hier bei nationalsozialistischen Verbrechen, darum geht es dem Team. Das Studio arbeitet immer wieder mit Gedenkstätten und Bildungseinrichtungen in Berlin und deutschlandweit zusammen, hier zum Beispiel zur Radikalisierung im Netz. Angefangen hat alles mit einem Brettspiel, das sie in einer Stasi-Akte entdecken, für Schulen bereiten sie es neu auf. In diesen sogenannten "Serious Games" geht es nicht allein um Unterhaltung. Die wirklich gelungenen Spiele sind für ihn:
Martin Thiele-Schwez, Game-Producer
"Oftmals sind es diejenigen Spiele, die uns auch als Spieler und Spielerin in moralische Dilemmata versetzen. Und dann passiert etwas ganz Schönes, nämlich dass wir uns selbst fragen: Was sind denn eigentlich unsere Werte? Was sind denn eigentlich unsere moralischen Leitplanken, auf Basis derer wir handeln?"
Mit einem Spiel zu Friedrich Ebert, dem ersten Reichspräsidenten der Weimarer Republik, sind sie aktuell für den Deutschen Computerspielpreis nominiert.
"Ich habe jetzt das Gefühl, wo ich die älteren Varianten kenne, wirkt das ganz glatte irgendwie unpassend."
Gerade arbeiten sie an einem Friedrich Ebert Kartenspiel.
Martin Thiele-Schwez, Game-Producer
"Ich glaube nur, dass das Leben und Wirken Eberts gerade darum heute sehr relevant ist, weil ich glaube, dass die Demokratie gerade bedroht ist von verschiedenen Kräften. Und das ist sehr sinnvoll ist, zu verstehen, wie die Weimarer Republik, wie Ebert damals für Demokratie arbeitete und wie auch damals schon Demokratie bedroht war und letztlich auch verloren ging."
Damit die Spiele auch an Schulen zum Einsatz kommen, liefern sie den Lehrern viele zusätzliche Materialien. Dort sind sie mit ihrem Zugang zur Geschichte sehr erfolgreich.
Martin Thiele-Schwez, Game-Producer
"Zudem haben wir die Erfahrung gemacht, dass gerade auch Schüler und Schülerinnen angesprochen werden, die vielleicht sonst vom normalen Schulunterricht ein bisschen abgehängt sind, die sich vielleicht weniger trauen, etwas zu sagen. Aber der Interaktionsraum Spiel ermöglicht es denen dann auch mal rauszukommen, sich mal einzubringen und irgendwas bleibt dann auf jeden Fall hängen."
Er ist sich bewusst, dass sie eine große Verantwortung haben, wie sie Geschichte erzählen. Für Museen offenbart die Zusammenarbeit ganz neue Ansätze, die Besucher einzubeziehen.
Elisabeth Breitkopf-Bruckschen, Deutsches Historisches Museum
"Nicht nur passiv sozusagen die Ausstellung zu rezipieren, sondern eben auch wirklich mit im Geschehen zu sein. Und das ist natürlich ein großes Potenzial, weil durch diese Interaktion natürlich noch mal ganz andere Lernprozesse in Gang gesetzt werden."
Für Martin Thiele-Schwez gibt es jedenfalls keinen Teil der Geschichte, den man nicht in einem Spiel erzählen könnte.
Autorin: Katharina Röben