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Schon seit Jahren setzt sich Katja Riemann für Menschen auf der Flucht ein. In ihrem neuen Buch beschreibt sie ihre Begegnungen in Lagern weltweit. Sie will vor allem erzählen, wie Menschen selbst an diesen Orten ihr Leben selbstbestimmt gestalten. Drastisch, ehrlich und überraschend.
Da unten stehen die Zelte, da unten sind die Menschen – Drohnenflüge sind ein Standard geworden, wenn es darum geht, starke Bilder zu produzieren. Doch es sind genau solche Aufnahmen, die Katja Riemann stören. Sie will sich distanzieren - vom distanzierten Blick.
Katja Riemann, Schauspielerin und Autorin
"Es gibt natürlich ein Bild, das ist ein Drohnenflug über die langen Reihen weißer UNHCR-Zelte und dadurch gibt es ja direkt so ne hierarchische Verschiebung zwischen uns hier oben, die wir auf andere hinabschauen.
Wir denken immer so separatistisch – da sind diese Menschen und die sind im Interim und die sind auf der Flucht und wir sind hier und leben in unserer schönen Demokratie – aber das ist ja gar nicht garantiert."
Und schon sind wir mitten im ernsten Thema. Katja Riemann hat ein Buch geschrieben, über das Leben in den Flüchtlingslagern, sie war dort, wo unsere Nachrichtenbilder herkommen. Ja, zugegeben, da denkt man als Erstes an das Leid, die Schicksale – doch Mitleid und Mitgefühl sind vergänglich in öffentlichen Debatten.
Katja Riemann, Schauspielerin und Autorin
"Wieso kann es sein, dass ich in den Gesprächen über das Buch, in einer Gesellschaft, die sich eindeutig nicht durch Gefühl leiten lässt, sondern eher durch Zynismus oder auch Abgrenzung oder Exklusion, wieso man dann immer danach fragt: wo war das Gefühl? Was haben Sie gefühlt? Warum fragt man sich das nicht selbst?
Ich habe kein Buch geschrieben über Misere. Ich bin nicht von einem Camp zum anderen gefahren um zu schauen, warum Menschen im Elend leben – das wäre kein Buch, das wäre Zynismus, sondern ich habe Geschichten erzählt von Menschen, die im Interim gestalten und gute Ideen haben."
Katja Riemann will von der Kraft im Menschen schreiben, von der Resilienz – davon, wie selbst ein Camp notgedrungen eine Art Heimat sein kann, wie versucht wird, Leben zu gestalten. Kleine Beobachtungen, die nachwirken: die selbstgekratzten Rinnen, durch die das Abwasser fließt – ein selbstgebackenes Stück Brot, im improvisierten Ofen.
Katja Riemann, Schauspielerin und Autorin
"Wenn Du fliehen musst und im Interim bist, was ein unstetes Gebiet ist, von dem man nicht genau weiß, wie lange es währen wird, dann musst Du Dich ja wappnen, und zwar in allen Belangen. Geistig, psychisch, physisch, emotional, sozial, die Herausforderungen sind nicht zu knapp."
Und dann ist da die Kunst als Überlebensmittel – auch Katja Riemann hat einen Schauspielworkshop gegeben, auf Lesbos. Sie wird danach auf die befreit wirkenden Studenten angesprochen. Sie schreibt von dem Puppenspielprojekt "Walk with Amal", eine überlebensgroße Puppe, die den Weg eines syrischen Flüchtlingsmädchens durch Europa nachvollzieht, was Hunderttausende berührt. Und da ist die Filmschule ReFocusMediaLabs – die im Lager Moria auf Lesbos ihren Anfang nahm – die gegen alle Widerstände existiert und wächst.
Douglas Herman (2020), Mitbegründer ReFocusMediaLabs
"Vorher gab es niemanden, der hier eine langfristige Unterstützung für junge Leute, die bald arbeiten werden, angeboten hat und Berufserfahrung, eine Ausbildung, überhaupt eine Qualifikation zu bekommen. Es gibt hier keine irgendwie geartete offizielle Bildung, also dachten wir: das machen wir. Und wenn Du einmal Medienarbeit machst, ändert das komplett deinen Blick auf die Welt und den Blick der Welt auf Dich."
Yaser Teheri ist einer, der in Moria erste Schritte in die Medienwelt unternommen hat – er möchte gerne der afghanische Tarantino werden, sagt Katja Riemann - inzwischen studiert er in Leipzig.
Katja Riemann, Schauspielerin und Autorin
"Die Stärke der Menschen oder was auch immer das ist, beeindruckt mich. Dass ihre Heiterkeit und Freundlichkeit nicht flöten gehen, während sie in einem fremden Land von vorne anfangen und trotzdem weitermachen, wo sie aufgehört haben. Die Vorbehalte, all die Bilder, die man sieht von Tätern und Opfern sie haben keine Überschneidungsmenge in der Begegnung mit einzelnen Menschen."
Katja Riemann schreibt von der Kraft – doch das Leid lässt sich natürlich nicht ausblenden. Ihre Schilderungen stehen im Detail für das ganze Drama – Plastikflaschen, ein ausgetrocknetes Flussbett ist voll davon, einzelne Schuhe, die herumliegen, in Zäunen hängen bleiben und immer wieder Draht, Natodraht – gewissermaßen Abwehr in Vollendung.
Ausschnitt Hörbuch
"Weil da dieses Metall ist, dieser Zaun. Diese Abgrenzung, die das Gute vom Schlechten trennt, das Weiße vom Schwarzen, das Reiche vom Armen, das Gebildete vom Illiteraten. Die Zäune hier repräsentieren vermutlich das wahre Gesicht der EU. Zeigen, dass diese EU keine Wertegemeinschaft darstellt, sondern sich lediglich damit schmückt."
Fakten statt Gefühligkeit – auch das gehört zu Katja Riemanns Buch. Dreimal so hoch wie die Berliner Mauer sind die Grenzzäune bei Ceuta, der spanischen Exklave im Norden Marokkos. Und das Wort "Flüchtlingsstrom" ist eine Wortschöpfung aus der Nachkriegszeit, als Millionen Menschen aus den einst deutschen Ostgebieten nach Westen kamen. Sicherheit ist verletzlich, auch davon erzählt dieses Buch.
Katja Riemann
"Das Gleichgewicht der Welt steht auf vielen zarten Beinchen, wird eines weggekickt, brechen auch andere durch. Das System, in dem wir leben, ist so fragil und vulnerabel, dass die Vorstellung, wie schnell, umfänglich und gewaltig alles kollabieren kann, kaum auszuhalten ist."
Ein falscher Knopfdruck eines Despoten – und schon sind wir Flüchtlinge. Stolpern wir dann in den selbstverlegten Natodraht?
Autor: Steffen Prell