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Ingo Schulze ist Schriftsteller. Ein Ost-Schriftsteller. Ein halbes Jahr verbrachte er im tiefsten Westen. Daraus ist jetzt das Buch "Zu Gast im Westen" entstanden. Was hat er dort gelernt?
Auf seiner Reise kommt der Schriftsteller Ingo Schulze auch ins Dortmunder Fußballmuseum und versucht dort in der Torwand einzulochen. Das kann ja abendfüllend werden denkt man. Aber Irrtum!
"Jaaa!"
Der Ostler Schulze brennt für den Westverein Borussia Dortmund. Das war schon mal der erste große Türöffner, als Schulze seine Koffer packte und für 6 Monate in eine Schriftsteller-Wohnung in Mühlheim an der Ruhr zog. In den tiefen Westen.
Ingo Schulze, Schriftsteller
"Ich habe ja immer kritisiert, dass immer nur Ostdeutschland thematisiert wird und jetzt hatte ich die Chance, mich dem Westen zuzuwenden. Und es gibt, glaube ich - merke ich so - sehr viel weniger Aufmerksamkeit, wenn man kritischer auf den Westen guckt, als auf den Osten."
Ingo Schulze, Jahrgang 62, geboren in Dresden. Zahllose Preise und Stipendien hat er für seine Romane und Erzählungen bekommen – in denen fragt er nach den Lebenswegen, die Menschen nach dem Fall der Mauer genommen haben. Er fragt nach dem Gewinn der deutschen Vereinigung, aber auch nach ihrem Preis.
Seit über 30 Jahren lebt Schulze in Berlin – im äußersten Westen der Stadt, einen Katzensprung vom Funkturm entfernt. Wenn man hier hoch fährt und gen Westen schaut, kommt irgendwo nach 500 km das Ruhrgebiet, der Westen Deutschlands - wo Schulze zu Gast war.
Schulze hat sich viel Zeit genommen für Erkundungen. Das im Westen scheinbar Normale sieht er mit anderen Augen: Zum Beispiel die Villa Hügel: Das Selbstverständnis, mit der hier eine deutsche Industrie-Dynastie ihr Familien-Mausoleum präsentieren darf – unberührt von der Tatsache, dass ein Großteil ihres Reichtums und ihrer Macht auf Rüstungsgewinnen für Hitlers Weltkrieg beruht.
Ingo Schulze, Schriftsteller
"Also der Alfried Krupp, der war ja dann im Kriegsverbrechergefängnis in Landsberg und ist dann frühzeitig, also ’51, begnadigt worden und dann hat man ihm eben ’53 auch alles zurückgegeben mit bestimmten Auflagen, an die er sich dann nie gehalten hat. Und das ist schon interessant zu sehen, wie aus dieser Nachkriegszeit - wo gerade eben auch die Alliierten schauten, dass die alten Nazis nicht wieder in die Positionen kommen - dann der beginnende Kalte Krieg all das eigentlich wieder einebnet."
Dieser kalte Krieg war schnell wichtiger als die Entmachtung der Nazi-Wirtschaftselite. Schulze hat als Ostdeutscher ein anderes Gespür für Geschichte: Während in der Ostzone nach ’45 die Sowjets die Industrie als Reparation demontierten, ging’s im Westen fast ungebrochen und schnell wieder bergauf.
Auf seiner Zeitreise durchs Ruhrgebiet begegnet Schulze der Villa Hügel noch einmal. 35 Jahre später, 1987: In der Villa wird die Schließung des Krupp-Stahlwerks in Rheinhausen beschlossen: 6.300 Arbeiter sollen gefeuert werden.
Ingo Schulze, Schriftsteller
"Was mich da eben auch sehr beschäftigt hat, sind diese Arbeitskämpfe, die es gegeben hat. Als dieses Riesen-Stahlwerk, das Herz von Krupp in Rheinhausen, stillgelegt werden sollte und wo es ein einzelner Arbeiter durch eine Rede schafft, den größten Arbeitskampf in der Altbundesrepublik auszulösen."
Rheinhausen, 1987
"Es kann doch nicht sein, dass eine kleine Clique, eine kleine Mafia, mit den Menschen in diesem Lande macht, was sie will."
Wenig später stürmen die Stahlarbeiter die Villa Hügel. Dieser Moment der Selbstermächtigung erinnert Schulze an 1989 in Ostdeutschland. Auch hier Protest und Widerstand. Aber für Schulze gibt es einen Unterschied: Das Ruhrgebiet hatte Jahre Zeit für den Wandel – im Osten geschah er quasi über Nacht.
Ingo Schulze beobachtet in seinem Buch nicht nur das Ruhrgebiet – sondern auch sich selbst. Und er ertappt sich dabei, dass er bei seinen Lesungen und Gesprächen immer wieder sich und den Osten erklärt – seine Herkunft am Westen misst.
Ingo Schulze, Schriftsteller
"Im innerdeutschen Verhältnis ist die westdeutsche Sozialisation sozusagen der Goldstandard. Also das, was eigentlich als der Bezugspunkt gilt."
- "Was meinen sie mit Goldstandard?"
Ingo Schulze, Schriftsteller
"Ja, dass man von der eigenen Geschichte spricht und alles andere beurteilt inwieweit man schon dem näher gekommen ist. Also, wie weit ist der Ostler jetzt schon zum Westler geworden."
Ingo Schulzes Buch ist nicht einfach eine Fahrt ins Ruhrgebiet, es ist auch eine innerdeutsche Gedankenreise. Im besten Fall schauen Ost und West mit den Augen des anderen aufeinander.
Gesang Herbert Grönemeyer Lied "Bochum"
"Tief im Westen
wo die Sonne verstaubt
ist es besser, viel besser
als man glaubt"
Autor: Ulf Kalkreuth