-
Am 3. Dezember 1917 versammelte sich eine schaulustige Menschenmasse vor der Galerie Berthe Weill in Paris. Im Schaufenster hing ein Aktgemälde. Ein Hinweis auf eine Ausstellungseröffnung, die gerade stattfand. Gegenüber befand sich eine Polizeistation und der anwesende Kommissar sorgte dafür, dass das Gemälde entfernt wurde. Es sei zu freizügig. Gemalt hatte es der aus Italien stammende Maler Amedeo Modigliani. Heute ist er eine Berühmtheit. Damals war er ein fast Unbekannter und von Freunden und Gönnern abhängig. Wie sehr der Stil und der Blick von Modigliani die Entwicklung der modernen Kunst in Europa beeinflusst hat, zeigt jetzt die Ausstellung "Modigliani. Moderne Blicke" im Museum Barberini in Potsdam.
Ortrud Westheider, Direktorin Museum Barberini
"Man muss sich Modigliani als einen kommunikativen Geist und einen sehr unterhaltsamen Menschen vorstellen. Er war mit ganz vielen Künstlern, Künstlerinnen in der Zeit vernetzt, bekannt. Was sich so ein bisschen verengt im Forschungsbild bisher ist, dass er durch Drogen zur Kunst kam – und das kann man widerlegen."
Ein vielsagender Titel – "Moderne Blicke". Acht Jahre ist es her, dass Ortrud Westheider mit Kooperationspartnern die ersten Gespräche zur Ausstellung geführt hat – die jetzt Leihgaben aus zwölf Ländern vereint. Wie blicken wir auf Modigliani - wie blicken seine Bilder uns an - wie blickt er auf seine Mitmenschen?
Ortrud Westheider, Direktorin Museum Barberini
"Es ist diese Unausweichlichkeit, dieses existenzielle Moment. Er ist wirklich interessiert an dem Menschen, an dem Individuum – aber ohne jedes Interesse für Milieu, für Stand und für Klasse, was dann später in der Neuen Sachlichkeit eine große Rolle spielt. Ob das eine Bettlerin ist oder eine Fabrikantengattin, das ist ihm egal. Es ist der Mensch."
Eine Bettlerin – gemalt 1909 – voller Würde, nichts weist auf Armut hin. Sozialer Status interessiert Modigliani also wenig. Und dass er seine Bilder im Drogenrausch auf die Leinwand geworfen hat - ist Legende. Erstmals sind Briefe von ihm ausgestellt. "Je travaille beaucoup" – ich arbeite viel.
Drogen aber waren dennoch Thema – Maud Abrantès war als Amerikanerin in Berlin aufgewachsen. In Paris bewegt sie sich in Künstlerkreisen – ihre Morphium-Augenringe begrüßen einen zu Beginn der Ausstellung – es ist eines der ersten Gemälde aus Modiglianis Pariser Zeit.
Ortrud Westheider, Direktorin Museum Barberini
"Trotzdem ist er schon Modigliani, ganz früh, sehr bei sich. Weil er eben diese Frau in diesem strengen Gegenüber mit diesem Blick zeigt und er immer diese Begegnung auf Augenhöhe sucht."
Begegnungen auf Augenhöhe sind auch Modiglianis Akte. Bei seiner einzigen Einzelausstellung fühlen sich die Beamten von der Polizeiwache gegenüber provoziert – die Bilder müssen abgehängt werden. Der in der Toskana geborene Modigliani trägt das Wissen um die Kunstgeschichte in sich – und kombiniert dies mit den selbstbewussten Frauen, denen er in seinem Umfeld begegnet.
Ortrud Westheider, Direktorin Museum Barberini
"Man hat noch die Erinnerung an die italienische Renaissancemalerei, von diesen Farben, von diesen warmen Rottönen, aber die Bühne ist nicht mehr da. Es ist hart angeschnitten, man ist nah rangegangen, wie bei einem Close Up. Und hier hat man den Eindruck, dass die Frau wirklich den Bildraum füllt, dass sie super selbstbewusst einem entgegentritt und sehr souverän mit ihrer Nacktheit umgeht."
Nicht die Nacktheit war die Provokation – sondern das Abbilden eines neuen Frauentyps. Der zeigt sich auch im Typ der "Femme garçonne" – eine androgyne, oft männlich gekleidete Frau – die sich um Konventionen nicht scherte. Dieses Portrait einer Buchhändlerin ist das Lieblingsbild von Ortrud Westheider.
Ortrud Westheider, Direktorin Museum Barberini
"Es ist der Aufbruch, auch, dass ein Künstler dieses Thema der Gleichberechtigung so souverän hier zum Ausdruck bringt. Das ist eine Frau, die stark ist – das sieht man sofort. Dieser Typus von Frau mit Kurzhaarschnitt, mit Matrosenkragen oder mit Krawatte, den sehen wir auf Modiglianis Bildern ganz früh und ganz oft und er war vielleicht der Erste, der ein Auge dafür hatte."
Modigliani links und Pablo Picasso in der Mitte – das war die Künstlerwelt, in der er sich bewegte. In Potsdam werden auch Bezüge zur europäischen Kunstwelt hergestellt – ein Akt von Modigliani – und Werke von Ernst Ludwig Kirchner und August Macke. Und dem "Male Gaze", dem vermeintlich lüsternen Blick Modiglianis, steht ein Werk von Paula Modersohn-Becker gegenüber.
Ortrud Westheider, Direktorin Museum Barberini
"Wir können einfach zeigen, dass eine Frau – ähnlich wie dann später Modigliani – die Frau ganz nah malt, es ist ganz pur. Das sind Kennzeichen der Komposition, die bei der Künstlerin genau so, wie bei dem Maler zu sehen sind."
Um die 150 Millionen Euro sollte man übrigens griffbereit haben, wenn man einen Modigliani im Wohnzimmer haben möchte. "Verknappung" heißt das Zauberwort.
Ortrud Westheider, Direktorin Museum Barberini
"Modigliani ist immer noch ein Künstler voller Geheimnisse und er hat ein sehr schmales Oeuvre. Er ist ja 1920 mit 35 Jahren gestorben. Er hatte schon Ausstellungsbeteiligungen in New York und in London und alle haben schon gemerkt: aus dem wird was und dann ist er gestorben."
In Potsdam ist man nun mit einer normalen Eintrittskarte für 16 Euro dabei. Und Besitz wird doch eh überbewertet.
Autor: Steffen Prell