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Wie sollen wir auf die Kriege in der Ukraine und Gaza reagieren, auf die Terrorangriffe von Hamas und Iran? Der in Berlin lebende Regisseur Dror Moreh blickt in seinem neuen Dokumentarfilm hinter die "Kulissen der Macht" und beleuchtet, warum die westliche Welt bei vielen Kriegsverbrechen und Völkermordszenarios nicht oder nur zögernd eingeschritten ist. Mit ungesehenem Archivmaterial und bewegenden Insiderinterviews hält Dror Moreh uns den Spiegel der Vergangenheit vor und provoziert Fragen für die Gegenwart.
Acht Jahre hat er an seinem neuen Film gearbeitet, acht Jahre, um zu ergründen, warum der Westen bei so vielen Kriegsverbrechen zusieht. Warum schreiten die USA bei manchen Krisen ein - und lassen andere Verbrechen tatenlos geschehen: wie in Syrien?
Als Baschar al Assad die Massendemonstrationen brutal niedermetzeln lässt, zögert Barack Obama lange. Schließlich setzt er dem syrischen Diktator ein klares Ultimatum.
Filmausschnitt "Kulissen der Macht"
"Wir haben dem Assad-Regime ganz klar gemacht, dass die Nutzung chemischer Waffen eine rote Linie darstellt."
Doch Obama handelt nicht, als Giftgas eingesetzt wird. Dieser Widerspruch war der Anstoß für diesen Film.
Dror Moreh, Regisseur
"Nachdem Obama erklärt hatte, dass der Einsatz chemischer Waffen für ihn eine rote Linie sei, gab es diesen schrecklichen Anschlag, der in meinem Film zu sehen ist, bei dem an die 1.500 Männer, Frauen und Kinder bei einem Giftwaffenangriff starben. Und niemand hat reagiert. Das trieb mich zur Frage an: Was geschieht eigentlich in diesen Krisenstäben? Warum schreiten sie dort ein und hier nicht? Das war der Auslöser für diesen Film."
Syrien, ein Wendepunkt in der Weltpolitik. Beim Ringen um eine Reaktion auf die Horrorszenarien, so zeigt uns der Film, zerfleischt sich die Obama-Administration bis zur Handlungsunfähigkeit. Obama sucht Unterstützung bei Angela Merkel.
"Er ruft Angela Merkel an und sagt: Angela, ich brauche dich dabei. Und sie sagt: Barack, willst du das wirklich bis zum Ende durchziehen? Ich sage es dir als Freundin: Putin wird behaupten, du hast das erfunden."
Aus Angst, das Falsche zu tun, handelt Obama gar nicht.
Dror Moreh, Regisseur
"Die Konsequenzen davon sind bis heute weltweit zu spüren: der Aufstieg der Rechten in ganz Europa, die Flüchtlingswelle, die in den Westen strömte. Ich glaube, wegen Syrien gewann Putin das Gefühl, er kann tun, was er will. Der Westen wird nicht intervenieren, weil er zu schwach ist. Ich glaube, das ist ein Teil des Grunds, warum Putin in die Ukraine einfiel."
Dror Moreh ist Israeli, lebt in Berlin. Der Holocaust, zeigt er am Beginn des Films, hat uns ein Vermächtnis hinterlassen: "Niemals wieder!".
Deshalb haben die Vereinten Nationen Völkerrechtsverbrechen 1948 in einer Resolution unter Strafe gestellt - auch daran erinnert der Film.
"Wenn ich an den Holocaust denke, an all das ‚Niemals wieder‘ - und dann geschieht es überall von neuem: Dann verspotten wir dieses ‚Niemals wieder‘ zu oft."
Ob Kambodscha, Ruanda, Bosnien: der Film schildert, wie jede Krise riesige Krisenstäbe von Militärs und Politikberater:innen auf den Plan ruft. In langen Sitzungen werden ethische Ansprüche mit strategischen Fragen gegengerechnet.
"Ich glaube an Frieden, aber ich bin keine Pazifistin. Und ich glaube, dass es Zeiten gibt, in denen die Anwendung von Gewalt auf lange Sicht Stabilität bringt und viele Menschenleben rettet."
Doch im Bosnienkrieg zögern die USA, bis sie eingreifen. Ratko Mladic und seine Männer ermorden 1995 in Srebrenica mehr als 8.000 bosnische Muslime.
Dror Moreh erzählt das alles als Dokumentarist, die Bilder sprechen für sich. Viele davon sieht man zum allerersten Mal.
Dror Moreh, Regisseur
"Es gibt viele Aufnahmen, die wir von Leuten bekamen, die sie mit Amateurkameras im Feld gemacht haben. Sie wurden bisher nur bei den Gerichtsprozessen zum Genozid in Bosnien gezeigt."
Dass Menschheitsverbrechen oft nur mit neuer Gewalt zu bekämpfen sind, ist eine Erkenntnis des Films. Dessen Stärke auch darin besteht, dass Dror Moreh absolute Topinsider zu erstaunlich offenen Bekenntnissen bewegt. Auf manches Gespräch hat er zwei Jahre gewartet. Viele scheinen sich eine Last von der Seele schaffen zu wollen.
Antony Blinken
"Wir konnten das Abschlachten Hunderttausender Menschen nicht beenden. Wir haben versagt."
Jake Sullivan
"Selbst wenn man glaubt, das Richtige getan zu haben, werfen einen die Entscheidungen, die man getroffen hat, in eine Schleife des Unperfekten zurück."
Dror Morehs Film endet mit dem Syrien-Konflikt. Gegenwärtige Krisen behandelt er nicht und wirft dennoch Fragen auf: nach dem Terroranschlag der Hamas, der Bedrohung Israels durch den Iran, dem Krieg in Gaza. Welche Schlussfolgerungen zieht er selbst aus seinen Gesprächen?
Dror Moreh, Regisseur
"Israel wurde am 7. Oktober Opfer eines genozidalen Angriffs. Und gleichzeitig klagen Hamas und Südafrika Israel des Völkermords an. Das ist das erste Mal, dass sich zwei Gesellschaften, die sich im Krieg befinden, gegenseitig dieses Verbrechens bezichtigen. Es ist eine schwierige Situation. Persönlich glaube ich jedenfalls: Wenn wir auf Völkermord nicht reagieren, wo auch immer er in der Welt geschieht, setzen wir unser Menschsein herab, also uns selbst."
Dieser berührende Film hat keine einfachen Botschaften. Und ist umso mehr ein Appell an uns – nicht wegzuschauen.
Autor: Norbert Kron