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Der 9. November ist nicht nur mit dem Mauerfall verbunden, er markiert mit der Reichspogromnacht 1938 auch den Beginn der systematischen Judenverfolgung in Deutschland. Der Film "I dance, but my heart is crying" erzählt die schier unglaubliche Geschichte einer Musik, die in dieser Nacht vernichtet wurde und über siebzig Jahre lang als verloren galt. Dass dieser musikalische Schatz wieder gehoben werden konnte, grenzt an ein Wunder, von dem dieser Kinofilm erzählt.
"Vorbei – vorbei – vorbei - ein letzter Blick, ein letzter Kuss…."
"Vorbei" – ein doppelbödiges Chanson aus den 1930er Jahren. Es erzählt vom Ende einer Liebe. Und dem Ende der Freiheit jüdischer Künstler. Wie es dazu kam, dass dieses Lied heute überhaupt wieder gesungen werden kann - darum geht es im Film: "I dance, but my heart is crying". Wir treffen die Sängerin Sasha Lurje und den Regisseur im Kino Babylon. Christoph Weinert ist begeistert von den alten Liedern und musste ihre Geschichte erzählen.
Christoph Weinert, Regisseur
"Also überrascht haben mich einerseits die Texte, die unglaublich aktuell sind, also auf unsere heutige Zeit bezogen. Man kann gar nicht glauben, dass diese Texte fast 100 Jahre alt sind. Und auch die ganze Melodik der Songs, der Couplets, der Chansons, das ist was deutschsprachig oder jüddissprachig, was es heute in Deutschland gar nicht mehr gibt. Das hat mich so fasziniert, dass ich mich in diese Musik verliebt habe."
Christoph Weinert lässt diese verschollen geglaubte Musik des Vorkriegsberlins in seinem Film wieder aufleben. Dafür bringt er sie eigens auf die Bühne, mit jüdischen Musikern in Berlin. Die aus Lettland stammende Sängerin Sasha Lurje, der Komponist Alan Bern und der Sänger Daniel Khan: das "Semer Ensemble". "Semer" war ein Berliner Plattenlabel, das nach 1933 zum Zufluchtsort für jüdische Musiker wurde, genauso wie das Label "Lukraphon". Die Künstler singen deutsch, jiddisch, hebräisch oder russisch. Sie haben ein großes Repertoire von Klassik, Chanson bis Klezmer.
Seit mehr als 20 Jahren erforscht und unterrichtet Sasha Lurje den jiddischen traditionellen Gesangsstil und ist in der Szene eine Größe.
Die Welt ist klein geworden, ist klein geworden… Im Film singt sie auch Stücke von Dora Gerson.
Sascha Lurje, Sängerin, Semer Ensemble
"Ich hatte das Gefühl, dass ich sollte alles über sie lernen und verstehen, wie sie singt. Ich hatte die Idee, dass unsere Rolle ist, nicht nur die Lieder zu singen und zu interpretieren, aber auch die Geschichte von diesem Menschen zu erzählen und die als fantastische Künstler vorzustellen."
Dora Gerson ist damals ein bekannter Theaterstar. Seit Mitte der 1930er Jahre kann sie nur noch über den jüdischen Kulturbund arbeiten, den die Nazis kontrollieren. Dora Gerson wird 1943 in Auschwitz ermordet, genau wie ihr Mann und die beiden Kinder.
Christoph Weinert, Regisseur
"Mir war ganz wichtig, als ich diese Sache, die Geschichte recherchiert habe, dass diese Personen, diese Musiker in dem Film nicht als Opfer dargestellt werden, sondern als das, was sie getan haben als Künstler."
Hier im Scheunenviertel hatte der Semer Musikverleger Hirsch Lewin seinen Laden. Christoph Weinert zeigt Sasha Lurje das Haus in der heutigen Almstadtstrasse.
Christoph Weinert, Regisseur
"Im hinteren Gebäude war das Lagerhaus mit den fast 5.000 Schellacks, Noten, Texten und Originalmatrizen, die dann am 9. November in der Pogromnacht im November 38 zerstört worden sind."
Seit der Reichspogromnacht schien die Musik der beiden Verlage und mit ihr ein Stück jüdische Kultur für immer vernichtet.
Und dann das Wunder: Ein Plattensammler aus Hamburg entdeckt in den 90er Jahren eine alte Semer-Aufnahme. Ein befreundeter Historiker findet 13 Schellackplatten in einem Abrisshaus in Tel Aviv. Die beiden fahnden auf der ganzen Welt und finden tatsächlich noch Platten von Semer und Lukraphon. Dass diese Musik überlebt hat, gibt Sascha Lurje Hoffnung, wenn sie auf die Gegenwart blickt.
Sascha Lurje, Sängerin, Semer Ensemble
"Es ist auch für mich sehr wichtig, immer durch mein ganzes Leben, dass ich mit jüdischer Kultur mich beschäftige. Wir sind hier, wir seien da, wir sind da, und wir spielen das immer noch, diese Musik klingt. Die Kultur ist lebendig, wir sind da."
Autorin: Margarete Kreuzer