Interview l Handicaps in der Arbeitswelt - Kollege ohne Gehör
Unsere Gesellschaft ist vielfältig. Unsere Arbeitswelt auch. Wertschätzung sollen alle Mitarbeitenden erfahren, unabhängig z.b. von Geschlecht, Religion oder auch Behinderung. Doch oft bleibt das ein Ideal. Menschen mit körperlichen oder geistigen Einschränkungen werden oft als weniger produktiv abgestempelt oder gar nicht erst eingestellt. Thomas Brocksch aus Berlin-Mitte hat sich seinen Platz mit Fleiß erkämpft.
"Mein Traum war eigentlich LKW zu fahren"
"Warum ich gehörlos bin, weiß ich nicht. Es ist wohl von Anfang an so. Ich kam mit nur sechs Monaten zu früh auf die Welt und war dann drei Monate im Brutkasten. Vielleicht bin ich durch irgendwelche Untersuchungen taub geworden oder ich habe zu viel Wasser geschluckt (lacht).
Nach der Schule habe ich eine Ausbildung zum Mechaniker gemacht. Eigentlich war mein Traum, LKW-Fahrer zu werden, aber das ist nur ein Beruf für Hörende, hieß es. Also arbeitete ich als Mechaniker, später im Straßenbau und in der Küchenplanung. Als die letzte Firma, bei der ich tätig war, insolvent wurde, rutschte ich in die Arbeitslosigkeit. Mehr als zehn Jahre hangelte ich mich von einem Gelegenheitsjob zum nächsten.
Ich wollte wieder eine richtige Arbeit, mit der ich auch gut verdienen kann. Jede Woche ging ich zum Arbeitsamt aber wurde vertröstet. Bis mir eine Eingliederungsmaßnahme vorgeschlagen wurde, samt Bewerbungstraining und Praktikum. 2012 hat es, nach einer Probephase, endlich geklappt: Ich bin halt sehr fleißig - das hat meinem neuen Chef gefallen - und ich habe endlich eine feste Anstellung bekommen!"
Thomas Brocksch wurde als Datenlöscher bei AfB, einem europaweit agierenden gemeinnützigen IT-Unternehmen aus Deutschland, angestellt. AfB übernimmt nicht mehr benötigte IT- und Mobilgeräte von Firmen und Institutionen und refurbished und vermarktet sie nach der zertifizierten Datenlöschung.
Die Schwerbehindertenquote bei diesem anerkannten Inklusionsunternehmen beträgt 45 Prozent. Thomas Brocksch arbeitet am Berliner Standort in einem Team von 12 Kollegen, von denen sieben körperlich bzw. geistig beeinträchtigt sind.
"Etwas nicht zu verstehen ist kein schönes Gefühl"
"Am Anfang war die neue Arbeit eine riesige Herausforderung für mich, weil ich von Computern wenig Ahnung hatte. Zuerst habe ich Monitore getestet. Das war ein bisschen stupide auf Dauer. Dann habe ich gesehen, dass es die Datenlöschung gibt. Da hatte ich erst Sorge, dass es zu kompliziert wird, aber ich wollte es trotzdem versuchen.
Ich habe bei der Einarbeitung viel aufgeschrieben, damit ich nicht Dinge falsch lösche. Heute beherrsche ich das Löschen gut. Ich benutze dafür eine spezielle Software oder baue die Speicher aus, zusammen mit einem zweiten gehörlosen Kollegen. Ich muss auch ständig Neues lernen, weil die Computer immer kleiner und komplexer werden.
Mein Chef und ich haben keine kommunikativen Probleme. Er kann zwar nicht die Gehörlosensprache, aber beherrscht die wichtigsten Gebärden, die wir für die Arbeit brauchen, z.B. Display oder Speicher. Da lernen wir auch viel voneinander.
Mit den Nicht-Gehörlosen im Team kommunizieren wir Tauben mit Zettel und Stift, manchmal auch mit Händen und Füßen. Vieles erklärt sich übers Zeigen, anderes über das Schreiben. Wir haben viel Spaß bei der Arbeit, jeder macht so sein Ding. Manchmal verstehen wir Gehörlosen nicht alles, das finde ich dann nicht so toll. Aber ich habe auch nicht immer Lust, bei den Hörenden vier- bis fünfmal nachzufragen. Das ist natürlich nicht so ein schönes Gefühl.
Außerdem erschrecke ich manchmal, wenn ich sehr vertieft bin in meine Arbeit und jemand kommt plötzlich von hinten weil er etwas will. Ich kann es ja vorher nicht hören. Da würde ich mir wünschen, dass die hörenden Kollegen von vorne oder von der Seite an mich herantreten."
Einmal die Woche kommt eine Gebärdendolmetscherin - finanziert über das LAGeSo (Landesamt für Gesundheit und Soziales) - in den Betrieb. Sie unterstützt bei Teammeetings und Weiterbildungen. Das Unternehmen schützt seine hörbehinderten Mitarbeiter mit spezieller Technik: Sie müssen ein handygroßes Notrufgerät tragen, das sie im Falle eines Brandes mit einem starken Vibrationsalarm warnt.
"Ich bin wie eine Maschine"
"Wir Tauben können unsere Ohren nicht nutzen. Dafür sind unsere anderen Sinne sensibler. Ich würde einen Brand schnell riechen. Ich spüre auch Kälte oder Wärme intensiv. Man sagt, dass wir Tauben auch schärfere Augen haben.
Viele glauben nicht, dass Gehörlose Auto fahren dürfen. Im Straßenbau haben sich auch immer wieder Leute gewundert, dass ich als Gehörloser dort arbeiten darf. Aber ich habe oft Dinge schon früher gesehen, als die Hörenden - etwa wenn sich eine Rettungsgasse zu bilden begann.
Bei meiner jetzigen Arbeit gleichen meine Augen Vieles aus, das ich nicht hören kann. Manchmal tut mir nach der Arbeit der Nacken weh, weil ich den Kopf so viel herumwende, um zu gucken. Andere sagen oft: 'Thomas, mach mal langsam'. Aber ich bin ein bisschen wie so eine Maschine, ich kann nicht alles so langsam machen, da schlafe ich ein. Ich habe immer ein gewisses Tempo. Das ist einfach so in mir."
Früher wurden Gehörlose oft als Taubstumme bezeichnet. Der Begriff "taubstumm" wird heute von vielen gehörlosen Menschen als abwertend empfunden, denn gehörlose Menschen sind taub aber keinesfalls stumm, da sie in der Gebärdensprache kommunizieren können.
Passender sind daher die Bezeichnungen "gehörlos" oder "taub". Häufig kommt auch der englische Begriff "deaf" also "taub", zum Einsatz, weil er im Gegensatz zu "gehörlos" keinen Mangel impliziert.
"Durch Corona gibt es mehr Barrieren"
"Manche flippen beim Wort 'taubstumm' aus. Für mich ist das nicht so wild. Es gibt eben Hörende, die haben Interesse an tauben Menschen. Aber es gibt auch andere, die sagen: 'Ach nee, Taube…', und ziehen sich sofort zurück. Früher wollte ich gerne hörend sein, aber jetzt bin ich irgendwie auch schon daran gewöhnt, taub zu sein.
Durch Corona habe ich das Gefühl, dass es wieder mehr Barrieren gibt. Die Kommunikation läuft häufiger über das Telefon und weniger über das persönliche Treffen. Wegen der Hygiene-Masken kann ich nicht sehen, wer etwas sagt. Auch kann ich nicht mehr von den Lippen ablesen. Vieles kostet mich mehr Zeit. Die Leute werden ungeduldig, wenn ich etwa am Schalter in der Bank oder beim Arzt länger brauche. Das nervt und frustriert mich!"
"Ich habe viele Pläne!"
"Ich möchte endlich wieder mal verreisen, zum Beispiel nach Spanien, zusammen mit meiner Freundin. Sie ist ebenfalls gehörlos. Ich habe sie über Facebook getroffen, wir sind jetzt ein Jahr zusammen.
Arbeitsmäßig wünsche ich mir, mehr zu verdienen. Erstmal hoffe ich, dass ich bei meiner Firma bleibe, wer weiß, vielleicht bis zur Rente. Aber womöglich wirbt mich ja noch jemand ab, wie bei den Fußballprofis (lacht.) Und im August möchten meine Freundin und ich heiraten, das ist der Plan!"
Das Interview führte Carola Welt mit Unterstützung einer Gebärdendolmetscherin