Interview l Chronische Nervenschmerzen - "Der Schmerz hat mich regiert"
Anne Scherenschlich hat nach einer OP starke Schmerzen im linken Bein, doch ihre Ärztinnen und Orthopäden finden jahrelang: nichts. Sie fühlt sich im Stich gelassen, wird depressiv, resigniert fast. Bis sie eine Schmerzklinik mit multimodalem Ansatz findet und sich alles ändert. Eine persönliche Chronologie des Schmerzes - mit Happy End.
Schmerzen begleiten Anne Scherenschlich seit etwa 30 Jahren. Die ehemalige Altenpflegerin hat Arthrose, 13 Mal wird sie an den Füßen operiert. Besonders schlimm wird es nach einer Operation vor sechs Jahren: "Sie haben mir Knochen entnommen aus der Hüfte, um mir eine neue Zehe zu bauen. Das war einfach notwendig, die brauchten Knochen.
Kurz danach ging es los: Der Schmerz hat mich regiert. Der war in meinem Kopf so doll drin. Ich konnte nicht richtig laufen, es hat gebrannt, ein Buckern, wie Ameisen am ganzen Bein. Allein schon wenn ich nur einen Stoff, wie eine Hose, an meiner Haut hatte - das war ganz schlimm."
Anne Scherenschlich hat starke Schmerzen im linken Bein, wechselt dreimal den Orthopäden: "Mir wurde immer gesagt, das sei die Narbe, da ist nichts. Das zog sich wirklich über sechs Jahre hin. 2016 kam ich in die Klinik nach Mölln, Lübeck. Da war ein ganz toller Chefarzt, der rausgefunden hat, was es war: Bei der Operation wurden Nerven verletzt, was sehr starke neuropathische Schmerzen zur Folge hatte.
"Ich konnte nach zwei Jahren endlich wieder auf der linken Seite liegen"
Mir wurde dann Kortison reingespritzt, eine Infiltration, was ganz, ganz schlimm war. Das möchte ich im Leben nicht mehr erleben. Aber nachdem ich fünf Stunden geruht habe, merke ich auf einmal: Oh, toll, da tut sich was. Ich konnte nach zwei Jahren endlich wieder auf der linken Seite liegen. Das war vorher nicht möglich. Das hat dann für eine gewisse Zeit gewirkt."
Doch es wird wieder schlimmer und wieder fühlt sich Anne Scherenschlich in Berlin von ihrem Orthopäden im Stich gelassen: "Das, was der Chefarzt in Mölln aufgeschrieben hat, die Therapieempfehlungen, das hat mein damaliger Orthopäde nicht einmal durchgelesen. Und da hab ich irgendwann resigniert."
Leiden im Stillen
Sie nimmt täglich viele starke Schmerztabletten, Pregabalin und Ibuprofen und leidet lange heimlich. Anne Scherenschlich beschreibt sich selbst als fröhlichen Menschen: Sie lache gern und viel, sei immer freundlich und voller Energie. Eigentlich. Bis die Schmerzen so extrem werden, dass sie sich immer mehr zurückzieht. Meist gelingt es ihr, sich bei den wenigen bleibenden Kontakten zusammenzureißen, die fröhliche Fassade aufrecht zu halten - zuhause sackt sie in sich zusammen.
"Ich war kein Mensch mehr"
"Es waren nicht ‘nur’ die Schmerzen am Bein. Dazu habe ich Bandscheibenvorfälle, mit den Füßen zu tun, alles zusammen. Ich war wirklich kein Mensch mehr: Ich war aggressiv. Ich hatte Depressionen. Ich konnte mich nicht mehr konzentrieren. Ich habe mich zurückgezogen. Dazu die Corona-Pandemie. Wenn man Stress hat, wenn man Sorgen und Probleme hat, ist der Schmerz noch doller.
Letztes Jahr im Oktober kam dann noch eine andere Krankheit dazu: PAVK. Ich konnte kaum laufen. Drei Ärzte sagten mir, es seien nur Muskelschmerzen und ich soll Magnesium nehmen. Im Nachhinein war ich sehr erschüttert darüber, dass drei Ärzte die Krankheit nicht festgestellt haben.
Das zog sich über ein Vierteljahr, dann bin ich selbst zu einem Gefäß-Chirurgen gegangen, der mich ruckzuck ins Krankenhaus gebracht hat. Jetzt habe ich einen Stent im Kniegelenk rechts, einen im Bauch oben und Anfang Januar wurde nochmal am rechten Knie die Ballon-Technik gemacht.
"Ich habe nachts geweint"
In der Zwischenzeit waren meine Nervenschmerzen so schlimm, dass ich nachts nicht schlafen konnte. Ich bin herumgelaufen, ich habe nachts geweint und mich gefragt: Was mach ich denn jetzt? Da bin ich ins Internet gegangen, ich dachte, es muss es doch einen Mediziner geben, der sich spezialisiert hat auf Nervenschmerzen."
Anne Scherenschlich findet eine Münchener Schmerzklinik. Noch in der Nacht schreibt sie eine Mail, erklärt ihren Leidensweg und fragt, ob es nicht eine ähnliche Klinik in Berlin gebe. Die Klinik antwortet schon am nächsten Morgen und empfiehlt ihr das Schmerzzentrums Berlin von Dr. Jan-Peter Jansen.
"Mir wird endlich geholfen"
"Dann hab ich da ganz schnell hingeschrieben und hab am nächsten Tag direkt einen Termin bekommen. Der war dann zwei Wochen später. Noch nie in meinem Leben wurde ich vorher von einem Arzt so ernst genommen, wie von Herrn John dort [Anm. d. Red.: Herr John ist Physician Assistant, also Arztassistent mit akademisch-medizinischer Ausbildung u.a. in einem Bachelorstudiengang].
Obwohl die Schmerzen noch da waren, bin ich nach dem Termin glücklich rausgegangen. Das war so, als wäre ein Schalter umgelegt worden. Mir wird endlich geholfen. Ich konnte es nicht fassen. Mir wird geholfen!"
Schmerzklinik als Wendepunkt
Im Schmerzzentrum entscheiden sich die Ärztinnen und Ärzte zusammen mit Anne Scherenschlich für einen zweiwöchigen Aufenthalt in der zum Zentrum gehörigen Schmerzklinik, die den Ansatz der multimodalen Therapie verfolgt.
"Am ersten Tag war da direkt ein Empfangenskomitee: Ärztinnen und Ärzte, Schwestern, Psychologen, Physiologen - alle waren da und haben sich vorgestellt. Mit mir waren noch fünf andere Patienten da. Mit einer Mitpatientin habe ich mich sehr angefreundet, wir telefonieren heute noch jeden Tag.
In der Schmerzklinik hatte ich Physiotherapie, Musiktherapie, Psychotherapie, Sporttherapie, auf Wunsch abends Fußbäder... ganz verschiedene Therapien. Ich war zwar schon öfter in der Reha und hatte da auch sowohl Physio- als auch Psychotherapie. Aber nie war es so warmherzig wie hier. Ich hatte das Gefühl, es wird ehrlich und interessiert gefragt und jeder einzelne Arzt und Therapeut hat sich ganz individuell um mich gekümmert und sich Zeit genommen. Das kannte ich so gar nicht.
Nach einer Woche: Feedback-Gespräche
Nach einer Woche ging’s mir schon besser, die Schmerzen waren schon besser. Aber ich hatte diesen Gedanken: Ich muss nach einer Woche hier raus. Wie geht es für mich weiter? Ich habe keinen Arzt. Das hat mir Angst gemacht und das habe ich im Feedback-Gespräch mit allen Therapeuten und allen, die mich behandelt haben, gesagt und dabei geweint.
Daraufhin hat sich Herr Dr. Jansen gemeldet und gesagt: ‘Und was ist mit mir? Sie sind doch jetzt bei uns!’ und ab dem Tag war ich glücklich, dass ich weiter betreut werde. Ich habe endlich eine Stelle gefunden, wo mir geholfen wird."
Als chronische Schmerzpatientin kann Anne Scherenschlich jedes Jahr für zwei Wochen einen Klinikaufenthalt in der Schmerzklinik machen. In der Zwischenzeit wird sie vom Schmerzzentrum betreut, wo sie alle drei Monate einen festen Termin hat und im Akutfall auch vorher.
Ein neuer Alltag mit Qi Gong
Die zwei Wochen in der Schmerzklinik haben für Anne Scherenschlich ganz viel verändert: "Ich mache jeden Morgen meine 20 Minuten Qi Gong Schritte, die ich in der Klinik gelernt habe. Das hilft mir auch für meine Bandscheibe. Außerdem habe ich ein TENS-Gerät bekommen für akute Schmerzen [Anm. d. Red.: TENS steht für Transkutane Elektrische Nervenstimulation und bekämpft Schmerzen mit Strom. Elektrische Impulse werden über Hautelektroden auf Körperteile übertragen.].
Ich gehe auch wieder walken. Aber ohne mich zu überlasten. Ich achte mehr auf mich. Ich bin nicht mehr so aggressiv, ich bin ruhiger. Und ich frühstücke jetzt auch morgens, die Zeit habe ich mir vorher nicht genommen.
Ich hätte es selbst nicht gedacht, dass ich nach Jahren nun sagen kann: Jetzt hab ich vielleicht doch noch ein paar schöne Jahre vor mir - ohne diese schlimmen Schmerzen. Letztes Jahr habe ich noch Angst gehabt, wie ich mit den Schmerzen meinen wunderschönen großen Garten flott machen soll. Und jetzt warte ich mit so einer Freude drauf, dass ich endlich loslegen kann."
Das Interview führte Ariane Böhm