Sendung vom 13.04.1996 - Dahn, Daniela
Günter Gaus im Gespräch mit Daniela Dahn
Sie war immer aufmüpfig
Daniela Dahn, geboren 1949 in Ostberlin. Ihr Vater war ein prominenter Wirtschaftsjournalist der DDR, die Mutter ist Kostümbildnerin und Malerin. Arbeit beim Fernsehen der DDR. 1981 Kündigung, um freie Schriftstellerin zu werden. 1989 Bürgerrechtlerin, obwohl auch Mitglied der SED. Verheiratet mit dem Schriftsteller Jochen Laabs. Eine elfjährige Tochter.
Gaus: Der Untertitel Ihres jüngsten Buches lautet ‚Vom Unbehagen in der Einheit’. Sie führen manche Gründe für Ihr Unbehagen an – vorab gefragt: Wenn Sie Ihr Unbehagen im vereinten Deutschland einer westdeutschen Frau Ihrer Generation gegenüber auf einen Generalnenner bringen wollten, was würden Sie ihr sagen?
Dahn: Dieses Unbehagen hat natürlich viele Komponenten. Aber wenn ich nach einem Generalnenner gefragt bin, würde ich wohl zunächst sagen, dass mir die Einheit manchmal wie ein Missverständnis vorkommt, weil die eine Seite das Gefühl hat, sie gibt ihr Letztes, und die andere Seite meint, man nimmt ihr das Letzte. Und dieses Missverständnis kommt daher, dass beide Seiten, die Leute auf beiden Seiten, tatsächlich einen ziemlich hohen Preis zu zahlen haben, während nur eine kleine Gruppe an der Einheit wirklich gewonnen hat. Und das Verrückteste ist, dass diese Gruppe es auch noch verstanden hat, ihre Methode des ‚Märkte schaffen ohne Waffen’ als das Siegerideal hinzustellen. Dadurch sind auf beiden Seiten völlig verzerrte Bilder voneinander entstanden, und vor allem keine Chancengleichheit. Und das ist das, was ich – aber das weiß sie vielleicht selber – dieser Frau noch speziell sagen würde: dass wir Ostfrauen jetzt auf das gleiche Niveau gerutscht sind, wie die in ihren Chancen uns gegenüber doch benachteiligten Westfrauen.
Gaus: Worin bestand der Vorteil der Ostfrauen?
Dahn: Das lässt sich leider am leichtesten in Zahlen sagen: Neunzig Prozent waren berufstätig, im Westen sind es fünfundfünfzig Prozent. Und die Berufstätigkeit bringt eben doch Eigenständigkeit, Selbstbewusstsein, ein eigenes Leben.
Gaus: Nun sagen manche im Westen, vielleicht um sich ein bisschen zu rechtfertigen, dass das eigentlich eine erzwungene Frauenarbeit gewesen sei. Fast, als sei es Zwang gewesen.
Dahn: Damals konnte man das behaupten. Aber jetzt sieht man ganz eindeutig, dass fast alle nach wie vor und voll berufstätig sein wollen. Es ist nicht eingetreten, dass jetzt vierzig Prozent der Ostfrauen sagen: Endlich sind wir diesen Zwang los, wir wollen genau wie ihr viel lieber Hausfrauen sein. Sie wollen alle weiterarbeiten.
Gaus: Ganz hartgesottene Westler sagen dann: Ihr Ostfrauen seid eben durch vierzig Jahre sozialistische Erziehung verbogen. Ihr seid gar keine richtigen Frauen mehr.
Dahn: Was man als verbogen ansieht, ist natürlich immer eine Frage des Standpunktes. Wir haben manchmal Schwierigkeiten mit dieser verinnerlichten Hausfrauenmentalität, die dann auch noch als Lebensideal angesehen wird, und würden eher das als Verbogenheit ansehen.
Im Übrigen zeigt sich jetzt: Obwohl es nicht selten frustrierend war, Berufstätigkeit mit Mutterschaft zu vereinen, so war es doch – scheint mir – der beste Frust, der für Frauen gegenwärtig möglich ist. Wenn ein Drittel der westdeutschen Frauen zugunsten der Karriere auf Kinder überhaupt verzichten muss, ist das aus unserer Perspektive auch eine Art Verbogenheit.
Gaus: Sie sagen, die Einheit als solche ist ja noch kein Glück, sondern allenfalls die Voraussetzung für gemeinsames Glück oder Unglück.
Dahn: So ist es. Die Einheit ist ja bisher eigentlich nur in der Währungsunion wirklich vollzogen. In allem anderen, ob mental, ob materiell, muss sie noch erreicht werden. Und es sieht im Moment eher danach aus, als ob die Gräben tiefer würden. Es war ein Anliegen von mir, diese verschiedenen Pole erst einmal zu beschreiben, ehe man sich annähern kann.
Gaus: Sie sind auch eine Bürgerrechtlerin gewesen. Obwohl seit 1972 Mitglied der SED, haben Sie im Oktober 1989 den Demokratischen Aufbruch, eine Bürgerrechtsgruppe, mitgegründet. Was haben Sie sich seinerzeit erhofft?
Dahn: Demokratischer Aufbruch war ja schon ein Motto. Es waren die Hoffnungen des Herbstes 1989, die man damals – zumindest noch im Herbst – auf die Kurzformel bringen konnte: Volkseigentum plus Demokratie. Das war das, was wir noch nie hatten, und was auszuprobieren wir nun wirklich neugierig waren. Und was auch alternativ und neu für die westliche Seite hätte sein können. Wir haben vollkommen unterschätzt, dass das von anderen als Gefahr erkannt wurde.
Und so ist in der Bundesbank ganz schnell – dreizehn Tage nachdem die Mauer gefallen war – ein Plan entwickelt und im Zentralrat der Bundesbank vorgestellt worden, der zum Inhalt hatte, jetzt schnellstens zu einer Währungsunion zu kommen. Denn das war klar: mit einer einheitlichen Währung sind eigene Vorstellungen nicht mehr möglich.
Gaus: Nun hat allerdings seinerzeit der damalige Bundesbankpräsident Pöhl zunächst – sogar öffentlich – von einer solchen schnellen und radikalen Währungsunion abgeraten. Er ist dann umgefallen. Das heißt, es muss ja auch Widerstand dagegen gegeben haben. Sie sagen, die herrschende Mehrheit im Westen war klug genug zu sagen: Das müssen wir schnell machen, sonst gibt es einen dritten Weg. Glauben Sie das?
Dahn: Das glaube ich ganz sicher. Es war ja nicht nur Pöhl. Pöhl hat mir gesagt – ich habe mich lange mit ihm darüber unterhalten –, dass er sich ärgert, nicht gleich zurückgetreten zu sein, als Zeichen. Es waren Sachverständige aus allen Wirtschaftsbereichen, die gesagt haben, das geht nicht gut, das wird sehr teuer für viele Jahre. Aber es war politisch so gewollt, um genau das zu vermeiden, was wir schon angedeutet haben. Und jetzt zahlen wir alle die Rechnung.
Gaus: Wenn ich mit Ostdeutschen spreche, stelle ich oft fest, dass sie viel schneller als ich an eine Art Meisterplan denken. An eine bewusste Absicht. Sie sind einer Verschwörungsvorstellung viel näher als ich. Ich kann nur für mich sprechen. Das, was ich sage, soll nicht für die Westdeutschen gelten. Ich befürchte, es ist viel schlimmer. Wenn es einen Interessenplan gibt, der für die Mehrheit nachteilig ist, kann man den Plan vielleicht aufdecken. Wenn er aufgedeckt ist, hat er schon die Hälfte seiner Kraft verloren. Ich befürchte, vieles geschieht, weil zum Beispiel viele im Westen seinerzeit tatsächlich geglaubt haben, die Marktwirtschaft würde das richten. Und zwar schnell und gut. Sie sind Opfer ihrer eigenen Propaganda geworden? Sind auch Sie gelegentlich auf einen solchen Unterschied gekommen, dass Sie und andere aus dem Osten, die ich kenne und schätze, schneller als ich bei einer Verschwörungstheorie sind, bei einer Absicht?
Dahn: Ich würde das überhaupt nicht Verschwörung nennen. Ich empfinde es auch nicht so. Aber ich empfinde doch, dass diese Gesellschaft hier ganz stark eine Gesellschaft von organisierten Interessen ist. Und wer sich am besten organisiert, der setzt auch seine Interessen am besten durch. So war es auch bei der Einheit. Gerade in solchen Umbruchsituationen ist die Gefahr natürlich noch größer, dass sich Lobbyismus festmacht und durchsetzt. Sie sagen, man kann das aufdecken, man tut es ja auch, viele tun es. Ich habe ein Buch darüber geschrieben, viele andere ebenfalls. Das Aufgedeckte setzt sich im öffentlichen Bewusstsein aber nicht durch. Der Zeitgeist hat auch seine Interessenvertretung.
Gaus: Das glaube ich. Ich glaube, dass Fakten gegen den Zeitgeist fast ohnmächtig sind. Macht Sie das als Autorin bitter?
Dahn: Gelegentlich sehr, aber ich weiß keinen besseren Weg, diese Bitterkeit zu überwinden, als immer wieder dagegen anzuschreiben. Und gelegentlich habe ich dabei auch Erfolgserlebnisse. Ich muss wohl so weitermachen.
Gaus: Ich unterstelle, dass ein Bündel von Gefühlen Sie bewegt, und ich denke, dass es gemischte Gefühle waren, die Sie hatten, als die Berliner Mauer am 9. November 1989 fiel. Können und mögen Sie sich erinnern, was Sie seinerzeit, als die Mauer keine mehr war, empfunden haben?
Dahn: Es war Irritation, Verwirrung. Der 4. November lag erst fünf Tage zurück...
Gaus: Das war der Versuch, Volkseigentum und Demokratie...
Dahn: Genau. Das war der Höhepunkt unserer Hoffnungen. Und fünf Tage später – es war ja eigentlich sehr schön, ich habe mich gleich unter die Massen gemischt, es war eine Euphorie und eine Freude auf beiden Seiten, der man sich gefühlsmäßig nicht entziehen konnte. Und trotzdem war schon eine dunkle Ahnung dabei, dass es so überstürzt eigentlich nicht gut gehen kann.
Gaus: Sind Sie den Menschen gram, die Ihrem dritten Weg nicht folgen, sondern so schnell wie möglich im Westen konsumieren wollten?
Dahn: Ich bin ihnen nicht gram, aber eine gewisse Inkonsequenz muss man den Ostdeutschen schon vorwerfen: Erst wählen sie mit großer Mehrheit jene Parteien in die Volkskammer, die den schnellen Beitritt beschließen werden, und jetzt, wo der Beitritt geschehen ist, sind Umfragen zufolge zwei Drittel der Ostdeutschen gegen diese Ordnung. Die manchmal von Westdeutschen geäußerte Frage, ob wir uns das, was gekommen ist, vorher nicht vorgestellt hätten, kann ich nicht so ganz von der Hand weisen.
Gaus: Sind Sie von den Menschen enttäuscht?
Dahn: Das passt nicht in mein Menschenbild.
Gaus: Die Enttäuschung?
Dahn: Ja. Diese Art Resignation über Menschen, dass ich sie aufgebe. Wenn ich enttäuscht wäre, könnte ich nicht mehr schreiben.
Warum?
Dahn: Weil ich doch beim Schreiben jemanden als Adressaten brauche. Wenn man von allen enttäuscht ist, hat man keinen Grund mehr zum Schreiben. Man kann nur sagen, ich sehe es anders, und ich will euch jetzt das erzählen, was ich beobachtet habe. Leuten, die man abgeschrieben hat, erzählt man nichts mehr.
Gaus: Ich wollte Sie das eigentlich nicht fragen, Sie sind noch so jung. Aber nun kommt die Gaussche Standardfrage doch: Wird es je etwas anderes geben als den alten Adam und die alte Eva?
Dahn: Es gibt den jungen Adam und die junge Eva.
Gaus: Die sind anders – außer jung?
Dahn: Die sind offener. Jetzt, wo es mit der DDR vorbei ist, merken wir doch, dass die beiden Bevölkerungen tatsächlich anders sind. Ich will nicht behaupten, dass man Menschen generell und andauernd verändern kann, aber dass sie zu prägen sind durch andere Erfahrungen, ist doch jetzt bewiesen. Sonst wäre man sich nach sechs Jahren nicht immer noch so fremd. Und gerade junge Leute sind für solche Prägungen offener, ich glaube durch Erfahrungen und, wenn Sie so wollen, durch Aufklärung beeinflussbarer. Wenn man nicht zumindest Hoffnung in diesen Gedanken hätte, wäre Schreiben auch relativ sinnlos.
Gaus: Bürgerrechtlerin, Frau Dahn. Beim Demokratischen Aufbruch waren Sie mit Herrn Eppelmann zusammen, der im Bundestag bei der CDU untergekommen ist. Andere sind bei anderen mehr oder weniger etablierten Parteien, wieder andere scheinen verbittert, versuchen aus ihrer Vergangenheit, ihren großen Tagen in der Wendezeit eine immerwährende Gegenwart zu machen. Es ist so verständlich wie unmöglich. Riskieren Sie ein Urteil über diese Verbitterten?
Dahn: Ich weiß nur, dass alle jene, die am Anfang im Demokratischen Aufbruch sehr einig und unzertrennlich waren, plötzlich sehr unterschiedliche Wege gegangen sind. Am Anfang haben wir uns auf eine Formel geeinigt, die in etwa lautete: Wir verwahren uns gegen die Unterstellung, die DDR in kapitalistische Verhältnisse Zurückreformieren zu wollen. Unterschrift: Eppelmann.
Dann hat sich sehr schnell gezeigt, dass wir eigentlich alle etwas anderes meinen. Ein Urteil über Verbitterte: Es tut mir leid, aber früher war unser Umgang miteinander lockerer. Jetzt hat sich zwischen Autoren, Künstlern, Bürgerrechtlern eine Verkrampftheit hergestellt, die damals nicht da war. Ich glaube, Bärbel Bohley hat einmal gesagt: Die Künstler waren eigentlich immer nur Salonoppositionelle. Ich muss sagen, ich kann mit diesem Begriff ganz gut leben.
Ich erinnere mich, als wir – wir sind in dem Falle einige Schriftstellerkollegen – beim Schriftstellerkongress 1987 gegen die Zensur gesprochen haben, das war, wenn ich mich recht entsinne, im Roten Salon in der Kongresshalle am Alexanderplatz. Ich meine, man soll Opposition da machen, wo man gerade ist, Hauptsache, man macht sie. Und ich habe manchmal den Eindruck, einige dieser Bürgerrechtler sind heute nicht einmal Salonoppositionelle, sondern nur noch Salon. Das ist schon schade.
Gaus: Ich gehe ein paar Fragen zurück. Meine Frage nach Ihrer Mitbegründung des Demokratischen Aufbruchs habe ich eingeleitet mit dem Hinweis, Sie seien Mitgründerin gewesen, obwohl Sie Mitglied der SED gewesen waren. Die Formulierung unterstellt, dass eine schließe dass andere aus, war aber absichtlich so von mir formuliert. Ich wollte Sie provozieren. Sie haben es auf sich beruhen lassen, aber nun frage ich: Ärgert Sie ein solches pauschales Urteil über die SED?
Dahn: Ja, das ärgert mich schon, weil es auch eines aus dem Nachhinein ist. Ich erinnere mich genau: Als wir damals am Gründungsabend in dieser Runde bei Pfarrer Neubert saßen, da habe ich es – vielleicht sogar zum ersten Mal im Leben – für nötig befunden, zu sagen, dass ich in der SED sei. Das zu erwähnen, war früher nicht nötig. Es war deshalb nicht so wichtig, weil wichtig war, wie man sich verhielt, nicht, wo man organisiert war. Da haben die Leute ziemlich genau unterschieden, glaube ich. An dem Abend dachte ich plötzlich, jetzt sage ich es nun mal gerade. Und es wurde mit Sonderbeifall aufgenommen, dass man von allen Seiten her zusammenhält und versucht, einen demokratischen Aufbruch zu finden. Es ist dann erst später wieder umgekippt, als man geglaubt hat, jetzt müsse man mal sauber sortieren, wo die Bösen waren und wo die Guten. Das ist natürlich eins von diesen vielen Klischees, gegen die zu schreiben ich auch versuche.
Gaus: Wie erklären Sie sich, dass heute das vorherrschende westdeutsche Urteil über die DDR-Realität der Nach-Stalin-Zeit so undifferenziert ist, eher grobschlächtig?
Dahn: Auch grobschlächtiger als es schon mal war, als die Mauer noch stand. Es ist schwer zu erklären. Sie leben mehr unter Westdeutschen als ich, wissen es sicher besser. Offenbar geht es um das Gefühl, jetzt ganz eindeutig unter den Siegern zu sein und die anderen kleinreden zu können. Endlich die gefunden zu haben, die alles falsch gemacht haben, muss doch sehr schön sein.
Gaus: Ich biete Ihnen eine andere Erklärung an, und Sie sollen sagen, ob Sie sie für möglich halten oder für ganz und gar falsch: Manches ist schiefgelaufen. Wir sprechen darüber, Sie haben darüber nicht das erste Mal ein Buch geschrieben. Diese Vergröberung der DDR-Realität im Nachhinein vom Westen aus lässt die Fehler, die man gemacht hat, und von denen man allmählich sieht, dass man sie gemacht hat, eher erträglich erscheinen. Kann das sein?
Dahn: Sie meinen jetzt die westdeutschen Fehler? Das hängt – glaube ich – zusammen mit dem, was ich meinte. Die Fehler, die man gemacht hat, und die man weiter macht. Denn es läuft ja nicht so ganz besonders gut im Moment. Insofern ist es natürlich viel schöner, über die Fehler der anderen zu reden und sie als einzige Ursache für das, was im Moment nicht glatt läuft, darzustellen, als sich selbst zu befragen, ob man nicht möglicherweise auch das eine oder andere hätte verändern können in dem Moment, als alles offen war.
Gaus: Aber es war nicht alles offen, sagen Sie.
Dahn: Weil Leute es nicht offen wollten. Es hätte offen sein können.
Gaus: Haben Sie Erinnerung an diese wirren Zeiten der Wende, der unmittelbaren Wende? Halten Sie es für möglich, dass Sie und ich, Ihre Generation und meine Generation, etwas vergleichbar Freies nie wieder erleben?
Dahn: Ich fürchte es fast.
Gaus: Die alten Anpassungsklischees des Ostens waren brüchig geworden. Die neuen des Westens waren noch nicht zur Macht gelangt.
Dahn: Es waren unvergleichliche Wochen. Man forderte etwas, und am nächsten Tag war es schon erfüllt. Man machte Sendungen, für die es keine Abnahmen mehr gab, man entwarf Gesetze, man setzte Leute ab. Es war unglaublich, in welchem Tempo plötzlich Veränderungen möglich waren. Inzwischen ist schon wieder alles so festgefahren.
Gaus: War es wie im Kindergarten?
Dahn: Nein. Es war schon eine tolle Erfahrung, in der es auch viel Reife, Würde und Souveränität gab. Aber zu denken, es könne so weitergehen, hatte vielleicht doch einen kindlichen Zug.
Gaus: Schmerzt Sie das Scheitern des sozialistischen Versuchs?
Dahn: Ja. Ich sehe keine Alternative, die wirklich dauerhafte Lösungen anbietet. Möglicherweise war es aber insofern ein notwendiges Scheitern, weil es doch jetzt Freiräume schafft, im Denken und vielleicht sogar im Praktischen einen anderen, ob nun sozialistischen oder wie auch immer genannten dritten Weg – es sind ja alle Begriffe diskreditiert – zu finden. Aber es muss ein anderer Weg gesucht werden, weil immer mehr Menschen sehen, dass das, was wir jetzt haben, nicht die Lösung ist. Insofern ist es einerseits schmerzlich, weil so viel Zeit verloren worden ist, andererseits ist es vielleicht die einzige Chance, wirklich etwas Neues zu beginnen.
Gaus: Was ist Ihre Antwort auf den westdeutschen Vorwurf, es gebe im Osten eine DDR-Nostalgie?
Dahn: Das finde ich einfach falsch. Nostalgie ist ja eindeutig etwas Pejoratives. Es ist nicht wahr, dass die Leute die DDR wiederhaben wollen. Sie trauern den verpassten Chancen nach, dass man gemeinsam etwas Neues hätte machen können. Sie sind verärgert über diese Klischees der DDR gegenüber und haben insofern das Gefühl – das beobachte ich in letzter Zeit wirklich –, selbstbewusster zu ihrem Leben zu stehen.
Gaus: Sie beschreiben in Ihrem jüngsten Buch das Entstehen eines gewissen Trotzes im Osten. Bildet sich da eine Ost-Identität in der Gemeinschaft innerhalb des gesamten Deutschlands? Es ist ja nicht so, dass der südbadische Winzer im Bismarck-Reich genauso zu Hause gewesen ist wie der Mecklenburger Landarbeiter. Zu den Platitüden dieses Einheitswahns, wie wir ihn primitiv betrieben haben, gehörte doch die Vorstellung: Wenn ihr nun endlich freigesetzt seid, vierzig Jahre hin oder her, seid ihr sofort so wie Westdeutsche. Wird es bleibend eine Ost-Identität geben und woraus besteht sie?
Dahn: Das Wort Ost-Trotz ist, glaube ich, eine West-Erfindung. Ich verstehe schon, was damit gemeint ist. Aber das Wort selber lehne ich ab, weil es suggeriert, es handele sich um ein Verhalten von Leuten, die sich nicht angemessen benehmen können, die wie Kinder reagieren. Ich nenne es anders. An einer Stelle meines Buches nenne ich es die "So-Nicht-Mentalität", die sich in der DDR ausgeprägt hat. Man war in der DDR einfach stärker gewohnt, es auszuhalten, dagegen zu sein. Das war ein normales Lebensgefühl, das im Westen, glaube ich, aus verschiedenen Gründen nicht so weitverbreitet ist. Dieses Lebensgefühl hat man mit hinübernehmen können. Man hat am Anfang vielleicht nicht gewusst, dass man es noch brauchen wird. Und nun zeigt sich durch die anhaltenden Versuche von Demütigung und Vereinnahmung, dass man es doch noch braucht. Es ist schon richtig, dass man jetzt Absurderweise etwas zusammenschweißt, sich eine Identität unter Leuten mit östlicher Erfahrung prägt, die so gar nicht nötig gewesen wäre, wenn es mit der Einheit anders gelaufen wäre.
Gaus: Demütigung – das ist ein sehr starkes Wort. Versuchen Sie zu sagen, was Demütigung ist. Ich weiß: Ungerechtigkeit ist in der Frage wie in der Antwort. Trotzdem: Was ist die Demütigung, die vor allem vom Westen her dem anderen angetan wurde?
Dahn: Sie besteht im Materiellen wie im Ideellen. Materiell ist es einfach so, wenn fünfundneunzig Prozent des Volkseigentums – und juristisch war es Volkseigentum, es gehörte tatsächlich dem Volk und nicht dem Staat, denn Staat ist niemand, dem etwas gehört, Staat ist immer nur ein Verwalter von Eigentum –, wenn also fünfundneunzig Prozent davon in westliche Hände gehen, dann ist das eine gewaltige Demütigung, weil schon klar ist: Wo kein Haben ist, ist auch kein Sagen. Das ist jetzt erst einmal für lange Zeit zementiert. Das ist nicht mehr so schnell rückgängig zu machen.
Die zweite Ebene ist die psychologische. Wenn einem eingeredet wird, man habe in seinem Leben eigentlich alles falsch gemacht, die Biographie sei vollkommen umsonst gewesen, dann ist natürlich auch das eine Demütigung, gegen die man sich wehren muss. Weil man das auf Dauer nicht erträgt.
Gaus: Nun hat das Volk im großen und ganzen – wie ich es beobachten konnte, als ich als Westdeutscher in der DDR lebte – das Volkseigentum ja ein bisschen missachtet. Es hat offenbar die Zeit nicht gereicht, dafür ein Bewusstsein zu entwickeln. Vielleicht aber ist das auch im Menschen nicht angelegt, ein solches Bewusstsein wirklich zu entwickeln. Ein bisschen war es doch so, weil es eben niemandem wirklich gehörte, außer dem Volk, hat das Volk Schindluder getrieben mit dem Eigentum. Ist das falsch?
Dahn: Im Bereich der Produktion ist es sicher richtig. Die ganze Wirtschaft war so zentralisiert, dass wirklich niemand ein Eigentümerbewusstsein entwickeln konnte. Das war sicher einer der Kardinalfehler. Ich habe aber in den siebziger Jahren zum Beispiel einmal einen Film über Betriebsferienheime gemacht und gesehen, mit welcher Liebe und mit welchem Engagement das gehegt und gepflegt wurde. Und auch mit welchem Egoismus, dass das wirklich nur für den Betrieb ist und nicht etwa auch für Leute aus der Öffentlichkeit. Sobald man sich identifizieren konnte mit etwas...
Gaus: ... war es beinahe wieder privat.
Dahn: Es war aber juristisch volkseigen.
Gaus: Jetzt betrügen Sie sich selber ein bisschen.
Dahn: Juristisch stimmt es schon.
Gaus: Aber psychologisch. Ihr Betriebsheim war schon wieder beinahe meins.
Dahn: Beinahe, aber eben nicht wirklich.
Gaus: Nicht in der Macht, die vom Besitz ausgeht. Das ist wahr.
Dahn: Und so gab es verschiedene, auch öffentliche Einrichtungen, ob das nun die Polikliniken oder die Kulturhäuser waren, die waren schon angenommen.
Gaus: Wer Sie kennt, der sagt, Sie hätten schon immer Courage gehabt – vor der Wende und seither auch. Was treibt Sie, nach Ihrer Selbsteinschätzung, den Kopf aus der Nische zu stecken?
Dahn: Ich bin offenbar irgendwie so strukturiert, dass ich immer das Bedürfnis habe, mich einzumischen. Zurückziehen und resignieren finde ich unbefriedigend. Das Einmischen bringt auch nicht immer etwas, aber manchmal habe ich schon die Erfahrung gemacht, dass es vielleicht doch etwas angestoßen hat. Ich habe für mich keine andere Option, als mich immer wieder einzubringen. Jetzt kann ich das mit noch mehr Deutlichkeit und nutze es auch.
Gaus: Nach dem Abitur haben Sie zunächst im DDR-Fernsehen volontiert, dann in Leipzig Journalistik studiert und danach wieder im Adlershofer Fernsehen gearbeitet. Zuerst beim Jugendfernsehen, danach in der Prisma-Redaktion, einem politischen Magazin. Im Jahr 1981 kündigten Sie beim Fernsehen und wurden freie Schriftstellerin. Bisher haben Sie vier Bücher verfasst, zwei vor der Wende, Kurzprosa und Reportagen, nach der Wende das Buch „Wir bleiben hier oder Wem gehört der Osten?“ und als vorerst letztes jenes über das Unbehagen mit dem Obertitel „Westwärts und nicht vergessen“. Warum haben Sie 1981 beim DDR-Fernsehen gekündigt?
Dahn: Aus dem deutlichen Gefühl heraus, nicht mehr genug Eigenes einbringen zu können. Als ich Anfang der siebziger Jahre dort begann, gab es gelegentlich noch Phasen, in denen man die Illusion haben konnte, es müsse irgendwann doch einmal vorwärts gehen. Damals lebte Lamberz noch, der erklärte, die Massenmedien...
Gaus: Lamberz war jenes Politbüromitglied, das in Libyen mit dem Hubschrauber abgestürzt ist...
Dahn: ... sollten Tribünen für die Meinungen im Volk werden. Damals konnte man noch hoffen. Und es gab Ansätze in den siebziger Jahren. Ich konnte eine eigene Sendung entwickeln, die dann sehr bald wieder eingestellt wurde, es war immer ein Auf und Ab. Anfang der achtziger Jahre hatte ich dagegen das Gefühl, jetzt ist es, was die Möglichkeiten betrifft, nur noch ein Ab. Und es war dann meine Konsequenz zu sagen: In dem Beruf kann ich jetzt nicht weiter. Freischaffender Journalist konnte man damals nicht sein, das war steuerrechtlich nicht vorgesehen, weil man die Journalisten unter Kontrolle haben wollte. So blieb nur die Flucht nach vorn, und ich beschloss, Schriftstellerin zu werden, in dem Moment nicht genau wissend, ob das gelingen würde, und ob die Spielräume da wirklich so viel größer sein würden. Sie waren dann zwar nicht unbegrenzt, aber größer waren sie doch.
Gaus: Ihr Elternhaus war intellektuell geprägt. Vater und Mutter waren – nicht in einem platten Sinne – linientreu. Aber die DDR hielten sie unzweifelhaft nach Wille und Vorstellung für ihren deutschen Nachkriegsstaat und nicht den westdeutschen nebenan.
Zwei Fragen in diesem Zusammenhang: Akzeptieren Sie, wenn man sagt, Sie gehörten mit diesem Hintergrund zu einer Minderheit im Land? Zu diesem Hintergrund gehört auch: Dieses ist mein Staat – den anderen verabscheue ich.
Dahn: Wahrscheinlich gehörten wir zu einer kleineren Gruppe, als es mir damals bewusst war. Irgendwie war ja die DDR auch so strukturiert, dass man immer wieder mit Leuten zusammenkam, die ähnlich dachten, und man konnte sich schnell verschätzen in der Hochrechnung und denken: Es ist doch mehr als eine Minderheit. Dennoch war es meine Erfahrung – auch während der Jahre als Journalistin war ich ja viel in Betrieben unterwegs, in Einrichtungen, in Krankenhäusern, Kulturhäusern, wo immer Sie wollen –, da traf ich schon auf eine Art Engagement, zwar immer auch mit Verbitterung, dass es anders sein müsste. Aber das Gefühl, alle hätten längst alles abgeschrieben, hatte ich nicht. In dieser idealen Variante, in dieser idealistischen, waren wir sicher eine Minderheit, wenn wir dachten, ein lebenswerter Sozialismus würde eines Tages gelingen. Aber dass es in der Bevölkerung keinerlei Art einer gewissen Verinnerlichung gegeben habe, war meine Erfahrung nicht.
Gaus: Die zweite Frage mit Blick aufs Elternhaus: Waren Sie privilegiert?
Dahn: An sich war man in der DDR privilegiert, wenn man Arbeiter- und Bauernkind war. Aber natürlich war es auch eine Art Privileg, im häuslichen Umfeld relativ viele andere Meinungen zu hören, als sie üblich waren, und so ziemlich früh Anstöße für selbständiges Denken, das auch mal von der Spur abweicht, zu bekommen. Bei uns gingen viele interessante Leute ein und aus, Widerstandskämpfer, Bekannte aus dem westlichen Ausland, Journalisten, Freunde. Da waren viele verschiedene Anregungen. Vielleicht ist das ein Privileg in so einem geschlossenen System.
Gaus: Ich habe die jüdische Verwandtschaft von Seiten Ihrer Mutter erwähnt. Heute wird im Westen – nicht sehr überzeugend, aber hier und da doch – aus der geschlossenen Haltung des Ostblocks gegenüber dem Staate Israel auf einen gewissen Antisemitismus rückgeschlossen. Hat es in der DDR einen versteckten Antisemitismus gegeben?
Dahn: Sicher hat es zu der Zeit, die ich nicht mehr bewusst erlebt habe, Anfang der fünfziger Jahre, in der Stalinzeit, eine Art Antisemitismus gegeben. Der war aber sehr eng verwoben mit politischen Verschwörungstheorien und äußerte sich demzufolge mehr als ein Antizionismus, als Auseinandersetzung mit einer Art imperialer Verschwörung gegen den Sozialismus oder ähnlichem, die Slanski-Prozesse… Das war immer mit politischen Klischees gekoppelt und ist dann auch nach Stalins Tod relativ schnell verschwunden. Die Linie hat sich geändert. Die jüdischen Gemeinden sind alle rehabilitiert worden. Und in der Zeit, an die ich mich erinnern kann, gab es einen ethnisch begründeten Antisemitismus nicht. Ich habe jedenfalls nie so etwas erlebt. Und auch unter den Freunden, die ich kenne, habe ich immer eher die Meinung gehört, dass Juden eine privilegierte Minderheit waren, der man, vielleicht aus einem unbewussten Schuldgefühl heraus, entgegenzukommen versuchte, in praktischen Angelegenheiten zum Beispiel.
Gaus: Inwieweit haben Sie mit Ihrem Familienhintergrund und aus eigenem Interesse die Emigranten, von denen es nach 1949, als beide deutsche Nachkriegsstaaten gegründet worden waren, viele, vor allem namhafte, vorgezogen, in die DDR zu gehen und nicht in die Bundesrepublik, inwieweit haben Sie diese Emigrantenschicksale, die zum Teil auch jüdische Schicksale waren, als eine sich in der DDR manifestierende Realität wahrgenommen?
Dahn: Ja, ich habe eine ganze Reihe dieser Emigranten kennen- und schätzen gelernt. Ich hatte ein sehr enges Verhältnis zu ihnen und habe aus den von ihnen erlebten Geschichten oder aus dem, was ihren Verwandten widerfahren war und wovon sie erzählten, letzten Endes meinen moralischen Rigorismus gewonnen. Für mich war Antifaschismus nie: Man muss die wenigen Mutigen verehren. Sondern die Botschaft des Antifaschismus an mich war: Man muss im Leben mutig sein.
Gaus: Als die DDR-Führung 1976 den Liedermacher Wolf Biermann ausbürgerte, ging ein Riss durch die Gruppe der Intellektuellen, der Schriftsteller, der Künstler im Land. Nicht wenige protestierten. Sie waren seinerzeit, wir haben es ja erwähnt, beim DDR-Fernsehen beschäftigt, wo es auch eine Belegschaftsversammlung gab, auf der die Parteilinie festgeklopft werden sollte. Ich weiß, was Sie damals getan haben, aber ich hätte gern, dass Sie es selbst erzählen, auch wenn es Sie geniert. Bitte.
Dahn: Es ist etwas schwierig, von eigenen »Heldentaten« zu erzählen. Ich war damals noch nicht lange von der Hochschule gekommen, hatte also kaum einen Hintergrund an Leistung, war eine junge Absolventin, und da saßen 120 Leute und regten sich geradezu hysterisch über dieses Kölner Konzert auf. Und je mehr die sich aufregten, desto mehr regte auch ich mich auf und dachte: Ich muss hier etwas anderes sagen, sonst kann ich mich nie wieder an diese Versammlung erinnern. Ich bin dann aufgestanden und habe mit zitternder Stimme gesagt, dass ich doch große Bedenken gegen diese Ausbürgerung hätte. So etwas hätten andere vor uns getan, und das stehe der DDR nicht gut zu Gesicht. Also eigentlich Selbstverständlichkeiten. Aber wenn man unter 120 Leuten ganz allein ist, erscheint es schon nicht mehr so selbstverständlich, und ich wusste ja auch: Es gibt nur das eine Fernsehen im Lande, und ich habe keinen anderen Beruf als den des Fernsehjournalisten. Danach kamen dann ziemlich unschöne Gespräche und Aufregungen und Drohungen. Es hatte sich so wohl auch kein anderer Journalist im Hause in meinem Sinne geäußert, aber Gott sei Dank ein paar Regisseure und Schauspieler. Irgendwann, nach einer Woche oder nach zweien – es war ja so unberechenbar in der DDR und viel Willkür im Spiel –, kippte das Ganze um, und man ließ uns in Ruhe. Ich weiß nicht, wer da irgendwas im Hintergrund geschaltet hatte.
Gaus: Die Prominenz des Vaters, hat die geholfen?
Dahn: Ach wissen Sie, gerade zu der Zeit sind viel prominentere Leute als mein Vater in Schwierigkeit geraten. Letzten Endes musste man für seine Meinung schon allein geradestehen.
Gaus: Was waren das für Gespräche, die man mit Ihnen geführt hat?
Dahn: Ich sollte das Gesagte widerrufen. An sich ging es darum, dass alle 120 Leute unterschreiben sollten, dass sie voll hinter den Maßnahmen von Partei und Regierung stünden. Und weil einer dagegen gesprochen hatte, haben sie diese ganze Unterschriftenaktion dann weggelassen, man hatte offensichtlich Angst, es könne sich herumsprechen bis zur Kreisleitung oder was weiß ich wohin, dass es auch Gegenstimmen gegeben habe. Da man das nicht wollte, hat man lieber diese ganze Befürwortungskampagne eingestellt. Ich kann nicht mehr sagen, ob es das Ziel war, sie später doch noch nachzuholen.
Gaus: Was haben Sie am meisten vermisst in der DDR? Was hat Ihnen am meisten gefehlt? Mehr Widerspruch?
Dahn: Ja, Öffentlichkeit, als Journalist hat mir Öffentlichkeit gefehlt: dass man Eigenes einbringen kann, dass unterschiedliche Meinungen akzeptiert werden, dass man Andersdenkenden gegenüber tolerant ist. Das wurde in den achtziger Jahren, bis Mitte der achtziger Jahre wirklich eher enger. Mit Gorbatschow brach dann wieder einiges auf. Eine letzte Hoffnung. In den Medien blieb zwar alles vorgegeben, in der Literatur aber war es ziemlich anders. Da war erstaunlich viel möglich. Man hatte eben die Vorstellung, in den Massenmedien müsse alles ganz geradlinig sein. Und das gehörte für mich mit zum Schlimmsten an dieser Art Sozialismus.
Gaus: Wie stellt sich die pluralistische Öffentlichkeit in Ihren Augen dar?
Dahn: Das ist für mich eine ziemliche Umstellung. Heute ist alles gültig, man kann alles sagen. Peter Turrini hat gesagt: „Alles ist gleich gültig und somit gleichgültig.“
Ich habe ein wenig das Gefühl – ich weiß, dass Westdeutsche immer ziemlich empört sind, wenn ich das sage, aber Sie werden vielleicht gnädiger mit mir umgehen –, dass diese unglaubliche Vielfalt in der gar nicht mehr gewertet wird, sondern alles ist gleich präsent, und sobald einer eine Meinung sagt, ist, wegen der Ausgewogenheit, auch die Gegenmeinung da. Das ist das totale Gegenteil von Zensur. Aber komischerweise ist die Wirkung nicht so sehr viel anders, weil der wirklich neue Gedanke, wenn Sie so wollen: auch der subversive, in diesem Brei nicht mehr durchkommt.
Gaus: Die Manipulation im entschwundenen System und die im westlichen – welche ist nach Ihrer Beurteilung wirkungsvoller?
Dahn: Wirkungsvoller, weil verinnerlichter, ist sicher die im Westen. Wir haben doch immer gewusst, dass alles, was man uns sagt, so nicht stimmt, und wir hatten die vorhin erwähnte „So-nicht-Mentalität“. Wir fühlten uns nicht manipuliert, und waren es im begrenzten Sinne auch nur, weil wir diesen Medien immer misstraut haben. Heute ist alles viel schwerer zu durchschauen, wenn man die Sachen nicht wirklich gründlich selber überprüft. Es ist auch eines meiner Prinzipien beim Schreiben, dass ich mir so eine Meinung vornehme und dann mal ganz genau recherchiere, was denn da nun dran ist. Das kann aber nicht jeder jedes Mal so lange tun, und so ist es ganz schwer, sich die vielbeschworene eigene Meinung zu bilden. Man muss sich auf das verlassen, was einem angeboten wird. Das hat man bis zu einem gewissen Grade verinnerlicht, und so kommen starke Verzerrungen viel unbewusster zustande.
Gaus: Anpassung ans Herrschende und Tonangebende in der DDR und Anpassung ans Herrschende und Tonangebende im pluralistischen System der Bundesrepublik. Was überwiegt? Das Gleichartige oder das Unterschiedliche? Und worin besteht der Unterschied?
Dahn: Ich glaube, dass die Summe der Anpassung in beiden Systemen letztlich gleich ist. Vielleicht hat das etwas mit Statik von Systemen zu tun. Nur der Ort der Anpassung ist ein anderer. Während wir zumindest im Politischen nach außen angepasst sein mussten, wenn wir nicht allzu viel Ärger bekommen wollten, ist man in der westlichen Gesellschaft im Berufsleben angepasst. Viele Festangestellte sagen mir, was sie da an Subalternität erleben, haben sie nicht für möglich gehalten. Da war im Berufsleben in der DDR, wo man ja nicht entlassen werden konnte, wenn man nicht kriminell war, erstaunlich viel möglich, was man sich heute vielleicht schon gar nicht mehr vorstellen kann. Da konnte man seine Meinung gegen seinen Chef doch schon vorbringen, was man sich heute gut überlegen sollte. Insofern ist der Anpassungsdruck gerade dann, wenn so viele Arbeitslose vor der Tür stehen und warten, nicht geringer geworden.
Gaus: Also Not und Angst vor Not nach der Wende machte schwächer und anpassungswilliger und nicht aufmüpfiger?
Dahn: Das fürchte ich, ja. Allerdings kann es auch umkippen, wenn einem wirklich der Kragen platzt, wenn es sozusagen eine innere, eine psychische Not ist – wir sprachen von den Demütigungen –, dann kann schon so etwas entstehen, was ich jetzt zu beobachten glaube. Vielleicht ist noch Wunschdenken dabei, aber es gibt viele Tendenzen des neuen Selbstbewusstseins Ost. Ich beobachte das nicht nur bei Autoren und Politikern, sondern ich bin ja auch viel zu Lesungen unterwegs, und ich merke, wie Leute nach der Lesung diskutieren, und dass es da eine Art neue Selbstbesinnung gibt auf das, was war, gemessen an den Erfahrungen, die man jetzt macht. Insofern denke ich, es sind beide Tendenzen möglich.
Gaus: Ist das nicht wieder nur eine neue Nische?
Dahn: Nein, das ist gerade eine Art Heraustreten aus der Nische. Nische war es bisher, wo man erst mal abwartete mit dieser Gesellschaft und klarzukommen sich bemühte. Aber jetzt, wo man doch versucht, genauer zu artikulieren, was einem nicht passt an dieser Gesellschaft, das empfinde ich nicht als Nische.
Gaus: Und wenn die Arbeitslosigkeit nicht zurückgeht, sondern eher zunimmt? Worauf bauen Sie – Sie sind ein junger Mensch – Ihre Erwartungen?
Dahn: Man muss ja wohl davon ausgehen, dass sie zunimmt. Das ist schon wahr. Aber auch dann kann ja dieser Moment eintreten, dass man sagt: Je mehr wir uns jetzt anpassen, desto schlimmer wird es. Es muss grundsätzlich etwas anderes kommen. Unabhängig davon, ob man – und das ist vielleicht wirklich Wunschdenken – zunehmend Schwierigkeiten in seiner Arbeit bekommt, muss man sich wieder organisieren. In seiner Gewerkschaft. Im Moment ist es ja eher so, dass man in bestimmten Situationen im Betrieb lieber nicht erwähnt, dass man in der Gewerkschaft ist. Aber ich denke – und das ist so eine Erfahrung aus dem Herbst 1989 –, es kann ein Punkt kommen, wo das umkippt.
Gaus: Ist das jetzt beinahe verfassungswidrig, was Sie sagen?
Dahn: Das zu überprüfen überlasse ich dem Verfassungsschutz.
Gaus: Erlauben Sie mir eine letzte Frage: Ist es Ihnen ganz einerlei, wenn Sie gegen den Strom schwimmen und das wissen? Oder ist Ihnen dabei manchmal beklommen zumute?
Dahn: Wenn ich beim Schreiben gegen den Strom schwimme, macht es mir Spaß. Sonst könnte ich es, glaube ich, nicht machen. Ich empfinde auch eine Befriedigung dabei, bestimmte Klischees zu hinterfragen und es auch scharf zu tun. Wenn das Geschriebene dann plötzlich gedruckt vorliegt, wird mir schon manchmal beklommen. Dann ist es aus der Hand, und ich kann nichts mehr ändern. Und ich denke: Wenn das jetzt nur nicht alles ganz falsch verstanden wird und anders, als ich es gemeint habe. Die Beklommenheit kommt, aber sie schlägt wieder um, und das Wohlbefinden überwiegt letzten Endes doch.