Sendung vom 26.11.2003 - Schröder, Gerhard

Günter Gaus im Gespräch mit Gerhard Schröder

Gaus:
Mein heutiger Interviewpartner, Gerhard Schröder, geboren 1944 im Westfälischen, ist seit 1998 Bundeskanzler. Vor der Wahl damals war er zum ersten Mal in meiner Interviewreihe, die absichtsvoll „Zur Person“ heißt. Die Interviews sollen versuchen, in Fragen und daraus folgenden Antworten eine Porträtskizze des Befragten zu ergeben. Die politischen Schwierigkeiten Schröders seit einiger Zeit sind mir ein Anlass, ihn ein weiteres Mal in der Reihe zu befragen. Sehen Sie Zur Person Gerhard Schröder.
Sie haben einmal - so heißt es - als junger Politiker am Gitter des Bonner Kanzleramtes gerüttelt und gerufen: „Ich will da rein“. Rütteln Sie jetzt gelegentlich am Gitter des Berliner Kanzleramtes und rufen: „Ich will hier raus“?

Schröder:
Der erste Teil ist eine schöne Geschichte, die ich nie bestätigt, aber auch nie dementiert habe. Ich will das durchbrechen: Sie stimmt. Und der zweite Teil: Nein, warum sollte ich?

Gaus:
Man könnte sich Gründe denken und vielleicht kommen wir im Laufe dieses Interviews, das „Zur Person“ heißt, darauf. Also, Sie rütteln nicht und sagen: „Ich will da raus“?

Schröder:
Nein, überhaupt nicht. Ich habe dafür gearbeitet, drin bleiben zu können. Und ich habe noch was vor.

Gaus:
Als wir dieses Interview Ende September vereinbarten, waren Sie sehr nieder gestimmt. Sie hatten an dem Nachmittag, bevor wir abends darüber sprachen, „Zur Person“ zu machen, noch einmal „Zur Person“ zu machen, das sechste Mal – ich habe es nachgeprüft – öffentlich die Möglichkeit Ihres Rücktritts als Bundeskanzler erwähnt. Sie sind ein gelernter Politiker. Sie wissen, so was nutzt sich schnell ab. Warum haben Sie nach diesem Mittel dennoch gegriffen?

Schröder:
Ich glaube, dass das sechste Mal nicht richtig ist. Aber ich hatte an dem Nachmittag zu reden bei einer Vereinigung, die sich mit innovativen Fragen beschäftigt. Und ich hatte gesagt, mit der Agenda 2010 ist auch politisches Schicksal verbunden. Das war keine Rücktrittsdrohung, sondern das war der Hinweis darauf, dass es mir sehr ernst ist - und sein muss - bei der Durchsetzung dessen, was sich mit der Agenda 2010 verbindet. Und das war klar zu machen damit auch die Ernsthaftigkeit des Vorhabens, von denen, die ja schließlich darüber abzustimmen haben, begriffen wurden. Das ist gelegentlich notwendig, deutlich zu machen, wie ernst einem eine Frage ist, um auch das Maß an Geschlossenheit und Disziplin einzufordern, was es in der Politik braucht. Auch in der Politik, die im Parlament gemacht wird, die demokratisch diskutiert und legitimiert werden muss.

Gaus:
Jetzt müssen wir aufpassen weil – Gerhard Schröder, den ich seit längerer Zeit kenne, wie so viele Journalisten ihn kennen, ein geübter Rhetoriker geworden ist, was dann aber immer ein bisschen von dem Porträt wegführt, was dem Gerhard Schröder vielleicht dann sogar ganz angenehm ist. Die Frage war: Warum sechs Mal? Und jetzt schenke ich Ihnen einmal: Warum fünf Mal? – Es waren sechs Mal, ich habe es wirklich...

Schröder:
Ich weiß gar nicht, wie viel Mal es waren. Es war wirklich notwendig in einer bestimmten Situation...

Gaus:
Warum sechs Mal?

Schröder:
Ja, es war notwendig in einer bestimmten Situation, wo es ja auch Widerstand gegen die Agenda 2010 gab, darauf hinzuweisen: Hier ist etwas sehr Ernsthaftes, sehr Notwendiges fürs Land. Und das ist Kern der Politik. Und ich finde, diese Ernsthaftigkeit zum Ausdruck zu bringen, ist nichts Schlechtes.

Gaus:
Es ging wirklich nur um die Frage der Häufigkeit, weil das Mittel sich verbraucht.

Schröder:
Das kann sein.

Gaus:
Wir kommen darauf noch im Laufe des Gesprächs.

Schröder:
Das kann sein, aber gelegentlich muss man auch Nachdruck verleihen...

Gaus:
Ein boshafter Mensch aus der Medienbranche hat mir bei der Vorbereitung auf dieses Interview gesagt: ‚Na ja, aus so einer Drohung wird dann eine Mitteilung und irgendwann wird es ein Versprechen.’ Also, man muss da aufpassen, wenn man es fünf oder sechs Mal sagt.

Schröder:
Keine Frage. Aber es ist ja auch so gewesen, dass verstanden worden ist, wie ernsthaft das politische Vorhaben gemeint wurde. Verstanden übrigens nicht nur dort, sondern auch später – zum Beispiel auf dem Parteitag der SPD.

Gaus:
Gerhard Schröder – der gewiefteste Medienkanzler, den wir bisher in der Bundesrepublik gehabt haben.

Schröder:
Ich glaube, da unterschätzen Sie Helmut Schmidt.

Gaus:
Darüber wäre ich bereit, mit Ihnen lange zu reden. Es kann sein, dass Sie da Recht haben, aber er hat es anders gemacht. Und es heißt, es wird kolportiert – ob es stimmt oder ob es nicht stimmt - es könnte sehr gut stimmen, dass Gerhard Schröder – auch ein gewiefter Medienpolitiker, gesagt hat: Zum Regieren brauche ich Bild und das Fernsehen. Was hat Ihr Verhältnis zu den Medien so verschlechtert?

Schröder:
Mein Verhältnis hat sich nicht verschlechtert, aber ich glaube, mit dem Amt entsteht eine gewisse Distanz. Früher war man enger zusammen – von beiden Seiten im Übrigen. Zum Beispiel an dem berühmten Abend mit dem Rütteln. Da saß man in der „Provinz“, Sie werden diese Lokalität kennen, direkt gegenüber dem Kanzleramt – Grüne, SPD-Leute und natürlich Journalisten. Und man war – im Grunde diskutierte man. Und nicht alles, was man sagte, war eine Nachricht und man konnte sich darauf verlassen. Heute ist das anders, von beiden Seiten im Übrigen. Ich glaube, das hat nicht nur mit dem Amt das ich jetzt innehabe zu tun, sondern auch mit Medienkonkurrenz, mit Schnelllebigkeit in den Medien, mit der Jagd nach einer Nachricht, die man vor anderen hat. Und deswegen ist das Verhältnis distanzierter geworden. Aber ich will Ihnen zugeben, es gibt noch einen anderen Grund. Ich habe mich ein bisschen geärgert über diesen Begriff ‚Medienkanzler’. Denn was ich versucht habe war, auch in dem Amt eine gewisse Offenheit gegenüber Journalismus zu bewahren und dass dann daraus solche Begrifflichkeiten werden, die ja auch nicht nur positiv gemeint sind, das verstehe ich nicht. Und insofern war das auch ein Rückzug, wenn man so will.

Gaus:
Wären Sie früher auch vor Gericht gegangen, wegen einer im Grunde doch nichtssagenden Behauptung in der Presse: Gerhard Schröder färbt sich die Haare? Hätten Sie früher darüber auch prozessiert oder liegt es daran, dass die Nerven blank sind?

Schröder:
Hat nichts mit Nerven zu tun, hat was mit Wahrhaftigkeit zu tun, die ich auch einklagen muss. Und es hat etwas zu tun: was sich gezeigt hat - dass man, wenn man nicht Anfängen wehrt, Raum gibt für ganz andere Verdächtigungen, die dann ja auch noch kamen. Und denen mussten wir entgegen treten. Übrigens, das bin ich auch mir selbst aber auch meiner Familie schuldig.

Gaus:
Das heißt, Sie würden wieder vor Gericht gehen?

Schröder:
Sicher. Ich finde, wir als Politiker, wenn wir uns in solche Ämter begeben, um solche Ämter uns bemühen, haben zur Kenntnis zu nehmen, dass wir öffentlichere Personen sind als andere. Aber daraus darf kein Journalist ein Recht ableiten, zu lügen.

Gaus:
Und Sie färben sich die Haare nicht?

Schröder:
Nee, ich habe ja eine Zeit lang darunter gelitten, dass Sie nicht so grau werden, wie Ihre, denn man sagt ja, das mache interessant.

Gaus:
Meine sind weiß, das ist noch viel besser.

Schröder:
Noch schöner.

Gaus:
Haben Sie manchmal den Eindruck gehabt während des Wahlkampfes, es gäbe eine Kampagne gegen Sie? Oder haben Sie nach der Wahl den Eindruck gehabt, es gäbe eine Kampagne gegen Sie? Wir reden immer noch über Medien.

Schröder:
Kommt darauf an, was man unter Kampagne sich vorstellt. Aber, dass es natürlich sehr einseitige Parteinahme gegeben hat in bestimmten Medien, das kann man nicht bestreiten. Das kann man im Grunde auch - dem kann man auch im Grunde nicht widerstehen, denn es ist natürlich das Recht von Medien, sich ihr eigenes Bild zu machen. Das gehört zur Pressefreiheit. Aber ich glaube schon, dass wir vor den letzten Wahlen und auch danach bis hinein ins Persönliche mit Dingen zu tun hatten, wo Grenzen überschritten wurden.

Gaus:
Nennen Sie Ross und Reiter!

Schröder:
Ja, ich will jetzt hier keine Medienschelte beginnen. Aber ich glaube, jeder der uns zusieht, weiß aus eigenem Erleben und aus eigenem Lesen, wovon die Rede ist. Das war schon sehr einseitig. Aber ich sage es noch einmal: Diese Einseitigkeit ist Teil der Pressefreiheit, so wie ich sie verstehe, auch wenn ich es bedaure, dass die Einseitigkeit feststeht. Übrigens, was Sie gesagt haben, über die beiden Medien, die ich genannt haben soll, ganz so war es nicht.

Gaus:
Bild und Fernsehen.

Schröder:
... ganz so war es nicht.

Gaus:
Wen haben Sie noch genannt, die FAZ?

Schröder:
Nein nein, ich denke, dass Fernsehen natürlich sehr unmittelbar ist und man über das Fernsehen gleichsam ins Wohnzimmer von Menschen kommt. Das ist natürlich sehr viel direkter als geschrieben. Hat Vorteile – hat aber auch Nachteile. Der Vorteil ist, dass man ungefiltert sagen kann, was man denkt und ungefiltert wahrgenommen wird. Bei den gedruckten Medien, von denen ich sogar bisweilen lerne, ist es anders. Da ist man im Grunde mehr Objekt.

Gaus:
Zur Person Gerhard Schröder: Geboren am 7. April 1944 im niedersächsischen Mossenberg. Der Vater kehrt nicht aus dem...

Schröder:
Halt, im nordrhein-westfälischen Mossenberg.

Gaus:
Das ist das westliche, das ist Westfalen.

Schröder:
Das ist Ostwestfalen, aber der östliche Teil. Das ist an der Grenze.

Gaus:
Deshalb können Sie die Niedersachsen fertig machen, ohne sich selbst fertig zu machen.

Schröder:
So ist es. Ich habe das nie versucht und werde es auch in Zukunft nicht tun.

Gaus:
Die Niedersachsen fertig zu machen? Aber Sie haben es mal gesagt.

Schröder:
Nein,

Gaus:
Unlängst, habe ich gelesen, überall. Das war keine Kampagne.

Schröder:
Nein, nein. Ich habe dazu den einzig notwendigen Satz gesagt...

Gaus:
Euch mache ich fertig.

Schröder:
An sich ist das nicht mein Sprachgebrauch. Dabei bleibe ich auch, auch hier.

Gaus:
Aber man kann ihn doch mal gebrauchen, ausnahmsweise.

Schröder:
Man sollte nicht, man sollte nicht.

Gaus:
Also Sie haben ihn gebraucht. Also, ich bin wirklich tief beschämt, das ist mir noch nie passiert. Ich verbessere mich: Geboren am 7. April 1944 – das stimmt?

Schröder:
Ja.

Gaus:
Im westfälischen Mossenberg.

Schröder:
So ist es.

Gaus:
Der Vater kehrt nicht aus dem Krieg zurück. Die Mutter muss sich mit der Familie mühselig durchbringen. Gerhard Schröder wächst in sozial beengten Verhältnissen auf, wird Jurist, Rechtsanwalt, tritt der SPD bei, wird schließlich Ministerpräsident von Niedersachsen. Und 1998 als Sieger über Helmut Kohl Bundeskanzler.

Schröder:
Das ist korrekt.

Gaus:
Im Jahr 2002 wird Gerhard Schröder gegen Edmund Stoiber in das höchste Regierungsamt wiedergewählt. Was ist das Wichtigste, das Wesentliche, dass sie die Amtsbürde gelehrt hat?

Schröder:
Die Erste?

Gaus:
Beide, das Ganze.

Schröder:
Beide.

Gaus:
– oder den Unterschied.

Schröder:
Na es gibt keinen Unterschied.

Gaus:
Machen Sie den Unterschied, weil Sie sagen: das Erste. Ich meine das Regierungsamt Kanzler.

Schröder:
Nein, ich frage erst...

Gaus:
Was hat das Kanzleramt Sie gelehrt?

Schröder:
Also die erste Phase ist, dass das Amt des Bundeskanzlers etwas ganz anderes ist, als das eines Ministerpräsidenten – sehr viel intensiver und sowohl innen- wie außenpolitisch. In der Innenpolitik gibt es ein viel breiteres Spektrum, dass Sie mindestens verstehen müssen, auch wenn Sie nicht jedes Detail in jedem Fachgebiet kennen müssen. Und die Außenpolitik ist eine ganz neue Erfahrung, weil sie außenpolitische – Außenpolitik eigentlich nur im Amt wirklich machen können. Sie werden es wissen aus eigener Erfahrung. Und insofern brauchen Sie eine gewisse Zeit – zumal es den Lehrberuf ja nicht gibt – brauchen Sie eine gewisse Zeit um mit dem was da auf Sie zukommt, um das zu verarbeiten. Das ist also in der ersten Phase sicher das Wichtigste gewesen und ansonsten ist es schon so, dass in diesem Amt ein enormer Druck auf Sie ausgeübt wird. Denn letztlich landet jedes wirklich wichtige Problem bei Ihnen selbst. Letztlich. Das heißt jetzt ja nicht, dass nicht tüchtige Ministerinnen und Minister einem auch Probleme und Lösungen von Problemen abnähmen. Das ist so, das muss auch so sein. Aber wenn es ganz erst wird, haben Sie es vor der eigenen Tür.

Gaus:
Außenpolitik kann manchmal eine Erholung sein – oder?

Schröder:
Selten, aber kann. Und insbesondere dann, wenn Sie spüren, dass Deutschland gut aufgenommen wird und Sie als Vertreter Deutschlands auch.

Gaus:
Mir hat mal jemand im Staatsdienst - auf der Staatssekretärsebene beamteter, kein parlamentarischer – gesagt: Die Bezahlung ist schlecht, aber der Transport ist erstklassig. Das heißt, es ist doch auch natürlich ganz schön, wenn man aus den Querelen, den Intrigen, auch wenn es gar keine gibt, aus dem ganzen Kuddelmuddel von Berlin und der SPD und der Opposition und der Vermittlungsausschuss... Und dann steigt man in so eine Maschine und dann geht’s dann nach New York und – Außenpolitik ist eine Erholung, oder?

Schröder:
Außenpolitik ist – ich würde nicht sagen Erholung. Sie müssen auch da immer präsent sein, sonst funktioniert das nicht. Also es ist schon auch Anstrengung. Aber es ist ganz schön – das gebe ich zu, wenn Sie spüren, dass Deutschland im Ausland was gilt und Sie als Vertreter Deutschlands auch. Das ist gelegentlich unterschiedlich, aber generell stimmt das. Manchmal habe ich sogar den Eindruck, dass Erwartungen an Deutschland gestellt werden, gerade im Ausland und damit in der Außenpolitik, die nur sehr, sehr schwer erfüllbar sind.

Gaus:
Wenn wir von Medien gesprochen haben und vom Fernsehen, dass so direkt ist – was ist dran an meiner Unterstellung: Es ist nicht verwunderlich, dass ein Außenminister, in dem Falle also jetzt Joschka Fischer, der beliebteste Politiker ist. Denn Außenminister treten eigentlich ins Bewusstsein der Wählermehrheit am Fernsehen dann auf, wenn sie an festlich gedeckten Tische - dann isst er auch noch mit Messer und Gabel, der kann das – was manche vielleicht verwirrt hat, weil sie es nicht gedacht haben. Und der wird beim Landen und beim Starten... Und dann sagt ein Außenminister, auch ein außenpolitisch tätiger Kanzler sagt, mit bedeutungsschwerer Stimme: Ja, ja. Wir müssen uns unserer Verantwortung stellen und wir werden ihr auch nicht aus dem Wege gehen. Was alles gar nichts ist und womit er innenpolitisch eine Lachnummer wäre. Ist es ganz falsch, wenn ich sage: Es liegt am Amt, wie beliebt man ist?

Schröder:
Das spielt eine Rolle, aber es liegt auch an der Person. Es gibt ja auch dort Unterschiede. Und an der Person, die Sie jetzt im Auge haben, nämlich meinem Außenminister, ist ja nicht nur, dass er Deutschland brillant vertritt, sondern dass er auch über erhebliche intellektuelle Kapazitäten verfügt. Aber Sie haben schon Recht, wenn Sie nicht in der Gemengelage der Innenpolitik sind, haben Sie es natürlich leichter, das ist gar keine Frage. Das wollte ich übrigens ausdrücken als ich sagte: Irgendwann – und das bringt dieses Amt mit sich – wird jedenfalls jede gravierende Entscheidung positiv oder negativ Ihnen selbst in diesem Amt zugeschrieben. Und das ist schon das eigentlich Bezeichnende an diesem Amt.

Gaus:
Was ist Ihr stärkstes Talent als Wahlkämpfer?

Schröder:
Ui, das kann ich nicht beurteilen, weil ich mich ja selber nicht sehe, wenn ich Wahlkampf mache. Aber ich glaube, dass es gespürt wird, dass mich Lebensschicksale wirklich interessieren. Ich kann nicht mehr einzelne Lebensschicksale oder selten zur Kenntnis nehmen, aber...

Gaus:
Sie versuchen es...

Schröder:
Ja, ich versuche es.

Gaus:
Das ist ein Talent. Das ist ein Teil Ihres Talents.

Schröder:
Ich versuche es und ich versuche es ehrlich, das hat vielleicht weniger mit Talent, eher mehr mit dem von Ihnen zitierten Herkommen und dem familiären Umfeld zu tun. Da war man ein bisschen aufeinander angewiesen, vielleicht mehr als in anderen Lebenszusammenhängen.

Gaus:
Als Sie vor der Wahl ’98 - dann verstärkt sogar nach der Wahl zum Bundeskanzler, der ersten – der ‚Genosse der Bosse’ genannt wurden, hat Sie das gekränkt?

Schröder:
Nein, das hat mich nicht gekränkt. Denn eine vernünftige Beziehung zu denen zu haben, die in der Wirtschaft tätig sind, war – das ist mir ja auch nachgesagt worden in der Zeit als Ministerpräsident in Niedersachsen – war in dem damaligen Amt notwendig...

Gaus:
Als Sie der ‚Patronatsherr’ von Volkswagen waren.

Schröder:
Ja, ist es jetzt auch. Und das kränkt überhaupt nicht, ganz im Gegenteil. Ich habe gerade in den Bereichen sehr viele ordentliche Leute getroffen, die ihren Job ernst nehmen, die ihre Fürsorgepflicht für die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter ernst nehmen. Ich habe gelegentlich auch andere getroffen, wie in der Politik auch.

Gaus:
‚Genosse der Bosse’ bezeichnet nach meinem Verständnis etwas anderes, als die wie ich meine selbstverständliche Pflichterfüllung eines Bundeskanzlers, mit der Wirtschaft möglichst gute Beziehungen zu unterhalten.

Schröder:
Ja. Sie mögen Recht haben, Herr Gaus. Mich hat Wirtschaft auch immer selbst interessiert. Insofern will ich Ihrer Frage gar nicht ausweichen. Das ist so, dass es auch eine Nähe aus Interesse gibt.

Gaus:
Kann es – war es so, dass außer, dass es Sie nicht gekränkt hat, dass auch ein bisschen das sehr verständliche und sehr erlaubte Gefühl – Sie haben eben in diesem Zusammenhang auf Ihre Herkunft sich berufen - eine Rolle gespielt hat: Ich habe es zu etwas gebracht. Es gibt einen, wie ich finde mich sehr anrührenden Satz in der alten SPD-Klientel: Die Kinder sollen es mal weiter bringen.

Schröder:
Ja. Ich kann das nicht ausschließen. Das kann so sein. Ich habe darüber nie nachgedacht, aber ich denke - aber wenn Sie denn schon eine klare Antwort haben wollen, bitte.

Gaus:
Wenn es geht.

Schröder:
Ja, bitte, bitte. Natürlich bin ich auch stolz, auf das, was ich in meinem Lebensweg geleistet habe. Denn ich habe es alles selber gemacht, mir hat keiner was geschenkt. Und es kann sein, ich habe darüber wirklich nicht nachgedacht, dass das auch eine Rolle gespielt hat. Ich will das nicht bestreiten.

Gaus:
Rauchen Sie noch?

Schröder:
Ja, sicher.

Gaus:
Es hat nachgelassen, dass der Genosse der Bosse mit dicker Zigarre und mit betont schicker Garderobe fast zum Selbstverlieben in der Öffentlichkeit auftritt. Nach der Wahl 1998 haben Sie sich ganz erkennbar darin gefallen, nun gerade zu demonstrieren: Ich bin oben angekommen, ich bin der Genosse der Bosse, ich bin selbst ein Boss. Die dicken Zigarren, die - keine Werbung in meiner Sendung , also diese Herrengarderobe - fast zum Selbstverlieben – das haben Sie ein bisschen zurückgenommen.

Schröder:
Nein habe ich nicht.

Gaus:
Ja, Herr Schröder, Sie haben es zurückgenommen.

Schröder:
Nein, nein. Es ist ein bisschen selbstverständlich geworden. Sie haben mich ja gefragt, ob ich nach wie vor rauche. Ich habe das übrigens auch vorher getan und kein... Nur damit das klar ist.

Gaus:
Nun Sie haben gerne diese dicken Zigarren...

Schröder:
Vorgeführt? Nein.

Gaus:
Aber in der Öffentlichkeit geraucht - so sehe ich Sie nicht mehr.

Schröder:
Wir sehen uns ja auch relativ selten. Ich bedaure das...

Gaus:
Ja, aber im Fernsehen sehe ich Sie doch...

Schröder:
Ja, im Fernsehen habe ich auch früher nicht geraucht. Also ich glaube, das spielt keine Rolle. Aber ich will Ihnen gern die Geschichte mit diesem berühmten Anzug erzählen. Das war...

Gaus:
Keine Werbung.

Schröder:
Nein, überhaupt nicht. Ich sage ja kein Wort dazu. Das war ein Fehler, aber diesen Fehler habe ich gemacht, aus Sympathie für einen Fotografen, den ich hochschätze. Und deswegen stehe ich auch dazu.

Gaus:
War ein Fehler?

Schröder:
Ja gut.

Gaus:
Warum war es ein Fehler?

Schröder:
Es war wahrscheinlich, weil der ein oder andere gedacht hat: Na ja, der hat nix anderes zu tun, als sich so darzustellen. Das war ja gar nicht so. Und es ist ja auch weidlich genutzt worden. Und gegen mich genutzt worden, obwohl es eigentliche eine – wie hieß das damals – Petitesse war. Aber gut, das war so. Aber ich habe mein eigenes Verhalten nicht verändert.

Gaus:
Vor der Wahl 1998 sind Sie schon einmal in dieser Fernsehreihe „Zur Person“ gewesen, in der gefragt wird und in der Fragen provoziert werden sollen, die alles zusammen – Fragen und Antworten – ein Porträt ergeben. Damals habe ich Sie gefragt, ob Sie sich ganz wohl gefühlt haben und ob Sie das irgendwo irritiert, dass Sie - in Frack und Claque wie man sagt – mit Piëch, Vorstandsvorsitzender von VW, damals zum Wiener Opernball. Sie haben mir kräftig rausgegeben und gesagt: Wieso sollte ich eigentlich nicht und ich lasse mir nicht vorschreiben, was... Wieso - Sozialdemokrat zu sein und Frack zu tragen schließt sich doch nicht aus. Was banal und was ganz wahr ist. Nur - die Frage war: War es – bei damals auch schon drei Millionen Arbeitslosen der richtige Stil? Würden Sie es heute noch machen? Warum - würden Sie wieder in Frack und Claque zum Wiener Opernball gehen?

Schröder:
Ja, also zunächst würde ich wieder, wenn es notwendig ist, einen Frack anziehen.

Gaus:
Notwendig? Es war ja nicht notwendig, Sie hätten ja nicht hingehen müssen.

Schröder:
Ja es gibt... Nein ich sage ja, ich will es Ihnen ja gern erklären. Es war damals eine Einladung des Vorstandsvorsitzenden von Volkswagen, ich war im Aufsichtsrat des Unternehmens. Wir haben gemeinsam versucht und nicht ganz ohne Erfolg, das Unternehmen wirklich besser zu platzieren, als das Anfang der neunziger Jahre war. Und ich habe diese Einladung akzeptiert, weil er Wert darauf legte. Im Übrigen kann das nicht wieder passieren, weil ich wirklich ein Ballmuffel bin. Ich kann nicht gut tanzen...

Gaus:
Das haben Sie damals auch gesagt.

Schröder:
Ja, es ist auch so geblieben. Ich bin zum Beispiel gefragt worden, warum ich nicht zum Presseball gegangen wäre. Da ist dann auch darüber gemutmaßt worden. Das hat wirklich damit zu tun, dass ich mich auf Bällen mangels tänzerischer Möglichkeiten sehr unwohl fühle.

Gaus:
Sie sind wirklich ein ausgebuffter Politiker.

Schröder:
Nein. (lacht)

Gaus:
Und Sie sind ein Medienpolitiker, Gerhard Schröder.

Schröder:
Ja.

Gaus:
Dies, was Sie hier jetzt aus... Dies ist alles so ungeheuer einnehmend. Die Frage bleibt.

Schröder:
Ja.

Gaus:
Gibt es Dinge, die man aus Stilgründen sich versagt?

Schröder:
Sicher gibt es diese Dinge. Eine – ganz bestimmte Lebensumstände oder Missbrauch des Amtes zu privaten Vorteilen, alles so was gibt es, natürlich. Wird auch eingehalten. Aber dazu gehört nicht der Frack und der Ball, wenn man jemand einen Gefallen tun will. Wie gesagt, es ist damals etwas negativ...

Gaus:
Wenn er Sie jetzt einladen würde – oder wer immer vergleichbar – würden Sie es machen, oder nicht?

Schröder:
Weiß ich nicht. Käme darauf an, wer das macht und wie wichtig ihm das wäre. Ich würde wahrscheinlich darauf hinweisen...

Gaus:
... dass es nicht so opportun ist...

Schröder:
... dass ich mir ein Bein verknackst habe.

Gaus:
Die Politiker, auch Bundeskanzler Schröder, sagen heute oft: es musste erst ganz böse kommen, bis die Menschen begriffen haben, dass es sich ändern muss.

Schröder:
Nicht böse kommen...

Gaus:
Gut, ist meine Formulierung, dass es erst ganz ernst werden muss.

Schröder:
Ja, ich verstehe das und ich will auch ernsthaft darauf antworten. Ich glaube, wir müssen zur Kenntnis nehmen, dass wir eine wohlhabende Gesellschaft sind. Und vielleicht zum ersten Mal in der deutschen Geschichte Gott sei Dank sehr viele Menschen, auch die aus kleineren Verhältnissen kommen, daran teilhaben. Und das will man festhalten und man lässt erst los, wenn man spürt, dass es notwendig ist, loszulassen, um zu erhalten, was man erreicht hat.

Gaus:
Das ist das, was ich verkürzt gesagt ausdrücken wollte. Meine Frage, zu der ich wollte, ist: Wie lange hat Gerhard Schröder gebraucht, bis er es begriffen hat und andere Politiker – nicht speziell Sie – nach ’98 haben Sie noch sehr den Erfolgsmenschen mental und emotional präsentiert, repräsentiert. Wie lange haben die Politiker selber gebraucht?

Schröder:
Das ist kein Widerspruch – Erfolg und Einsicht sind eine Notwendigkeit.

Gaus:
Okay, wie lange haben Sie gebraucht?

Schröder:
Ich kann Ihnen das gar nicht mit Monaten oder Tagen bezeichnen, das ist ein Prozess, gar keine Frage. Und im Übrigen ein Prozess auch, der durch die Veränderungen in der Wirtschaft, in der Gesellschaft aufgezwungen worden ist. Ich kann es Ihnen nicht jetzt auf Jahreszeit und Monat sagen.

Gaus:
Sie können nicht sagen: Ich habe es drei Monate früher gemerkt oder so was?

Schröder:
Nein, nein. Aber eins ist doch klar: Wir haben in den neunziger Jahren im Einigungsboom verständlicherweise ökonomisch das ein oder andere falsch gemacht. Wir haben uns zu lange ausgeruht. Und ich will gern einräumen, dass wir in der ersten Legislaturperiode, obwohl wir begonnen haben – Stichwort Rente – etwas zu machen, das auch nicht mit dem Nachdruck gemacht haben, wie es vielleicht hätte sein müssen.

Gaus:
Interview ‚Zur Person’, nicht ‚Zur Sache’ – dies vorweggeschickt.

Schröder:
Man kann das schwer voneinander trennen.

Gaus:
Ich versuche es.

Schröder:
Ja.

Gaus:
Dies vorweggeschickt vor der kommenden Frage. Skeptiker haben vorhergesagt und dazu gehörte gar nicht viel, dass der Stabilitätspakt für den Euro – Stabilitäts- und Wachstumspakt für den Euro, von nationalen Regierungen gebrochen werden würde, wenn nationale Regierungen – ich gucke jetzt auf niemanden speziell – das Gefühl hätten, dass sie für ihre Politik, auch für ihren Bestand ihn mal vorübergehend brechen müssten. Das haben Skeptiker vorhergesehen und sie haben ja nicht Unrecht gehabt, wie sich zeigt. Wünscht sich Gerhard Schröder manchmal nachts, wenn er schlaflos liegt, er wäre ganz gern ein schlauer und kluger Skeptiker statt ein Macher?

Schröder:
Nein. Erstens haben wir den nicht gebrochen. Wir haben ihn anders interpretiert.

Gaus:
Wir führen hier nicht die Bundestagsdebatte.

Schröder:
Ich sage nur. Aber ich wünsche mir nicht, wirklich nicht, jemand anders zu sein, als ich bin.

Gaus:
Sie sind gern Bundeskanzler.

Schröder:
Ich bin das, ich habe das gewollt, ich habe darum gekämpft und ich mache diese Arbeit gern. Sie ist – ich würde nie mehr den Begriff: ‚Sie macht Spaß’ gebrauchen, weil das ist ein falscher Begriff dafür. Aber sie macht immer noch mehr Freude, als dass sie Belastung wäre. Und das muss auch so bleiben, denn sonst kann man es nicht mit den Möglichkeiten, die man hat - und die sind bei jedem Menschen begrenzt - sonst kann man es nicht gut machen. Ich versuche es jedenfalls.

Gaus:
Ich gehöre zu einem Freundeskreis von vier Menschen. Einer von uns ist reich – ein erfolgreicher Unternehmer aus eigener Kraft. Ich habe großen Respekt vor ihm. Zwei sind Rentner. Der vierte, als der ich mich bekenne, empfindet sich als wohlhabend. Die Zukunft beiseite gelassen, Herr Bundeskanzler, die bisherigen Reformbestrebungen treffen cum grano salis - im Großen und Ganzen - treffen im Großen und Ganzen die beiden Rentner. Allein die beiden Rentner, nicht den reichen Freund, nicht mich Wohlhabenden. Was ist an dieser Feststellung falsch?

Schröder:
Daran ist falsch, dass Sie auch getroffen werden. Sie wissen es offenbar nicht, oder Sie spüren es nicht, weil Sie wohlhabend sind und der andere auch nicht, weil er reich ist.

Gaus:
Das ist ein Argument.

Schröder:
Das ist klar. Aber wenn Sie sich das anschauen, das geht ja dabei um Gesundheitspolitik, um Steuerpolitik – wir wollten ja nicht über Sache reden. Dann ist natürlich derjenige, der in einer Lebenssituation ist, wo er weder wohlhabend noch reich ist, auch wenn er wenig abzugeben hat, eher spürbar getroffen, als der andere.

Gaus:
Aber das ist – entschuldigen Sie – das ist jetzt wirklich eine Banalität.

Schröder:
Ja, nun gut.

Gaus:
Der Punkt ist: Das, was Ihnen vorgeworfen wird – oder was einfach auch nur festgestellt wird von mir, hier unter Bezug auf diesen Freundeskreis...

Schröder:
Ja, aber es muss ja nicht richtig sein, wenn Sie es feststellen.

Gaus:
Nein, keineswegs. Wir kommen wieder in die Nähe von ’98 als wir über den Wiener Opernball einen solchen Hickhack hatten. Macht mir Spaß und Ihnen hoffentlich auch. Der Punkt ist...

Schröder:
Freude. Über Spaß reden wir hier nicht.

Gaus:
Der Punkt, Herr Schröder ist: Vielleicht ist es ja unvermeidlich, aber spüren tun es die Schwachen in diesem Kreis. Was ist daran falsch, dass der Reiche oder der Wohlhabende – hoffentlich bleibe ich es – dass die auch irgendwann... Sie merken es weniger.

Schröder:
Ja, genau. Aber das Problem ist doch, wenn ich Belastungen zumute, z.B. über das Steuersystem und das tun wir, weil es ja da das gibt, was man Progression nennt. Ja, ich muss ja antworten...

Gaus:
Ja, Sie sollen...

Schröder:
Das, was man Progression... Weil Sie auf die Uhr gucken. Weil das, was man Progression nennt, dann wird natürlich durch die Progression der Wohlhabende und der Reiche mehr belastet als derjenige, der nicht reich und wohlhabend ist. Nur der andere spürt es eher, das ist doch völlig klar. Nur Sie können in einer Gesellschaft wie unserer, da können Sie diese Prozesse - dass es derjenige, der weniger hat, wenn Sie ihn auch belasten müssen, eher spürt, als der, der es locker hinnehmen kann, das werden Sie nie ganz verhindern können. Das ist eines der Probleme in unseren Gesellschaften, keine Frage.

Gaus:
Definieren Sie bitte Solidarität!

Schröder:
Solidarität ist, dass derjenige, der wohlhabend oder reich ist, im Verhältnis zu dem anderen mehr zu tragen hat. Das versuchen wir durchzusetzen. Aber Sie können sich diesem Ziel immer nur näherungsweise...

Gaus:
Womit versuchen Sie die Solidarität zu festigen, wieder zu festigen? Die Solidarität ist ja nicht einmal eine sozialdemokratische Erfindung, sondern Sie Sozialdemokraten haben sie besonders gepflegt ...

Schröder:
Ja.

Gaus:
... und hatten sie als einen Wesenskern ihres politischen Bewusstseins. Aber die Solidarität bleibt möglicherweise auf der Strecke, wenn eine Gesellschaft wirtschaftspolitisch in der Struktur so ausgerichtet wird, dass sie global mithalten kann. Kann es sein, dass die Solidarität – es ist vieles auf der Strecke geblieben, seit ich weiß nicht wie vielen Jahren, Jahrzehnten. Nicht an allem sind die Bundeskanzler schuld gewesen. Aber kann es sein, dass die Solidarität nicht mehr leistbar ist?

Schröder:
Das kann nicht sein und das darf nicht sein. Es wird immer sehr unterschiedlich sein, was es in einer bestimmten historischen Phase bedeutet. Aber solidarisch zu sein heute, heißt doch, unter den obwaltenden Bedingungen möglichst viel an gerechter Verteilung hinzubekommen. Dazu muss aber erst mal produziert worden sein. Das ist das Erste. Und das Zweite: Solidarität heißt heute natürlich vor allen Dingen: Teilhabe an Lebenschancen. Und ich weiß da wirklich, wovon ich rede. Teilhabe an Lebenschancen läuft über eine solidarisch angebotene Bildung und das heißt, dass sie unabhängig vom Herkommen aus dem Elternhaus die Chance haben müssen, zum Beispiel zu studieren und Rechtsanwalt zu werden.

Gaus:
Ich komme noch einmal auf den Freundeskreis. Einer von den beiden Rentnern sagt heute, wenn wir über die Agenda 2010 sprechen, was wir oft tun, meistens sonnabends vormittags, einer von den beiden Rentnern sagt, er würde unter den heutigen Umständen nicht mehr riskieren, seinen Sohn studieren zu lassen, weil er angesichts künftig ungewisser sozialer Sicherheit und gewiss steigender Kosten, es sich nicht mehr zutrauen würde, trotz Bafög und allem.

Schröder:
Aber ich finde, dass Sie...

Gaus:
... den kenn ich, den Mann. Ich kenne den Sohn, der studiert.

Schröder:
Ja gut. Aber dem müssen Sie unbedingt widersprechen Herr Gaus. Weil - wenn diese Mentalität wirklich Platz greift, dass man gleichsam am Beginn des Studiums schon darüber nachdenkt, wie denn die Rentensituation sein wird...

Gaus:
Das ist jetzt sehr ungerecht gegenüber diesem Mann.

Schröder:
Nein, nein. Das ist überhaupt nicht ungerecht. Das muss ich jetzt sagen. Wird dann die Situation sein. Und dann haben wir wirklich ein Problem mit dem Wagen in dieser Gesellschaft. Vielleicht haben wir sogar ein solches Problem.

Gaus:
Aber dies ist etwas anderes.

Schröder:
Nee.

Gaus:
Doch. Es ist ja nicht so, dass der junge Mann der da studiert, wenn er anfängt zu studieren an seine Rente denkt und wie sicher sie ist. Sondern dieser Mann, der Vater. Der Vater sagt! Es hat mich damals sehr berührt und es hat mir sehr gefallen, dass er...

Schröder:
Ich nehme Ihnen das auch ab.

Gaus:
... dass er vor Jahren, als der Sohn studieren wollte und der erste Studierte in dieser Familie war, dass der Vater und die Mutter sagten: ja. Das heißt, dass sie diese Scheu vor der anderen Bildung, was ja auch eine gewisse Fremdheit schaffen kann zwischen dem, der studiert hat und der Familie, die das nicht kannte. Dass sie diese Scheu überwunden haben. Und wenn ich sagen müsste, was nach meiner Vorstellung zu den wichtigsten sozialdemokratischen Errungenschaften nach ’45 gehört, dann, dass sie die Bildungsscheu gesenkt haben.

Schröder:
Ja.

Gaus:
Dieser Mann sagt heute, wenn wir über die Agenda 2010 reden – er ist übrigens Gewerkschaftsmitglied – dieser Mann sagt heute: Nein, ich würde meinen Jungen nicht mehr studieren lassen.

Schröder:
Ja aber das ist doch ganz falsch...

Gaus:
Und das hat nichts zu tun, mit: an die Rente denken - was Sie eben unterstellt haben...

Schröder:
Aber es hat auch gar nichts zu tun mit der Agenda 2010. Überhaupt nichts. Es könnte etwas zu tun haben mit einem Mangel an Bereitschaft, Risiken einzugehen – sowohl bei dem einen, wie auch bei dem Sohn. Ich würde doch immer sagen: Wenn du die Anlagen dazu hast, dann versuch das, mach was aus deinem Leben. Und etwas aus dem Leben zu machen – übrigens gilt das ja nicht nur in wirtschaftlicher Hinsicht – geht nun einmal vor allen Dingen über Bildung. Bildung ist ja nicht etwas alleine, was an einen besseren Job...

Gaus:
Er hat ihn ja studieren lassen.

Schröder:
Ja, sehen Sie.

Gaus:
Wir reden darüber ja nicht...

Schröder:
Er ist ein vernünftiger Mann geworden. Und genauso müssen Sie doch in Ihrem...

Gaus:
Und jetzt ist er unvernünftig geworden, weil er sagt: Ich traue mich nicht mehr?

Schröder:
Natürlich, er kann sich doch trauen. Wenn es ein Land gibt in Europa, das zum Beispiel dadurch, dass die Bildungsgänge relativ offen sind, dafür sorgt, dass er sich trauen kann, dann ist das immer noch Deutschland, dafür wollen wir auch weiterhin sorgen. Ich muss sagen – vielleicht sieht er uns ja zu – das kann ich nicht verstehen, auch wenn er in der Gewerkschaft ist. Ich meine, ich habe eine eigene Erfahrung. Ich habe doch keinen Moment darüber nachgedacht, als ich beschloss nach der...

Gaus:
Aber...

Schröder:
Ich muss das jetzt mal sagen dürfen.

Gaus:
Bitte.

Schröder:
Nach der Volksschule, nach der Lehre als Einzelhandelskaufmann, nach anderthalb Jahren als Hilfsarbeiter auf dem Bau, erst mal mittlere Reife in der Abendschule zu machen, dann auf dem zweiten Bildungsweg Abitur und dann mich um Studium zu kümmern, habe ich keinen Moment darüber nachgedacht, wie mein Beruf sich wohl entwickeln wird.
Also ich habe immer so viel Vertrauen in mich selber gehabt, zu sagen: du packst das schon irgendwie.

Gaus:
Herr Schröder, Sie haben es ja auch gepackt.

Schröder:
Ja, und der junge Mann wird es auch packen.

Gaus:
Er hat ja zu Ende studiert.

Schröder:
Ja, ist doch gut. Dann sind wir einig.

Gaus:
Danach habe ich gar nicht gefragt. Dieser Mann, der Vater, der den Mut hatte, seinen Sohn, das einzige Kind, studieren zu lassen,

Schröder:
Ja.

Gaus:
Der sagt...

Schröder:
Dazu gehört übrigens kein Mut in unserer Gesellschaft.

Gaus:
Auch gut. Ich will ihm lieber den Mut bescheinigen, denn manches, was Bundeskanzler und Interviewer für ganz landläufig ansehen und sagen, dazu gehört gar kein Mut, gehört, das müssten Sie auch noch wissen, gehört bei anderen Leuten...

Schröder:
Ich komme aus solchen Verhältnissen.

Gaus:
Eben, eben. Da gehört bei anderen Leuten ein gewisser Mut dazu. Sie bewegen sich in eine fremde Welt hinein und das hat dieser Mann getan und das hat mir sehr imponiert. Jetzt sagen Sie mir bitte, wann haben Sie – es ist sehr bedauerlich, dass nicht morgen Bundestagswahl ist nach diesem Selbstzeugnis Gerhard Schröders – wann haben Sie dieses geleistet, in welchen Jahren?

Schröder:
Also, ich...

Gaus:
Wann haben Sie Ihr Jurastudium abgeschlossen?

Schröder:
Ich bin mit 14 von der Schule...

Gaus:
Ja, wann haben Sie Ihr Jurastudium abgeschlossen?

Schröder:
Jurastudium abgeschlossen? Moment, da muss ich jetzt selber - ’66 - ’71.

Gaus:
So ist das. Genau. Zu der Zeit lernten wir uns kennen.

Schröder:
Ja.

Gaus:
Jetzt haben wir das Jahr 2003. Das ist der Unterschied. Sagen Sie bitte, während Sie argumentieren wie im Jahre 1970 – und das könnte sein, dass das etwas ist, was die Leute, die Wähler ein bisschen irritiert, weil manche Argumentationen aus dem Jahre ’70 zu stammen scheinen. Sagen Sie mir bitte, worin wird sich die deutsche Arbeitswelt nach den bevorstehenden einschneidenden Veränderungen des deutschen Sozialstaats im Prinzip noch von der amerikanischen unterscheiden?

Schröder:
Oh sehr stark. Wir werden immer - und darauf werden wir auch achten - eine sehr viel sichere Balance zwischen Flexibilität auf der einen Seite und Sicherheitsbedürfnissen, die wir respektieren auf der anderen Seite haben. Und das wird sich auch in Deutschland nach wie vor im Arbeitsrecht abspielen. Das wird sich in den sozialen Sicherungssystemen abspielen. Aber ich würde gern einen Satz noch sagen zu dem Unterschied ’70 und jetzt. Eins ist klar: Als wir damals mit dem Studium zu Ende waren, war die Chance beinahe selbstverständlich, in einen entsprechenden Beruf zu kommen, größer als heute. Das gebe ich gerne zu. Also, die akademische Ausbildung war größer, war mehr als heute gleichsam die Eintrittskarte zu verbesserten Berufschancen. Das hat sich geändert. Das ist für alle schwieriger geworden, sowohl für die akademisch ausgebildeten als für die nicht akademisch ausgebildeten. Aber das heißt doch nur, dass man an sich selber glauben muss und dass man sich wirklich bemühen muss, für sich selbst in der Gesellschaft sich den Platz zu erkämpfen, auf den man glaubt Anspruch zu haben. Und ich weigere mich wirklich, eine Mentalität zur Kenntnis zu nehmen, oder gar auch noch gut zu finden, die sozusagen diese Bereitschaft, sich selber zu bewähren, auch in der Gesellschaft nicht mehr in dem Maße hat, wie das vielleicht früher der Fall ist. Ich glaube auch nicht wirklich, dass das der Fall ist. Wir reden auch nur zu viel darüber.

Gaus:
Jeder ist seines Glückes Schmied.

Schröder:
Ganz so einfach ist es nicht.

Gaus:
Eben.

Schröder:
Aber jeder kann einen Beitrag dazu leisten. Und Solidarität in einer Gesellschaft heißt ja, wenn einer hinfällt, dann bleibt er nicht liegen. Das darf er nicht. Aber er muss, wenn er wieder auf die Beine gekommen ist, auch schon selber laufen wollen.

Gaus:
Wächst ein Selbstverständnis der Gesellschaft, wonach einer, der es versäumt, seines Glückes Schmied zu sein, aus dem sicheren Anspruch, Anspruch auf Hilfe, in die freiwillige Barmherzigkeit der Bessergestellten hinabfällt? Ich sage nicht, dass das ein Ziel irgendeiner Partei ist, sondern ich frage nach dem Selbstverständnis der Gesellschaft, das ja auch bestimmt wird durch zum Beispiel: Jeder ist seines Glückes Schmied, zum Beispiel: Gewerkschaften sind Relikte, Gewerkschaften sind Fossile. Ich weiß, dass Sie jetzt sagen, das sagen Sie nicht.

Schröder:
Das sage ich nicht nur - das denke ich auch nicht.

Gaus:
Ich will nur sagen, das Selbstverständnis der Gesellschaft geht in Richtung einer gewissen Amerikanisierung. Ich stelle dies fest, ich werte es nicht.

Schröder:
Nein, Sie stellen es fest und ich halte es nicht für richtig, dass Sie es feststellen. Ich muss dem wenigstens widersprechen dürfen.

Gaus:
Bitte, natürlich. Aber Herr Bundeskanzler, Sie können hier wirklich ausreden. Bitte.

Schröder:
Ja, wir wollen nachher mal die Gesprächsanteile messen, die wir miteinander erhalten.

Gaus:
Das haben die Politiker gerne bei öffentlich-rechtlichen Anstalten.

Schröder:
Ja, gar keine Frage.

Gaus:
Das ist richtig.

Schröder:
Aber in so einer Sendung muss das ja erlaubt sein. Nein, ich wollte sagen, ich glaube nicht, dass in Deutschland, auch in Westeuropa nicht, Sie einfach die Verhältnisse aus Amerika hierher übertragen könnten, selbst wenn Sie es wollten, stieße sich das an einer völlig anderen gesellschaftlichen, politischen Kultur. Und das ist gut so, dass das so ist. Und deswegen habe ich keine Angst vor einer Amerikanisierung im totalen Sinne. Im Übrigen, die Dynamik der amerikanischen Gesellschaft, die Bereitschaft, was Neues anzufangen, Risiken einzugehen – einen Teil davon könnten wir ganz gut brauchen. Dann wäre es auch besser möglich, den anderen Teil, auf den die gerne verzichten, den wir in einem umfassenden Sinne mit sozialer Sicherheit bezeichnen, auch in Zukunft finanzierbar zu halten. Also ich bewundere schon diese unglaubliche Dynamik in der amerikanischen Gesellschaft, die Risikobereitschaft. Die - gepaart mit dem, was wir unter Sicherheit verstehen - das wäre es eigentlich.

Gaus:
Das ist das Soziale an der Marktwirtschaft, dann.

Schröder:
Das ist das Soziale an der Marktwirtschaft.

Gaus:
Geht das noch?

Schröder:
Ja, es geht noch. Aber es wird immer einen Kampf geben müssen um die Balnace zwischen beidem, um die Balance zwischen der notwendigen Produktivität, die mit dieser Risikobereitschaft über die ich geredet habe und der Dynamik zusammenhängt einerseits - und dem, was an Sicherheit möglich ist andererseits. Und diesen Kampf vernünftig zu entscheiden, das ist Inhalt dessen, was wir versuchen.

Gaus:
Definieren Sie bitte Gerechtigkeit.

Schröder:
Ich sage noch einmal, Gerechtigkeit in der Gesellschaft heißt Verteilung, gerechte Verteilung, die nie Gleichmacherei sein wird oder Gleichheit aller Individuen. Das ist ein Traum, den ich auch mal hatte. Aber heißt vor allen Dingen: Gerechter Zugang zu den Bildungschancen in einer Gesellschaft. Das ist das A und O für Leute - jedenfalls wie mich.

Gaus:
Die Sozialdemokraten galten einst als vaterlandslose Gesellen, weil sie die internationale Solidarität der Schwachen über das Nationale stellten. Macht die heutige Globalisierung manche Unternehmer zu vaterlandslosen Gesellen?

Schröder:
Also sagen wir mal, die betriebswirtschaftlichen Zwänge verführen dazu, Produktion auszulagern...

Gaus:
Billiglohnländer aufzusuchen...

Schröder:
In Billiglohnländer... Es gibt solche Zwänge.

Gaus:
Wenn man sie halten will, muss man selber ein Billiglohnland werden.

Schröder:
Nein, nein. Es gibt diese Zwänge, aber man muss schon genauer hingucken. Die Auslagerung einfacher Produktion bringt auch immer mit sich, dass das, was komplizierter ist, im Land gehalten werden kann. Und die Ausweitung von Produktion schafft auch Arbeit im eigenen Land. Also ganz so schwierig ist es nicht. Es gibt sicher in den Unternehmen auch Leute – wir haben gerade ein Interview gelesen, ich habe mich darüber empört über Menschen, die hier Subventionen kassieren und sich dann in die Schweiz davon machen, weil sie da die Erbschaftssteuer sparen können. Das halte ich - ich würde nicht den Begriff ‚vaterlandslose Gesellen’ – aber das ist nun nicht gerade sehr verantwortlich und man könnte es auch härter bezeichnen. Aber ich glaube diejenigen, die betriebswirtschaftlichen Zwängen folgen und folgen müssen, denen kann man nicht einen Mangel an Patriotismus vorwerfen. Aber ich denke, dass es richtig ist, in unserer Gesellschaft im Sinne ihrer Frage sehr genau zu gucken: Was sind denn die Zwänge und wo werden sie nur behauptet. Und insofern der Hinweis darauf: dass man in einem Land, in dem man relative Sicherheit, innere Sicherheit, gute Schulen, gute Infrastruktur zur Kenntnis nimmt und nutzt, in diesem Land muss man auch bereit sein, sich über das betriebswirtschaftlich Einfache hinaus zu engagieren.

Gaus:
Ist das Machen von Politik gelegentlich daran gebunden – nicht gegen besseres Wissen, aber gegen eigene Zweifel Entscheidungen zu treffen, weil sonst die Maschine nicht läuft?

Schröder:
Das kann es geben. Das kann es geben gegen eigene Zweifel. Und Sie müssen immer abwägen, wann Sie eine Entscheidung, die in einer Fraktion, in einem Parteivorstand getroffen wird, noch tolerieren können, auch wenn Sie sagen: Na, das ist vielleicht gerade noch vertretbar und nicht unbedingt meine Meinung. Und wann Sie sagen müssen: Bis hierhin und nicht weiter.

Gaus:
Sie haben gesagt: Ich will nichts anderes sein als ich bin: Bundeskanzler - und jetzt gesagt: Macher.

Schröder:
Darf ich sagen, das hat weniger mit dem Amt zu tun, sondern eher mit der Person.

Gaus:
Ja, ich wollte das jetzt zusammenfassen...

Schröder:
Ich bin auch ich ohne mein Amt .

Gaus:
Ja. Führt dann zu meiner nächsten zu stellenden letzten Frage. Dies ist die vorletzte. Die Skeptiker sagen: Es gibt eine bösartige Entwicklung. Manche Skeptiker sagen: Die gar nicht aufzuhalten ist, die über viele Jahrzehnte sich erstrecken wird und dann wird es – ohne dass man jetzt sagen kann wie es anders wird – eine Änderung geben, eine grundlegende Änderung. Und in dieser Situation sagen solche Schlaumeier, in dieser Situation ist die Verlangsamung der Entwicklung dahin das humanste, was man tun kann. Das darf ein Macher nicht sich erlauben zu denken.

Schröder:
Nein. Er darf sich erlauben zu denken, aber wenn er beginnt daran zu glauben, macht er einen Fehler. Ich glaube im Übrigen auch nicht daran. Ich nehme so was zur Kenntnis. Ich glaube an Vernunft von Menschen und an die Fähigkeit von Menschen, sich vernünftig zu verhalten und mit Herausforderungen fertig zu werden. Ich will einen Beitrag dazu leisten und ob er je ganz erfolgreich sein wird, das werden weder Sie noch ich vorausbestimmen können. Aber wenn Sie meine Seelenlage schon ausforschen wollen, dann würde ich mich auf solche Skeptizismen nicht einlassen wollen.

Gaus:
Erlauben Sie mir eine letzte Frage.

Schröder:
Bitte.

Gaus:
Unter welchen Umständen würden Sie den Bettel hinschmeißen, Herr Bundeskanzler?

Schröder:
Ich glaube, ich kann den Bettel nicht hinschmeißen, das darf ich nicht. Ich bin dazu gewählt worden, das zu machen, was jetzt tue. Und ‚Bettel hinschmeißen’ war nie eine Charaktereigenschaft, die ich für mich für möglich gehalten hätte.