Sendung vom 14.03.2001 - Simmel, Johannes Mario
Günter Gaus im Gespräch mit Johannes Mario Simmel
Ja, ich hoffe auf den Sozialismus
Johannes Mario Simmel geboren 1924 in Wien. Er arbeitete zunächst als Journalist, dann begann er Romane zu schreiben, einen Bestseller nach dem anderen. In 35 Ländern sind sie erschienen. Die Gesamtauflage liegt bei über 70 Millionen. Simmel beschäftigt sich mit Gegenwartsproblemen, Umweltkatastrophen, Genmanipulationen, Neonazitum – unbequeme Themen, und doch ein Bestseller nach dem anderen. Johannes Mario Simmel war dreimal verheiratet. Er sieht sich politisch links und ist besorgt um Deutschlands Zukunft.
Gaus: Man sagt, jeder Hund hat einen Tag, an dem es das Leben gut mit ihm meint. Hatten Sie Ihren Tag, Herr Simmel, und hatten Sie nicht sogar viele davon?
Simmel: Ich hatte viele davon.
Gaus: Waren Sie ein glücklicher Mensch – alles in allem?
Simmel: Ich war manchmal ein sehr glücklicher Mensch.
Gaus: Können Sie das Glück beschreiben? Wann waren Sie glücklich?
Simmel: Ich war glücklich, als ich meine sehr geliebte Frau Lulu traf und solange sie lebte. Und ich war glücklich unmittelbar nach dem Krieg. Da war ich Dolmetscher bei den Amerikanern und hatte russische, französische und englische Freunde. Sie waren alle in meinem Alter und der Hölle entronnen. Wir hatten alle die – leider irrige – Vorstellung, daß diese Pest vorbei ist. Und wir wollten alle eine bessere, gerechtere und schönere Welt haben. Das in dem Wien, das zerstört war.
Gaus: 1945/46.
Simmel: 1945. Das war, wenn ich zurück denke, die glücklichste Zeit meines Lebens.
Gaus: Man kann vieles aus Ihrer Biographie mit Titeln Ihrer Bestseller belegen. Ich benutze jetzt mal den Titel „Selbst wenn ich lache, muß ich weinen“ und knüpfe an Ihre Beschreibung Ihres Glücks an, an jene Tage, die jeder Hund hat und wo das Leben es gut mit ihm meint, weil er den Hasen fängt. Hat das Unglücklichsein in Ihrem Leben einen Generalnenner gehabt? Können Sie sagen: „Unglücklich war ich, weil ...“? Waren es Einzelheiten, oder waren es Generaleinsichten in Unveränderliches, Enttäuschungen von Menschen? Was hat Ihr Unglück bestimmt?
Simmel: Ich mußte einsehen, daß die Hoffnungen, die ich und meine Generation hatten, sich nicht erfüllt haben. Mehr noch: daß alles, was ich erhofft habe, zerstört worden und kaputt gegangen ist. Allerdings muß ich dazu anfügen: Es sagt nichts gegen die Hoffnungen. Die Hoffnungen sind nach wie vor da.
Gaus: Sagen Sie noch einmal, was die Hoffungen waren, und was die Hoffnungen zerstört hat?
Simmel: Die Hoffnungen waren eine gerechte Welt, eine soziale Welt, in der alle Menschen zu essen haben, in der alle Menschen frei sind, eine Art von wirklicher Gerechtigkeit, des Anstandes, daß einer den anderen respektiert. Daß nicht 40.000 Kinder am Tag sterben müssen, weil offenbar das Beste, was wir imstande sind zu entwickeln, ein globaler Kapitalismus ist. Alles zusammen hat mein Unglück ausgemacht. Es ist sehr früh entstanden. Ich war unendlich glücklich mit meinen Freunden, mit den Engländern, Franzosen und den Russen und den Amerikanern. Aber 1948 war die Blockade Berlins. Dann kam die Spaltung, der Krieg in Korea. Damit war der Traum zu Ende. Der Kalte Krieg und die Verteufelung von allem Linken hat den Traum beendet. Die anderen haben alles rechts verteufelt. Das hat sich, fürchte ich, bis zum heutigen Tag nicht verändert. Es hat sich hier eher verstärkt.
Gaus: Und hier heißt im wiedervereinigten Deutschland?
Simmel: Im wiedervereinigten Deutschland. Die Wiedervereinigung ist auch einer der Punkte. Ich habe gesagt: Ich möchte nicht wiedervereinigt werden. Eine Konföderation wäre das Richtige gewesen. Die Mauer weg und versuchen, einander näher zu kommen. Immerhin hat ja der eine Teil vierzig Jahre anders gelebt als der andere. Dem Westen hat der Marshall-Plan geholfen, die Russen waren so arm durch unsere Schuld, daß sie niemandem haben helfen können. Ich habe gedacht: In einer Konföderation helfen wir euch, soweit wir können, und wir versuchen, einander zu verstehen. So kommen wir einander näher.
Gaus: Wenn man Ihnen vorhalten würde, nach dem, was Sie jetzt gesagt haben, 'Sie sind naiv', würden Sie dann sagen: 'Ja, und ich bin es gern gewesen?' Oder würden Sie dann sagen: 'Nein, ich bin nicht naiv, ich habe Utopien?'
Simmel: Ich bin nicht naiv. Ich hatte die Utopie, die ich Ihnen sagte. Und die habe ich noch immer.
Gaus: Darf jemand wie Sie oder ich, die wir in angenehmen Lebensumständen sind, überhaupt von Unglücklichsein reden? Oder muß er den Mut haben und sagen: Ja, ich darf mich nicht mundtot machen lassen, nur weil andere noch unglücklicher sind?
Simmel: Das letztere. Es ist niemandem damit gedient, wenn wir beide sagen: Wir leben unter so guten Umständen, daß wir kein Recht haben, darüber zu reden. Im Gegenteil – und das hat nichts damit zu tun, daß ich mich hier über Unrecht oder Unglück aufrege – egal, wie ich lebe: Ich würde auf alle Fälle weiter den Mund aufmachen. Auch wenn es noch so vergebens wäre.
Gaus: Wieviel materielle Unabhängigkeit ist nötig, damit man die Courage hat, den Mund aufzumachen? Können Sie einsehen, daß Abhängige die Courage nicht haben?
Simmel: Natürlich. Ich bin in einer privilegierten Situation, daß ich sagen kann: Was wollt ihr mir noch antun? Natürlich hilft es, wenn man keine finanzielle Not leidet, daß man nicht abhängig ist und einfach gezwungen werden kann zu tun, was einem gesagt wird. Was ich mir sehr gut vorstellen kann.
Gaus: Wie kommen Sie mit dem Altern zurecht? Wie empfinden Sie das Altern?
Simmel: Ich altere gar nicht. Vorausgesetzt, daß mich Parkinson nicht erwischt, empfinde ich das Alter so angenehm, daß ich gerne noch eine lange Weile leben möchte. Weil mich die Menschen und das Leben so interessieren und ich wissen will, wie es weitergeht.
Gaus: Ist nach der Überzeugung von Johannes Mario Simmel mit dem Tod alles aus, oder gibt es irgendetwas danach?
Simmel: Nach den landläufigen christlichen und anderen Überlegungen ist es aus. Und wenn es nicht aus sein sollte, dann sterbe ich nicht aus Protest. Denn einmal genügt. Ich habe mir das zurechtgelegt, weil meine Frau vor langen Jahren gestorben ist ...
Gaus: Lulu?
Simmel: Lulu. Es geht um Energie. Energie darf nicht verloren gehen in einem geschlossenen System, aber es darf auch nichts dazukommen. Sie können aus Wasserkraft Strom machen. Oder wenn Sie Atome zertrümmern. Wenn man aber bedenkt, was die geistige Energie von einem Michelangelo, von einem Hitler und einem Einstein geschaffen hat, dann muß es auch geistige Energie geben. Und diese geistige Energie kann ja, wie alle anderen Energien, nicht verloren gehen. Also muß Lulu ja noch um mich sein.
Gaus: Das ist der Glaube, die Überzeugung, die Sie nach dem Tode von Ihrer Frau entwickelt haben, weil Sie sich nicht damit hätten abfinden können, daß sie ganz verloren ist.
Simmel: Richtig. Vorher hätte ich gesagt: Es ist Schluß.
Gaus: Zur Person Johannes Mario Simmel: Geboren am 7. April 1924 in Wien. Der Vater ist zunächst Chemiker, wird dann aber der Koordinator der Holzindustrie in England, Oberschlesien und Österreich, kommt von daher auch öfter nach England, wohin er, nachdem die Deutschen 1938 in Österreich einmarschieren, auch entkommen kann, und er stirbt – ein Jude – in England. Sie kommen also aus einem bürgerlich-intellektuellen Elternhaus, das politisch sozialdemokratisch gesinnt war. Erzählen Sie von Ihren Eltern, erzählen Sie von Ihrer Mutter. Wie sind Sie geprägt worden?
Simmel: Ich habe eine antiautoritäre Erziehung genossen. Ich bin zum Beispiel nie geschlagen worden. Das Schlimmste war Zimmerarrest bei schönem Wetter. Das bin ich aber unterlaufen, indem ich versucht habe, möglichst viele Bücher ins Zimmer zu bekommen. Wenn dann meine viel jüngere Schwester kam und sagte: Komm’ essen, habe ich geantwortet: Ich will nicht essen, ich will lesen. Meine Mutter hat versucht, mich so weltläufig wie möglich zu erziehen. Und mein Vater war kosmopolitisch. Beide waren links, rot, soweit es überhaupt nur geht. Mein Vater war also nicht nur Jude, er hat in der deutschen Sozialdemokratie eine große Rolle gespielt. Meine Familie war bis zum Börsenkrach 1929 wohlhabend, danach waren wir unendlich arm. Und als mein Vater dann auch noch weg war, und die Nazis seine ganze Familie umgebracht haben, ging es uns furchtbar dreckig. Bis dahin hatte ich ein wunderbares Leben.
Gaus: Ist es richtig, daß Ihre Mutter aus der evangelischen Kirche in Österreich, die immer eine Minderheitskirche war in dem katholischen Land, ausgetreten ist, weil die evangelische Kirche wie die katholische Kirche im ersten Weltkrieg auf beiden Seiten des Krieges die Waffen gesegnet hat?
Simmel: Das ist richtig. Meine Eltern waren nicht Österreicher, sie kamen aus Hamburg. Der Austritt meiner Mutter aus der Kirche fiel in meine frühe Kindheit. Meine Mutter ist ausgetreten, weil sie gehört hatte – wie Sie sagten –, daß die Priester auf beiden Seiten die Kanonen segneten, damit sie viele böse Feinde töteten. Ich bin aus dem selben Grund später ebenfalls aus der Kirche ausgetreten.
Gaus: Simmel, der Frühreife. Mit siebzehn Jahren verfaßt er die ersten Novellen, was freilich bei so manchem Jüngling zur Pubertät gehört. Bei Simmel ist es eine Begabung, die mit der Pubertät nicht vergeht. Sie haben das vorhin schon berührt, als Sie von dem Glück der ersten Nachkriegszeit gesprochen haben. Ich komme darauf zurück, indem ich jetzt frage: Wie ist Ihnen der junge Simmel, der frühreife, der Nachkriegs-Simmel, wie ist er Ihnen in Erinnerung geblieben?
Simmel: In dieser Zeit, in der alles kaputt war und in der Geld eigentlich nur eine untergeordnete Rolle gespielt hat, war er ein mit schwerer Akne behafteter Mensch. Die hatte ich aus dem Laboratorium, wo ich als kriegsverpflichteter Chemiker mit Aktivkohle gearbeitet habe. Die hat meine Poren zerstört. Was bei mir ein bißchen Angst hervorgerufen hat. Ich habe mich besorgt gefragt, welches Mädchen mich so wolle. Zu meiner Verblüffung muß ich gegenüber anderen über viel Charme verfügt haben. Es war kein Problem.
Gaus: Trotz der Akne war’s kein Problem, was die Frauen anging.
Simmel: Nein. Es war nie ein Problem. Diese erste Zeit war glücklich. Sie war glücklich, bis das losging mit der Spaltung und mit Miriam.
Gaus: Warum sind Sie damals nicht Kommunist geworden?
Simmel: Wenn ich 1917/18 so alt gewesen wäre, wie nach dem Krieg, dann wäre ich ganz bestimmt Kommunist geworden. Viele der größten Geister der Menschheit sind Kommunisten geworden. Zu der Zeit, als der Krieg zu Ende war, habe ich ein Buch gelesen über die Schauprozesse in der Sowjetunion. Und darüber, wie sich Leute, die ich damals wie heute verehre, sich von dieser Sache gelöst haben. Ich muß aber dazu sagen, daß ein Versuch des Sozialismus, so wie er gedacht war, nie realisiert wurde.
Gaus: Was hatten Sie damals für Vorstellungen von Ihrer eigenen Karriere, was wollten Sie werden im Leben?
Simmel: Als ich ein kleiner Junge war, wollte ich Gärtner werden.
Gaus: Und später?
Simmel: Unbedingt Schriftsteller. Das will ich, solange ich lebe, bleiben.
Gaus: Das heißt, Sie gehören nicht zu denen, die sagen: Es ist ein verfluchter Beruf?
Simmel: Doch. Es ist ein gottverfluchter, beschissener Beruf. Aber ich kann mir keinen anderen, keinen schöneren, keinen wunderbareren vorstellen.
Gaus: Gehen wir von der ersten Nachkriegszeit weiter. Der erste Romantitel "Mich wundert, daß ich so fröhlich bin" erscheint 1949. Sie schreiben Drehbücher. In den Jahren bis 1962 sind Sie als Autor an 36 Bühnen beteiligt. Seit 1950 sind Sie bei der Illustrierten „Quick“ in München als Starschreiber tätig. Unter sieben Pseudonymen verfassen Sie Tatsachenberichte, Serien, bearbeiten Romane, bis sie illustriertentauglich sind und reisen als Reporter durch die weite Welt. Sie gelten damals als Deutschlands bestbezahlter Illustrierten-Mitarbeiter. „Ein Stoff, aus dem die Träume sind“, um einen anderen Simmel-Titel zu zitieren. Es ist ein Leben wie aus einem Ihrer Bücher. Wie hat dieses Leben geschmeckt, was haben Sie sich für ein Auto geleistet? Sie waren ein toller Hund, und dieses München war allmählich eine glitzernde Stadt geworden. Sie sind für mich ein Bindeglied, ein Mittelglied zwischen der Generation aus den 20er Jahren, die nach der Emigration nach Deutschland kamen, und denen, die das alles nur noch aus der Literatur kennen. Sie stehen so dazwischen. Wie war das Leben als ein schnell aufsteigender, berühmt werdender Journalist?
Simmel: Wissen Sie, Herr Gaus, das mit dem Journalisten stimmt, das mit dem Schriftsteller hat lange Jahre gedauert.
Gaus: Ich habe nach dem Journalisten gefragt.
Simmel: Mein Gott, ich habe die ganze Welt gesehen. Ich habe damals ein geradezu sträflich bedenkenlos glückliches Leben geführt. Weil ich so überwältigt war von der Welt und von allem, was ich so gesehen habe. Damals hatte ich noch kein Cabriolet, aber ich habe einen anderen großen Wagen gehabt.
Weil Sie gefragt haben, wie es geschmeckt hat: Es hat bittersüß geschmeckt. Denn soweit war ich nicht, daß ich nur den Glitzer gesehen hätte. Ich habe natürlich auch das unendliche Unrecht und das Elend gesehen. Es war wirklich bitter-sweet, mit der Betonung auf bitter. Trotzdem, dieser Titel, den Sie erwähnt haben, „Mich wundert, daß ich so fröhlich bin“, das ist mir vorhin eingefallen, den könnte man über die ganze Geschichte schreiben.
Gaus: Die damalige Schickimicki-Gesellschaft – wie war die beschaffen?
Simmel: Grauenhaft. Sie war nur einmal nicht grauenhaft, und zwar als ich zum ersten Mal an die Côte d’Azur kam. Da war die Schickimicki-Gesellschaft entschärft durch die Landschaft und natürlich auch durch eine Liebesaffaire, die ein gräßliches Ende genommen hat. Aber damals war sie wunderbar. Und ich war einfach überwältigt von dem, was ich gesehen habe. Aber das hat vielleicht zwei Jahre gedauert. Dann habe ich gesehen, daß es auch in dieser wunderschönen Gegend Unrecht, arme Leute und furchtbares Elend gibt.
Gaus: Wieweit haben Sie diese Einsicht an sich rangelassen, oder haben Sie das verarbeitet durchs Schreiben?
Simmel: Ich habe es insofern an mich nicht herangelassen, als ich solchen Leuten aus dem Weg gegangen bin, oder sie beleidigt habe, so daß sie weggeblieben sind. Gott weiß, daß Hochmut meiner Seele fremd ist, daß es kein Buch gibt von mir, in dem nicht über dieses ungeheure Unrecht in der Welt gesprochen wird. Insbesondere in diesen Kreisen, die Sie Schickimicki genannt haben, und die nicht nur Schickimicki waren, sondern die zum Teil ungeheuer mächtig waren. Multinationale Gesellschaften und was es da unten alles gegeben hat. Meine Bücher erzählen immer und immer wieder von diesen Typen und von diesem großen, großen Unrecht, das wir nach dem Krieg abschaffen wollten.
Gaus: Sie waren eine Zeit lang alkoholabhängig. Erklären Sie, wie es dahin gekommen ist, und wie Sie davon weggekommen sind.
Simmel: Ich war nach dem Krieg Dolmetscher der Amerikaner. Daher meine Freundschaften mit den Alliierten. Die Amerikaner haben mir eine Schreibmaschine besorgt und darauf geachtet, daß ich möglichst Nachtdienst habe, so daß ich Zeit hatte zu schreiben. Da habe ich angefangen, meinen ersten Roman zu schreiben.
Weil ich aber auch Dienst hatte und wach bleiben mußte, habe ich angefangen zu trinken. Rum und Coca Cola. Wir haben damals alle getrunken. Im Laufe von fünfzehn Jahren – inzwischen weiß ich, daß das die äußerste Grenze ist – habe ich mich sozial hochgetrunken. Ich habe immer Appetit gehabt und gut gegessen, und das Gegenteil hat auch funktioniert. Ich war ein fröhlicher Trinker, habe keinen Streit gesucht. Viele Leute haben mir gar nicht angemerkt, wenn ich betrunken war, weil ich Whisky getrunken habe. Als ich bemerkte, daß ich nicht mehr arbeiten konnte, habe ich in Wien angerufen. Ich hatte nach dem Krieg mit Willi Forst Drehbücher geschrieben, und der kannte einen Professor Hoff, der aus der Emigration zurückgekommen war und die Wiener Psychiatrie leitete. Dem hat er gesagt: 'Hör mal zu, das geht schief, nimm mal ein Zimmer für den.' Ich kam ein paar Tage in die Klinik, aber nur zur Überprüfung. Halluzinose oder was Schlimmeres. Es passierte nichts, und ich kam in ein offenes Heim am Rande von Wien in einer wunderbaren Gegend. Dort traf ich einen Schulfreund wieder, der hatte eine neue Methode für Alkoholentzug. Die war grandios. Das ist 1960 passiert. Bis heute habe ich nicht einen einzigen Tropfen Alkohol getrunken.
Gaus: Ich komme auf das Jahr 1960, weil das noch mal eine Rolle spielt in der Biographie. Aber zunächst: ein Leben geführt wie aus einem Ihrer Bücher, Herr Simmel. Die meisten Ihrer Bücher sind wohl eine Autobiographie, eine halbverschleierte Selbstdarstellung in der Fortsetzung?
Simmel: Gewiß. Ich denke, daß das bei vielen Autoren so ist.
Gaus: Sie arbeiten an einem neuen Buch. Sie wollen dazu nichts sagen?
Simmel: Bitte nicht, nein. Aber es ist, wie immer bei den Büchern, natürlich eine Sache, die ungeheuer aktuell ist und in einer bösen Weise noch viel aktueller werden wird.
Gaus: Die ersten Ihrer Bücher, später hat das nachgelassen – als Ihr Verleger wäre ich bedenklich darüber gestimmt –, hatten relativ starke Passagen über Sex. Sie bewegten sich in der Beurteilung mancher an der Grenze oder jenseits der Grenze des Pornografischen. Was hat Ihnen das bedeutet? War das Jux und Dollerei, oder was war das?
Simmel: Nein, das war es wahrhaftig nicht. Sie finden kein Buch von mir, in dem nicht über die Verbrechen des Dritten Reiches geschrieben wird. Das hat nichts damit zu tun, daß meine Familie fast verschwunden ist. Wenn meiner Familie gar nichts geschehen wäre, hätte ich genauso geschrieben. Weil das für mich die größten Verbrecher in der mir bekannten Geschichte gewesen sind. Leider Gottes haben wir uns geirrt, daß sie verschwunden sind. Und es gibt sie nicht nur in Deutschland.
Ich hatte Angst vor meinen Themen. Ich habe mir die allerschlimmsten Themen vorgenommen. Um ein krasses Beispiel zu nennen: Mir ist gelungen, den allerschlimmsten Euthanasie-Verbrecher der Nazis zu finden. Das war ein von allen geliebter Killer aus Schleswig-Holstein. Als sich die Polizei und die Behörden nach langer Zeit entschlossen haben, ihn zu verhaften, hat sich das Dorf vor ihn gestellt, vor 'unseren Doktor'. Man brachte ihn nach Frankfurt, und natürlich – solche Sachen kann man vorhersagen – ist ihm jemand in Frankfurt behilflich gewesen zu entkommen. Er ist in Rom gelandet bei einem Bischof und hat den Weg nach Südamerika gefunden. Die Sache war so grauenhaft, daß ich das mitteilen mußte. Und ich wollte, daß jemand meine Bücher liest, und zwar nicht nur, weil ich Geld verdienen wollte, sondern weil ich sagen wollte: Das ist passiert! Darum habe ich so eine Handlung hineingebracht mit Nachtklub ... Ich würde nicht sagen, daß es Pornografie war, denn ich habe niemals solche Geschichten geschrieben, ohne daß sie komisch gewesen sind.
Gaus: Sie wissen, warum ich Jux und Dollerei gesagt habe?
Simmel: Ja. Um mir einen Spaß zu machen, das war es nicht. Ich habe damals gesagt, kein Mensch hält das über 700 Seiten aus. Ich bekam entsprechende Kritiken, und ich muß sagen: zurecht. Denn eine Verbindung von Euthanasie und Nachtklub und Nackttänzerin ist sehr ... Ich habe es sein lassen. Die letzten zehn, fünfzehn Bücher sind praktisch jungfräulich. Es kommt nichts mehr vor.
Gaus: Aber sie verkaufen sich trotzdem gut.
Simmel: Als ich begriff, daß ich mir unnötige Sorgen gemacht hatte, habe ich gesagt: Das geht auch so. Das Problem ist, daß der Verlag jetzt sagt: ab und zu könntest du ja ...
Gaus: Ein bißchen möchte es schon sein.
Simmel: Ein bißchen möchte es schon sein.
Gaus: Sie waren dreimal mehr oder weniger glücklich verheiratet. Ihre große Liebe, Lulu, ihre zweite Frau, ist 1985 an Krebs gestorben. Sind Sie ein Frauenheld oder ein Frauenknecht gewesen?
Simmel: Ich glaube weder das eine noch das andere. Ich war ein Mann, der die Frauen geliebt hat. Dabei sind mir wunderbare und giftige über den Weg gelaufen. Zunächst mal hat mich mein Weg natürlich immer zu den giftigen geführt. Dafür habe ich auch meine Strafe bekommen. Lulu war was anderes. Es ist so schlimm, daß ich dauernd über Lulu rede. Das ist ein ganz anderes Gespräch. Und ich glaube, daß es so was wie Lulu auch nicht mehr gegeben hat.
Gaus: Sie haben sie in Hamburg kennengelernt.
Simmel: In Berlin.
Gaus: Und Sie haben sich von ihr getrennt und sind zu ihr zurückgekehrt.
Simmel: Trotz dieser unendlichen Liebe, die etwa 1952 angefangen hat, ist in der Mitte – 1976 oder so – eine andere Frau aufgetaucht, eine Jugendfreundin, die wohnte an der Côte d’Azur. Ich habe ein langes Gespräch mit Lulu geführt und gesagt: Ich gehe runter.
Gaus: Das heißt, Sie haben Lulu gesagt: ›Ich habe meine Jugendfreundin wiedergetroffen‹, und Lulu hat geantwortet: 'Na ja, wenn du meinst, geh hin.'
Simmel: Ich habe gesagt: 'Ich geh mal runter.' Dann bin ich zurückgekommen und habe erklärt: 'Es tut mir wahnsinnig leid.' Ich war in einer schrecklichen Verfassung. Vor allem auch deshalb, weil ich gewußt habe, wie das ausgeht. Als ich zwei Jahre unten war und gewisse Dinge sich gelegt hatten, habe ich Lulu angerufen und gesagt: ›Bitte verzeih mir. Ich habe den Fehler meines Lebens gemacht, ich möchte zu dir zurückkommen.‹ Eine normale Frau – normal im guten Sinne – würde in einem solchen Moment erklären: 'Rutsch mir den Buckel runter, du verfluchter Hund!' Oder sie sagt: 'Liebling, komm zurück.' Lulu hingegen meinte: ›Ich habe die ganzen Elendsjahre mit dir verlebt. Jetzt lese ich in der Zeitungen, du hast das teuerste Penthouse gekauft, du kaufst Cartier aus … Du bleib mal schön unten!‹ – Denn obwohl ich viel Geld verdiente, hieß es von mir immer, ich könne verdienen, was ich wolle, ich hätte immer 5.000 Mark zu wenig. Die mageren Jahre, wo die Bücher nicht gingen und ich Drehbücher schreiben mußte, hatte ich mit ihr erlebt. Ich habe Lulu gesagt: 'Du, ich halte das nicht mehr aus. Sie liest nicht, sie ist nur an Galas interessiert, an Äußerlichkeiten.' Da war dann auch der Reiz der Côte d’Azur weg.
Gaus: Nachdem Lulu zunächst die kalte Schulter gezeigt hatte, ging es doch wieder gut aus?
Simmel: Nicht, daß sie mich bestrafen wollte. Ihr war so zumute. Natürlich bin ich das halbe Jahr heimlich nach Hamburg geflogen. Dann, als es nicht mehr ging, habe ich gesagt: 'Schluß!', und bin rauf zu ihr, und dann war ich bis zu ihrem Tod der glücklichste Hund der Welt.
Gaus: Im Jahr 1960 begann die große Erfolgsserie des Johannes Mario Simmel mit dem Roman „Es muss nicht immer Kaviar sein“ und dem Theaterstück „Der Schulfreund“. Seither ist diese Serie nicht abgerissen. Wie erklären Sie selbst Ihren Erfolg?
Simmel: Da gibt es die verschiedenen Theorien. Daß die Bücher so viel gelesen werden, hängt damit zusammen, daß ich über Dinge schreibe, die an sich absolute Antithemen sind, aber die vielen Leuten unter die Haut gehen. Über geistig behinderte Kinder, über Drogen, immer und immer wieder über Nazis und ihre Verbrechen, über Alkoholismus, über multinationale Gesellschaften, über die, die dieses Elend über die Menschen bringen. Ich brauche nicht einmal pornografische Witze dazu, um die Leute anzuregen, das zu lesen. Weil sie vielleicht denken, sie sind irgendwie mit mir verwandt.
Gaus: Seit 1960 erscheint alle zwei, drei Jahre ein neuer, umfänglicher Roman von Simmel. Alle wurden Bestseller. Weltauflage: über 70 Millionen verkaufte Bücher. Haben Sie einen Überblick, Herr Simmel, wieviel Sie als Schriftsteller verdient haben?
Simmel: Nein. Ich sollte einen haben. In der Zeit da unten im Süden habe ich am allermeisten verdient und es auf die idiotischste Weise der Welt ausgegeben. Wirklich, es ist eine Schande. Natürlich habe ich auch viele Organisationen, die mir wichtig waren, unterstützt. Ich habe mich um Sintis und Romas gekümmert. Ich habe Menschen geholfen. Aber in der Relation ist ein großer Teil des Geldes für unwürdige Dinge ausgegeben worden.
Gaus: Cartier.
Simmel: Cartier. Mit dem Erfolg, als das dort zu Ende war, blieb alles bei der Dame. Mit 60 Jahren war ich praktisch pleite und fing bei Null wieder an. Aber als ich zu Lulu zurückkam, war mir das egal. Und Lulu hat mir erklärt, sie habe in ihrem Leben nur dreimal wirklich geliebt.
Gaus: Wer waren die beiden anderen?
Simmel: Sie war einmal mit einem Grafen verheiratet. Dessen Mutter ist in Plötzensee aufgehängt worden. Ihm wurden in der Prinz-Albrecht-Straße die Finger zerquetscht. (Das ist eine Liebesgeschichte, die ich noch schreiben möchte.) Der Zweite war ein Franzose. Lulu hatte ihr halbes Leben als Tänzerin an der Pariser Oper verbracht. Er war ein Jude, der flüchten mußte, als die Nazis kamen. Der Dritte war ich. Und sie hat mir Glück gebracht. Sie bringt mir auch heute noch Glück. Ich bin sicher, sie ist hier, irgendwo in der Nähe und ärgert sich, daß ich solche Sachen über sie sage.
Gaus: Einige bedeutende Kritiker haben Ihr Werk, zu dem am Rande auch Kinderbücher gehören, als Nachfolge der großen realistischen Romane des 19. Jahrhunderts, als bedeutende Zeitchroniken gewürdigt. Aber die meisten Kritiker haben Ihre Bücher in die Trivialliteratur eingereiht, haben sie banal und klischeehaft genannt. Wie sind Sie mit diesen Kritiken zurechtgekommen? Es hat sich in der letzten Zeit überwiegend zum Guten gewandt. Aber es hat eine Zeit gegeben, als das sehr schlimm war. Und das hat sehr weh getan. Denn ich habe mir wirklich Mühe gegeben, so gut zu schreiben, wie ich konnte. Wenn ich bedenke, was den Kritikern gefallen hat, und warum sie mich beschimpft haben ... Das war traurig. Mich tröstete jedoch – Sie haben das erwähnt – die Tatsache, daß die Bücher in 35 Sprachen übersetzt worden sind. Ich hatte im Ausland nie solche Kritiken wie in Deutschland. Die Engländer und die Amerikaner gehen danach, ob es ein gutes Buch oder ein schlechtes Buch ist. Diese Unterscheidung zwischen E- und U-Literatur gibt es nur bei uns. Aber es wäre gelogen, würde ich bestreiten, daß mich diese Kritiken geschmerzt hätten.
Gaus: Wie eitel sind Sie?
Simmel: Ich glaube nicht, daß ich eitel bin. Ich bin traurig, wenn man so mit mir umgeht. Nein, ich glaube nicht, daß ich eitel bin.
Gaus: Ihre Bücher haben sich kritisch mit bedrückenden Themen der Gegenwart beschäftigt. Immer steht der Autor Simmel unmißverständlich auf Seiten der Schwachen, der Benachteiligten, der Gefährdeten. Es ist leicht zu erkennen: Sie wollen etwas bewirken. Was haben Sie bewirkt?
Simmel: Beschämend wenig. Ich habe bewirkt, daß unter dem Druck von Zeitungen, in denen ich die für das Problem Zuständigen angegriffen habe, sich etwas bewegte: etwa in Düsseldorf, wo aus einer Hölle für krebskranke Kinder endlich ein Krankenhaus gebaut wurde. Mit einem Roman über geistig behinderte Kinder habe ich erreicht, daß in sechs Ländern zumindest finanziell mehr für diese Kinder getan wurde und sie stärker als bislang ins Leben integriert wurden. Und einige Sachen mehr. Aber für ein langes Leben und so viele Bücher ist das eigentlich wenig. Ich muß mich korrigieren. Wenn man sehr lange schreibt, wenn man große Auflagen hat und man gelesen wird, kann man einiges erreichen. Aber die Dinge, an denen mir vordringlich gelegen ist, haben sich nicht verändern lassen: daß endlich die Menschen mehr denken und weniger glauben, daß Kinder nicht verhungern müssen, daß es Ausbeutung gibt, daß es mit der Nazipest für immer aus und vorbei sei ...
Gaus: Hoffen Sie auf den Sozialismus nach allem, was gewesen ist?
Simmel: Ja, das tue ich. Wenn wir davon ausgehen, daß das, was wir hatten – ich nehme an, daß Sie das auch so sehen –, kein Sozialismus war, wie er uns beiden vorschwebt. Wenn man das realisieren könnte, dann wäre das die Hoffnung. Die Kehrseite ist ein maßloser, weltweiter, globaler Kapitalismus ohne Grenzen. Das erleben wir bereits.
Gaus: Wiederholt sich Geschichte gelegentlich, jedenfalls in manchen Ländern? Haben Sie Ängste mit Blick auf Deutschland?
Simmel: Ich habe große Ängste. Sie haben die Juden umgebracht. Es leben, glaube ich, nur noch 33.000 in Westdeutschland, wie viele im Osten, weiß ich nicht. Es ist auch furchtbar, daß ich noch West und Ost sage, aber wir reden alle so. Ich habe Angst, daß sich so etwas wiederholt. Wir haben so viele Arbeitslose. Wenn einer käme und schrie: 'Ich gebe euch Arbeit und Brot!' oder es ein bißchen zeitgemäßer formulierte, dann, so fürchte ich, wäre Wiederholung möglich. Ich habe auch ein bißchen Angst aus einem anderen Grunde. Als wir 80 Millionen waren, gab es den ersten Weltkrieg, als wir 60 Millionen waren, gab es den zweiten Weltkrieg. Jetzt sind wir wieder so viele.
Gaus: Sie haben einmal den Satz von Camus zitiert: 'Wir müssen uns Sisyphos als einen glücklichen Menschen vorstellen.' Sehen Sie sich selbst als einen Sisyphos?
Simmel: Ja.
Gaus: Erlauben Sie mir eine letzte Frage: Welchen Stein möchten Sie gegen Ende des Lebens noch bergauf stemmen?
Simmel: Das wäre ein Konglomerat aus all den zerbrochenen und zertretenen und vernichteten Träumen, die ich hatte nach dem Krieg.