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Arne Seidel, bekannt als "Ahne" und Berliner Lesebühnen-Größe hat sein erstes längeres Werk geschrieben. "Wie ich einmal lebte" ist eine Art Autobiographie. Ahne erinnert sich daran, wie er geboren wurde und an die spannenden Jahre danach, bis zur Wende, also bis Herbst 1989.
"Meine größte Freude: Wenn ich im Bett liegen kann und keinen Termin hab."
Aber abends hat Ahne dann doch meistens Termine: Seit über 25 Jahren bespielt dieser Mann Berlins Lesebühnen. Mehr als 12 Bücher hat er geschrieben. Jetzt aber was ganz Neues: Ein Buch über sich selbst.
In aller Herrgottsfrühe um 8.34 Uhr und bei eisiger Kälte treffen wir uns mit Ahne. Eigentlich eine Zumutung. Denn Ahne – so sagt er ja selbst – ist wahnsinnig faul.
Hier in Karlshorst fing alles an: 10 Jahre ging Ahne an die Wladimir-Lomonossow-Schule. Und obwohl er wenig bis gar nichts für die Schule gemacht hat, fand er es so toll, dass er am liebsten hier für immer überwintert hätte.
Ahne, Schriftsteller
"Also damals hab ich mir gedacht, ich hätte sehr gern mein ganzes Leben in der Schule verbracht. Man hatte nicht so viele Entscheidungen zu treffen. Also diese Entscheidungen, was ich mal arbeiten will oder so, war nicht so mein Ding."
Ahne vergleicht sich in seiner Autobiographie mit einer Seegurke. Seegurken, wer’s nicht weiß, treiben einfach so im Wasser vor sich hin.
Ahne, Schriftsteller
"Seegurke. Ich fand das ’ne schöne Lebensform. Man kann sowieso nichts selber bewegen, weil man sich nicht selber bewegen kann. Und dann passiert eben alles."
"Jedes Jahr, was ich geschafft hatte, bei jedem Geburtstag habe ich mich gefreut: Okay, jetzt wieder ein Jahr geschafft. Mal sehen, wie lange ich’s aushalte."
Ahne war klein, zurückgeblieben, hatte dürre Arme und Beine, einen Blähbauch und einen krummen Rücken. So war sein Selbstbild.
Ahne, Schriftsteller
"Ich hab mich selber so gesehen. Ich konnte mich ja sehen, wir hatten ja einen Spiegel zu Hause."
Gleich hinter der Schule - der Seepark. Dort traf sich Ahne mit seinen Kumpels. Aber nicht zu lange, denn Ahne hatte wichtigeres vor.
Auszug, Ahne "Wie ich einmal lebte", Voland & Quist
"Hier haben wir Fußball gespielt auch, hier auf dem Rasen. Aber ich bin ja auch meistens schnell nach Hause, um mich wieder meinen inneren Welten zu widmen."
Diese inneren Welten bestanden aus einem eigenen Kontinent, den Ahne in seiner Phantasie erschaffen hatte. Dort gab es Länder, in denen Revolutionen stattfanden. Dort wurde der Kampf für Gerechtigkeit geführt - und gewonnen. Dort herrschte ein Ahne-Sozialismus, der den Menschen Spaß machte. Anders als in der DDR.
Ahne, Schriftsteller
"Na das war ’ne Flucht, ganz klar. Oder so... Flucht aus der Langeweile, aber auch aus den ganzen Ängsten, die ich hatte in der Realität."
Die Langeweile kam von den Fahnenappellen, Patenbrigaden und Pioniernachmittagen. Aber die Angst kam woanders her: "Vaterland ohne Vater" heißt eins der Kapitel in Ahnes Buch. Sein Vater hat die Familie nicht nur verlassen, er hat jeglichen Kontakt zu Ahne abgebrochen. Ahne beschreibt es als ein schreckliches Ghosting – als ein unbegreifliches Verschwinden.
Ahne, Schriftsteller
"Das wirkt, das wirkt nach. Das wirkt auch immer noch und hat sich sogar mit dem Alter verstärkt."
Und dann kommt das Jahr 1984: Die Schule ist endgültig vorbei. Ahne muss raus ins Leben! Aber wohin? Es verschlägt ihn hierher: Zum "Neuen Deutschland" - in die Druckerei der kommunistischen Partei-Zeitung. Ahne wird Drucker. Aber eher so zufällig - seegurkenmäßig. Die Lehrstellen-Suche – eine Qual für Ahne.
Ahne, Schriftsteller
"Ich wollte dann einfach nicht den Raum verlassen, ohne eine Lehrstelle zu haben. Und dann habe ich gesagt, gibt’s nicht noch irgendwas anderes, was man hier werden kann und dann haben sie gesagt: Ja, du könntest Drucker werden. Dann habe ich gesagt: Ja, muss ich dann jetzt eine neue Bewerbung schreiben oder einen Lebenslauf neu schreiben. Nee, nee, reicht einfach: Setzer durchstreichen und Drucker drüberschreiben."
Ahne wurde Drucker. Aber nur bis zur Wende. Seitdem ist er Surfpoet und Lesebühnen-Rampensau – Woche für Woche hier im Prenzlauer Berg.
Über die 34 Jahre nach dem Mauerfall schweigt sein Buch. Ahne war - man ahnt es - zu faul zum Weiterschreiben.
Ahne, Schriftsteller
"Ob ich mich noch mal zu so was aufraffen kann...? Hui hui hui..."
Das Buch ist eine wunderbare Mischung aus Melancholie und anarchischer Albernheit. Mütter sagen in solchen Momenten gern: "Aus dem Jungen ist doch noch was Ordentliches geworden."
Ahne, Schriftsteller
"Ich hoffe nicht, dass aus mir was Ordentliches geworden ist. Was Unordentliches wäre ganz gut."
Autor: Ulf Kalkreuth