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Sie heißen "Stolpersteine", damit wir kurz innehalten und an die Menschen denken, die hier einmal gewohnt haben, aber dann von den Nationalsozialisten deportiert und ermordet wurden. Doch solche Gedenkorte und Mahnmale für die Opfer des Nationalsozialismus werden immer öfter beschädigt und geschändet. Das zeigt unsere Recherche mit bisher unveröffentlichten, alarmierenden Zahlen für Berlin.
Warum werden Orte angegriffen, die an Opfer des Nationalsozialismus erinnern? Warum werden Stolpersteine rausgerissen? Hier in Spandau hat es jemand versucht - an den Stolpersteinen für die jüdische Familie Pieck. Ihr Schicksal hat Svenja Tietz recherchiert. Sie arbeitet in der Jugendgeschichtswerkstatt Spandau - die leitet Uwe Hofschläger.
Svenja Tietz, Jugendgeschichtswerkstatt Spandau
"Lore Pieck war während der Zeit des Nationalsozialismus ein junges Mädchen. Ich glaube, deswegen hat mich die Geschichte auch so gepackt, weil sie war in dem Zeitraum ungefähr so alt wie ich. Sie war 17, 16, als sie fliehen musste."
Lore und ihre große Schwester Ilse, hier auf einem Foto aus den 20er Jahren, flohen mit einem Kindertransport nach England. Svenja Tietz ist mit den Nachfahren in Amerika in Kontakt. Zur Verlegung der Stolpersteine kamen sie nach Berlin.
Uwe Hofschläger, Jugendgeschichtswerkstatt Spandau
"Dass sich hier junge Menschen in dem Fall in Spandau dafür interessieren, was vor 80 Jahren hier für Unrecht passiert ist - da merken wir immer wieder, dass da ganz emotionale Begegnungen dadurch stattfinden."
Vor ein paar Monaten haben Unbekannte offenbar versucht, den Stolperstein für Lore Pieck aus dem Pflaster zu hebeln. Die Messingtafel ist seitdem verbogen.
Svenja Tietz, Jugendgeschichtswerkstatt Spandau
"Ich dachte: Wer macht sowas? Warum? Ich war sofort zurückversetzt in alles, was ich über die Familie erfahren habe, was ich auch sonst darüber weiß, was passiert ist während dieser Verfolgungen."
Der Stein soll erneuert werden. Der Auftrag dafür steht schon auf der langen Liste von Michael Friedrichs-Friedlaender. In seiner Berliner Werkstatt hat der Bildhauer schon 90.000 Stolpersteine hergestellt. Zuletzt hat er die ersetzt, die in Zeitz gestohlen wurden.
Michael Friedrichs-Friedlaender, Bildhauer
"Wenn so etwas gemacht wird, ob der jetzt Palästinenser ist, ob der rechts ist - egal was er ist. So etwas zu beschädigen, so etwas rauszureißen, ist einfach Dummheit. Gegen Dummheit hilft nur eins: Bildung."
Mit seiner Arbeit trägt er dazu bei. Wir stolpern im Alltag - über die Lebensgeschichten der Menschen, die von Nationalsozialisten deportiert und ermordet wurden.
Michael Friedrichs-Friedlaender, Bildhauer
"Die Schicksale, die man dort einschlägt, da geht keins an einem vorbei [...] Es berührt mich jeder Stein - auch unterschiedlich. Wenn man dann ein Waisenhaus hat - mit 34 Kindern an einem Tag - da kommen einem nur die Tränen."
Empathie und Mitleid. Und doch: Warum werden dann Gedenkorte für die Opfer der Nationalsozialisten so oft beschmiert? Wie auch dieses Denkmal um die Ecke vom Alexanderplatz.
Julia Kopp, RIAS Berlin
"Wir sind ja hier am Mahnmal in der Rosenstraße für die Frauen, die sich hier 1943, nachdem jüdische Männer verhaftet wurden hier täglich versammelt haben."
Julia Kopp leitet die Berliner Recherche- und Informationsstelle Antisemitismus, kurz RIAS. Im Sommer hat ihr Team dokumentiert, wie die Skulpturen besprayt wurden.
"Juden begehen Völkermord", behauptet das Graffiti - und das an einem Ort, der an ihre Ermordung erinnert.
Julia Kopp, RIAS Berlin
"Wie deutlich ist diese Gleichsetzung von Jüdinnen und Juden während des Nationalsozialismus, Opfern der Shoah - mit Tätern von heute! Echt erschreckend."
Ein gefährliches Muster.
"In dem Moment, in dem ich Juden und Jüdinnen mit NS-Tätern und -Täterinnen vergleiche und gleichsetze, legitimiere ich natürlich auch Angriffe gegen sie."
Beschädigungen an Gedenkorten haben zugenommen: Allein im ersten Halbjahr 2024 hat RIAS Berlin 21 Fälle dokumentiert - mehr als im gesamten Vorjahr. Dem rbb liegen diese Zahlen exklusiv vor.
Auch in Spandau ist ein Denkmal beschmiert worden. Es steht am Havel-Ufer, nur ein paar hundert Meter entfernt von den Stolpersteinen der Familie Pieck.
Uwe Hofschläger, Jugendgeschichtswerkstatt Spandau
"Wir sind ganz dicht am Standpunkt der Synagoge - die stand dann dort drüben - die in der Pogromnacht zerstört worden ist. Und das ist jetzt der zentrale Gedenkort für Spandau."
Unbekannte hatten das Denkmal auf Arabisch beschmiert: "Es gibt keinen Gott außer Allah" - an einer anderen Stelle: "Fuck Israel".
Svenja Tietz, Jugendgeschichtswerkstatt Spandau
"Uns sagen zu wollen, indem man diese Denkmäler beschmiert: Wir dürfen nicht daran erinnern, oder diese Leute haben es nicht verdient, daran zu erinnern, weil sie jüdisch waren. Das ist für mich eine Entwicklung in eine ganz falsche Richtung gesellschaftlich gesehen."
Mit ihrer Arbeit in der Jugendgeschichtswerkstatt halten Svenja Tietz und Uwe Hofschläger dagegen - und machen jüdische Lebensgeschichten in Spandau sichtbar.
Svenja Tietz, Jugendgeschichtswerkstatt Spandau
"Immer wenn mich Leute fragen: Ja, warum machst du das denn? Sag ich: Ja, um meinen Teil dazu beizutragen, dass wir nicht vergessen! Weil, nur indem wir nicht vergessen, können wir dafür sorgen, dass es nicht wieder passiert."
Autorin: Anne Kohlick