Interview l Heimische Pflege bei Demenz in der Pandemie - "Wir müssen es gemeinsam aushalten"
Demenzerkrankte zu Hause zu pflegen, kann Angehörige an ihre Grenzen bringen - in Pandemiezeiten zur Verzweiflung. Denn ohne Unterstützungsangebote sind Pflegende oft 24 Stunden gefordert - kaum zu schaffen. Gabriele Tammen-Parr, Leiterin der Beratungsstelle Pflege in Not, berichtet im Gespräch von der Extremsituation pflegender Angehöriger in der Pandemie.
Frau Tammen-Parr, was sind die Herausforderungen für Menschen, die ihre demenzkranken Angehörigen in Pandemiezeiten pflegen?
Die größte Herausforderung war der Wegfall der Unterstützungsangebote. Wir haben in Berlin ein gut aufgestelltes Netz von Unterstützungsangeboten, das heißt wir haben zum Beispiel die Kurzzeitpflege, die Tagespflege oder Betreuungsgruppen, wo Demenzerkrankte hingehen können. Man kann aber auch als Pflegender selber Gesprächsgruppen wahrnehmen, um sich zu entlasten.
Zu Beginn der Pandemie sind diese Unterstützungsangebote komplett weggebrochen. Die Angehörigen waren somit ganz auf sich alleine gestellt. Gerade die Tagespflege entlastet Angehörige sehr. Einer der ersten Anrufe war eine Frau, die ihren demenzerkrankten Mann pflegt, der ansonsten vier Mal die Woche in die Tagespflege ging. Sie sagte, dass sie nicht wisse, wie lange sie das durchhalte.
Die Pandemie hat auch die große Abhängigkeit zwischen dem Demenzkranken und den Pflegenden verdeutlicht. Das ist ein belastendes Gefühl. Zudem hatten viele Angehörige Angst, sich anzustecken und den Pflegebedürftigen zu infizieren. Die meisten sind wirklich nur rausgehuscht, um einzukaufen. Dabei war eine Sorge immer präsent: Was passiert mit meinem Pflegebedürftigen, wenn ich selber infiziert werde? Wir merken in unserer Beratungsstelle, dass sich das auf die Psyche auswirkt. Depressionen aber auch Aggressionen haben zugenommen.
Was haben Sie in so einer Belastungssituation den Angehörigen geraten?
Wir waren in der Beratungsstelle das erste Mal in einer Situation, in der wir praktisch in ein "schwarzes Loch" beraten haben. Wir konnten erstmalig - neben der emotionalen Unterstützung - den Angehörigen keine Unterstützungsangebote anbieten. Das bedeutet, wenn Menschen uns von extremen Überforderungssituation erzählt haben, konnten wir an den äußeren Rahmenbedingungen nichts ändern.
Wir haben dann mit ihnen darüber gesprochen, was sie so aggressiv macht, was ihnen im Augenblick besonders schwer fällt, und ob es eine kleine Möglichkeit gibt, ein bisschen was zu verändern, was hilft. Zum Beispiel mal alleine um den Block gehen oder mit jemandem telefonieren.
Zudem haben wir gemerkt, dass diese räumliche Enge dramatische Auswirkungen hat. Manche leben in einer Zweizimmerwohnung und haben die klassisch eingerichtet: Wohnzimmer, Schlafzimmer. Das heißt, wenn der Angehörige, der normalerweise viermal die Woche um 9 Uhr abgeholt und um 16 Uhr zurückgebracht wurde, nun plötzliche 24 Stunden am Tag da ist, kleben natürlich beide 24 Stunden am Tag im Wohnzimmer oder wechselweise in der Küche. Das ist schwierig.
Wir konnten also nur telefonisch mit überlasteten Angehörigen sprechen und klären, was gerade los ist, und ob es eine kurze Entlastung geben könnte. Und dann mussten wir ehrlich sagen: Wir wissen alle nicht, wie lange es dauert. Das ist ein großer Unsicherheitsfaktor.
Wenn Sie die Aggressivität ansprechen, haben Sie da ein Beispiel?
Bei den Angehörigen war es so, dass die Nerven blank lagen. Sie haben die Aggression als eine extreme Überforderungssituation beschrieben. Zum Beispiel kann es Ihnen bei einem Demenzkranken passieren, dass er 40 mal am Tag das Gleiche sagt. Da können viele bei der 20. Antwort nur noch schreien.
Es gibt aber auch Steigerungen. Mich hat beispielsweise ein pflegender Ehemann angerufen, er war körperlich und emotional vollkommen am Ende. Er hat mir erzählt, dass er ganz viel mit seiner demenzkranken Frau schreit und er sie auch schon mit der Windel geschlagen hat. Die Ehefrau war inkontinent, ließ sich die Windel aber partout nicht abnehmen. Da wusste er sich nur noch zu helfen, indem er ihr die Windel gewaltsam auszieht. Er erzählte, dass er sie dann auf das Bett drückt, ihr die Windel abnimmt und dann versucht, sie irgendwie unter die Dusche zu zerren, weil sie eingekotet hat.
Der Mann war wirklich völlig am Limit, die Grenze der Belastbarkeit weit überschritten.
Was machen solche Geschichten mit Ihnen als Beraterin?
Ich hätte nie gedacht, dass ich als Beraterin immer wieder den Satz sagen muss: Wir müssen es gemeinsam aushalten. Das war irritierend, aber ehrlich. Denn auch ich konnte keine Pflege-Einrichtung aufschließen.
Aber erstmal können wir uns bei "Pflege in Not" aggressive und konflikthafte Situationen vorstellen und sind nicht erschrocken, wenn jemand Ausnahmesituationen beschreibt. Dass wir es nachvollziehen können heißt aber nicht, dass wir es billigen. Zum Beispiel, wenn jemand beim Windeln wechseln Gewalt anwendet. Wir schauen dann gemeinsam mit den Angehörigen, wie es zu der Überforderungssituation kommt und wie sie eventuell Möglichkeiten finden können, vorher "aussteigen" zu können.
Wir müssen also gemeinsam mit den Ratsuchenden Detektive sein und nach Situationen suchen, wo es weniger anstrengend und problematisch war. Da ist es interessant zu schauen, was vor einer eskalierenden Situation anders war.
Demenzkranke verhalten sich sehr zu Stimmungen und nehmen diese wahr. Und da macht es einen Unterschied, ob ich die Windel sauer und wütend runterziehe, oder ob ich sage: "Tut mir leid, ich muss die Windel abmachen, obwohl es Dir nicht gefällt, aber Du bekommst sonst wunde Stellen. Wir beide kriegen das hin." Schon die veränderte Haltung und Ansprache ändert die Stimmung für beide und kann deeskalieren. Natürlich wissen wir, dass manchmal auch nichts geht.
Wie hat sich die Situation für pflegende Angehörige nach über einem Jahr Pandemie verändert?
Es hat sich seit dem Sommer leicht entspannt. Da haben die Tagespflegen mit einem reduzierten Angebot wieder aufgemacht. Einige haben auch wieder die Pflegedienste in die Wohnungen gelassen. Viele pflegende Angehörige hatten in den ersten Monaten der Pandemie den Pflegedienst aus Angst vor Ansteckung abbestellt, der zumindest teilweise Tätigkeiten wie das Duschen übernommen hat.
Im Sommer hat man gemerkt, dass viele die Tagespflege wieder in Anspruch genommen haben. Das zunehmende Wissen über Corona hat auch Sicherheit gebracht. Zu Anfang des Jahres kamen dann die großen Hoffnungen auf die Impfung auf. Da hat man gemerkt, dass es sich noch ein bisschen mehr entspannt hat.
Da waren wir als Beratungsstelle mit dem Senat im Gespräch, dass pflegende Angehörige möglichst mitgeimpft werden. Das hat so nicht gleich geklappt, aber jetzt haben die pflegenden Angehörigen immerhin alle einen Impfcode bekommen. Dadurch gibt es eine große Entspannung. Wir merken das an den Anruferzahlen, die haben sich langsam normalisiert.
Für Menschen mit einer Demenz ist Struktur wichtig - die ist anfangs ganz weggebrochen und hat sich dann verändert. Wie verkraftet man das?
Die Spannungen zwischen Pflegebedürftigen und Angehörigen haben dadurch auch zugenommen. Das liegt zum einen daran, dass Demenzkranke, die sonst in der Tagespflege sind, keine Abwechslung mehr haben. Da wird ja z.B. gesungen, gemeinsam gegessen, man sieht andere Gesichter. Das bedeutet für Demenzkranke auch ein Stück Lebensqualität.
Wenn das wegfällt, werden sie eben in der Wohnung aktiv. Zum Beispiel räumen sie Sachen von einem Zimmer ins andere, kramen alles Mögliche hervor, werfen mit dem Essen oder halten das Handy unter den Wasserhahn. Das alles ist für Angehörige extrem anstrengend, denn es fordert eine permanente körperliche und geistige Präsenz. Sie müssen sich sekündlich zu jemandem verhalten und das rund um die Uhr. Angehörige können das ohne Unterstützung über einen längeren Zeitraum kaum leisten.
Da die meisten pflegenden Angehörigen aus Angst vor einer Corona-Infektion ihre sozialen Kontakte extrem eingeschränkt haben, hat sich die Situation noch mal sehr zugespitzt. Dadurch waren beide noch mehr aufeinander bezogen und mögliche Entspannung von außen fiel damit komplett weg.
Die Pandemie erfordert einige Hygienemaßnahmen - wie kann man die einem Demenzkranken erklären?
Das ist nach wie vor ein Problem. Sie verstehen zum Beispiel nicht, warum man eine Maske tragen muss. Da kann man als Angehöriger nur immer wieder daran erinnern und schauen wo es unbedingt nötig ist, wie zum Beispiel bei Arztbesuchen.
Frau Tammen-Parr, vielen Dank für das Gespräch!
Das Interview führte Laura Will