Mehr Diversität - Gefährliche Klischees: Diskriminiert in der Medizin
Rassismus in der medizinischen Versorgung oder Vorurteile beim Arzt sind gefährlich für Patienten. Folgen sind Behandlungsfehler & unzureichende Behandlung.
Rassismus ist ein gesamtgesellschaftliches Problem und zeigt sich auch in der Gesundheitsversorgung: In Form von Vorurteilen, abfälligen Bemerkungen oder unzureichender Behandlung. Das muss sich ändern. Nur wie zeigt sich solche Diskriminierung?
Gleichbehandlung - Wunsch & Realität?
Alle Hilfesuchenden gleich zu behandeln, unabhängig von Glaube, ethnischer Herkunft, Staatsangehörigkeit oder Rasse - das schwören angehende Ärzt:innen im sogenannten Genfer Gelöbnis.
Doch im Berufsalltag sieht es teilweise anders aus. Immer wieder erfahren Menschen mit Migrationshintergrund oder/und nicht weißer Hautfarbe (PoC - People of Colour) in deutschen Arztpraxen oder Kliniken Benachteiligungen - wegen ihrer vermeintlichen oder tatsächlichen Herkunft.
"Es passiert öfter in den Gesprächen mit Ärzt:innen, dass Patient:innen das Gefühl haben, dass sie nicht richtig wahrgenommen werden. Oder dass sie nicht ernst genommen werden", sagt Khamai Simpson. Die US-Amerikanerin hat für ihre Masterarbeit an der Berlin School of Public Health mehrere betroffene Personen zu ihren Erlebnissen in Gesundheitseinrichtungen befragt.
Stereotype, Vorurteile, Stigmatisierung
Das Fazit von Simpsons Arbeit: Ja, es gibt dort Rassismus und er wird in unterschiedlicher Art vermittelt. Einmal in Form von Stereotypen und Vorurteilen.
Etwa wenn Behandelnde zu Hilfesuchenden mit nicht weißer Hautfarbe sagen würden: "Ja, ich weiß schon, dass Menschen aus diesem Land oder Menschen mit Ihrem Hintergrund sich oft nicht richtig ernähren".
Oder wenn die Behandelnden von einem geringerem Schmerzempfinden ausgingen, wie Khamai Simpson geschildert wurde: "Eine Teilnehmerin in meiner Studie hat erzählt, dass sie mit Schmerzen und Übelkeit ins Krankenhaus gekommen war und sie gedacht hat, sie ersticke. Und die Krankenpfleger:innen haben ihr gesagt: 'Ich glaube, Du hältst sehr viel aus.' Und das hieß für die Frau in ihrer Wahrnehmung, dass sie hier sterben könnte und niemand würde etwas dagegen tun."
Othering: Betonung des Andersseins
Eine weitere Form von Rassismus ist das so genannte Othering. Es bezeichnet einen Prozess bei dem die Andersartigkeit des Gegenübers in den Vordergrund gestellt wird - aufgrund von Merkmalen wie Kopftuch, Sprache oder Hautfarbe.
Auch das hat Khamai Simpson bei der Befragung von betroffenen Personen geschildert bekommen: "Es gibt das Gefühl, dass man als fremd wahrgenommen wird. Dass man anders behandelt wird als andere. Und wieso ist es beispielsweise für die behandelnde Person wichtig, aus welchem Land die Eltern der Patientin oder des Patienten kommen? Auch das wird als Rassismus wahrgenommen.
Mikroaggression in der Beziehung Arzt-Patient
Prof. Theda Borde bezeichnet solche Handlungsformen als "rassistisch geladene Mikroaggressionen". Die Professorin für Sozialmedizin und Public Health an der Alice Salomon Hochschule Berlin beschäftigt sich seit vielen Jahren mit Fragen der diversitätsgerechten Gesundheitsversorgung.
Sie beklagt, dass hierzulande große Studien zu Rassismus in der Medizin fehlen, anders als etwa in den USA. Es gäbe bisher nur Hinweise sowie Erfahrungsberichte, wie die in der verhältnismäßig kleinen Studie von Khamai Simpson, die Prof. Theda Borde mitbetreut hat.
Um das Ausmaß und die Auswirkungen von Diskriminierung im Gesundheitswesen genauer zu erfassen, ist weitere Forschung nötig - das sagen auch die Autor:innen der 2021 publizierten Studie zur Diskriminierung im Gesundheitswesen im Auftrag der Antidiskriminierungsstelle des Bundes.
Aus den darin enthaltenen Expert:inneninterviews geht hervor, "dass es seltener offene rassistische Äußerungen des medizinischen sowie pflegenden Gesundheitspersonals sind, sondern eher 'subtilere Formen' von Rassismus, wie ein respektloser Umgang oder längere Wartezeiten."
Folgen: Wie wirkt sich Abwertung aus?
Welche Folgen hat es, wenn hilfesuchende Menschen in einem eigentlich geschützten, sensiblen Bereich wie dem der Gesundheitsversorgung schlechter behandelt werden? Wo es um den eigenen Körper geht und auch um Leben und Tod?
Es kommt zu einer Verunsicherung und inneren Abkehr. Das Vertrauen in das Gesundheitssystem schwindet. Und das ist längst noch nicht alles, sagt Prof. Dr. Theda Borde: "Diese Mikroaggressionen machen die betroffenen Personen krank und führen dazu, dass sie teilweise dann die Gesundheitsversorgung nicht mehr unbedingt in Anspruch nehmen wollen."
Arztwahl: Schlechte Erfahrung beschränkt Möglichkeiten
Häufig gehen Menschen mit Migrationshintergrund oder PoCs in Deutschland nur zu Ärztinnen und Ärzten, die aus ihrem ursprünglichen Kulturkreis kommen oder ihre Sprache sprechen. Vor allem dann, wenn sie bereits schlechte Erfahrungen mit deutschem Gesundheitspersonal gemacht haben.
So werden etwa Hautärtz:innen, die sich mit dunkler Haut auskennen, in den Communities weiterempfohlen. Denn in den medizinischen Lehrbüchern beziehen sich die Diagnosen immer noch auf nur weiße Haut.
Morbus Mediterraneus & Mamma-Mia-Syndrom
Dass die Gesundheit von Migrant:innen und Personen mit Migrationshintergrund immer wieder abgewertet und marginalisiert wird, zeigen auch Begriffe wie "Morbus Mediterraneus" oder "Mamma-Mia-Syndrom".
Seit Jahrzehnten zirkulieren sie unter Ärzt:innen und medizinischem Personal. Sie bezeichnen ein rassistisches Klischee von einer wehleidigen Person, der entweder gar nichts fehlt oder die in ihrem Empfinden stark übertreibt, indem sie lautstark jammert.
Die Hintergünde für solche Zuschreibungen sind vielfältig: Häufig fehlt dem Arzt oder der Ärztin die Zeit, zu verstehen, was einer Person, die schlecht Deutsch spricht, fehlt und tut es dann als Wehleidigkeit ab - das geht schneller als verstehen zu lernen. Oder es steckt der Unwillen dahinter, sich mit dem Problem auseinanderzusetzen.
Doch wenn Schmerzen oder Leid von Patient:innen nicht ernst genommen werden, kann das tödliche Folgen haben. Indem etwa ständige Rückenschmerzen abgetan und nicht als Tumor erkannt werden.
Unterschiedliche "Klagsamkeit" - was ist dran?
Menschen aus verschiedenen Kulturen haben kein unterschiedliches Schmerzempfinden, sondern das ist bei allen gleich, wie Untersuchungen bewiesen haben.
Aber Schmerz wird unterschiedlich ausgedrückt. Wie intensiv er beschrieben wird, hängt unter anderem von der jeweiligen Kultur ab. In "ausdrucksarmen" Ländern wie Deutschland könnte demnach intensives Klagen als Übertreiben und Simulieren interpretiert werden.
Schmerztoleranz: Wenn das Vorurteil gefährlich wird
Fatal für die Betroffenen ist es, wenn das Vorurteil von "grundlosem Jammern" auf das Klischee des "geringeren Schmerzempfindens" trifft.
In einer Studie der Charité und der Alice Salomon Hochschule wird aktuell die gesundheitliche Versorgung von geflüchteten Frauen rund um Schwangerschaft und Geburt untersucht.
Einige Frauen berichten im Interview, sie seien vom Klinikpersonal regelrecht vernachlässigt worden, berichtet Prof. Theda Borde: "Sodass sie die Geburt am Ende alleine machten. Und das hat möglicherweise mit dem Personalmangel im Kreissaal und damit zu tun, dass man einfach sagt: 'Die kriegen das schon von alleine hin. Sie haben ein 'natürlicheres Konzept' von Geburt.' Das ist natürlich alles Humbug… Aber hier wird ausgegangen von einer größeren Schmerztoleranz. Und andererseits sagt man: Weil sie laut schreit, nehmen wir es nicht so ernst und vernachlässigen es. Also wir haben einige Fälle in unserer Studie, wo tatsächlich eine solche Vernachlässigung da ist."
Sprachkenntnisse beeinflussen Schmerzausdruck
Aber auch fehlende Deutschkompetenz scheint ein Grund für intensiveren Ausdruck von Schmerzen zu sein.
So gaben in einer Untersuchung in drei Berliner Notfallambulanzen Personen stärkere Schmerzwerte an, je geringer ihre Deutschkenntnisse waren - wohl in der Hoffnung, auf diese Weise überhaupt vom ärztlichen oder pflegerischen Personal ernst genommen zu werden.
Der verstärkte Schmerzausdruck wurde damit zum einzigen Mittel der Kommunikation.
Weniger Sprachbarrieren - mehr Gesundheit
Wesentlich für eine gute Gesundheitsversorgung ist also, Sprachbarrieren abzubauen. Indem gewährleistet ist, dass für die Patientenaufklärung, Information und Kommunikation selbstverständlich qualifizierte Sprachmittler:innen zur Verfügung stehen. Und man sich nicht, wie häufig praktiziert, mit übersetzenden Angehörigen oder Bettnachbar:innen behilft, weil es einfacher ist.
Wichtig wäre auch, dass Aufklärungsblätter und anderes Informationsmaterial endlich in mehr Sprachen übersetzt und zugänglich gemacht wird.
Bessere Ausbildung: kultursensibel ist kompetenter
Dringend verbessert werden sollte die interkulturelle Kompetenz des Personals im Gesundheitsbereich. Zwar können Medizinstudent:innen in Deutschland mittlerweile Seminare zum Thema besuchen, aber diese sind nicht verpflichtend.
Immerhin gibt es an der Charité seit einigen Jahren ein Programm für Ärzt:innen, Pflegekräfte und andere Mitarbeitende zur Stärkung der interkulturellen und interprofessionellen Kompetenz.
Darin wird kultursensibles Handeln geübt, u.a. mit Simulationspatientinnen und Dolmetschern.
Khamai Simpson wünscht sich, dass mehr Menschen Trainingsprogramme gegen Vorurteile und Rassismus absolvieren, auch wenn sie selbst als PoC noch nicht mit Rassismus in Arztpraxen konfrontiert wurde: "Es ist einfach so, dass es Vorurteile und Abgrenzungen in der Gesellschaft gibt. Wir alle haben Vorurteile, wir müssen nur bewusst damit umgehen lernen. Und es braucht ein Training, damit wir anfangen können, sie abzubauen."
Beitrag von Carola Welt