Wie gefährlich sind Röntgenstrahlen? - Ein Segen für die Menschheit
Die Entdeckung der Röntgenstrahlen hat die Medizin revolutioniert. Sie durchdringen den Körper, machen Knochen und luftgefüllte Organe sichtbar und helfen Ärzten, Erkrankungen zu entdecken sowie Therapien zu planen und deren Erfolg zu kontrollieren. Doch wie harmlos oder gefährlich sind die Strahlen, die Wilhelm Conrad Röntgen vor 125 Jahren bei seinen Experimenten fand?
Über Wochen hatte Wilhelm Conrad Röntgen sich in seinem Labor eingeschlossen, um das genauer zu verstehen, was er im November 1895 entdeckt hatte: die X-Strahlen, die Menschen und Dinge durchdringen. Am 24. Januar 1896 war der 50-Jährige Physiker bereit, der Welt seine Entdeckung live zu präsentieren. In den Räumen der Physikalisch-Medizinischen Gesellschaft in Würzburg bat Röntgen den Anatomen Rudolf Albert Kölliker, seine Hand durchleuchten zu dürfen. Als sich das Knochengerüst der Gliedmaße danach auf dem Bildschirm abzeichnete, tobte der Saal. Kölliker selbst schlug vor, den neuen Strahlen den Namen "Röntgenstrahlen" zu geben.
Seitdem sind 125 Jahre vergangen. Bis heute sind konventionelle Röntgenaufnahmen Standard. Ärzte nutzen sie für die Diagnose, um Therapieentscheidungen zu treffen, um über Heilung oder das Ergebnis von Operationen zu wachen. "Röntgen ist häufig die erste diagnostische Maßnahme, wenn jemand in die Klinik oder Praxis kommt", sagt Ellen Foert, Chefärztin der Radiologie der DRK Kliniken Berlin Mitte. Die Untersuchung ist günstig, leicht verfügbar, geht schnell und hat eine gute Aussagekraft. Schwerkranke Patienten können dank mobiler Geräte durchleuchtet werden. Und mit modernen Technologien hält sich auch die Strahlenbelastung in Grenzen.
Geniales Prinzip
Röntgenstrahlen sind elektromagnetische Wellen, die entstehen, wenn Elektronen beim Zusammenstoß mit Atomen abgebremst werden. Sie können den Körper durchdringen, weil sie energiereicher sind als beispielsweise UV- oder sichtbares Licht. Die verschiedenen Gewebe und Organe lassen Strahlen unterschiedlich gut durch – und schwächen sie ab. Dichtes Gewebe wie Knochen lässt Röntgenstrahlen wenig oder kaum durch, es zeigt sich auf dem Bild als weißer Schatten. "Auch Kalk, Gallen- oder Nierensteine absorbieren viele Strahlen und sind deshalb im Röntgenbild als helle Strukturen sichtbar", sagt Foert. Dagegen passieren die Strahlen luft- und gashaltige Organe wie Lunge oder Darm leicht und bilden sich dunkel ab. Bei Weichgewebe, Gefäßen und Hohlorganen setzen die Radiologen kontrastverstärkende Mittel ein, um sie besser zu erkennen.
Radiologen setzen Röntgenuntersuchungen ein, um Brüche oder Fehlstellungen von Knochen zu erkennen. Sie diagnostizieren Herz- und Lungenerkrankungen wie Entzündungen, Tumore oder Flüssigkeitsansammlungen. Die Mammographie, Röntgendarstellung der Brustdrüsen, ist die Methode der Wahl bei der Früherkennung von Brustkrebs.
Die Entwicklung geht weiter
Doch längst verwenden Radiologen Röntgens Strahlen auch bei anderen bildgebenden Verfahren. "Die wohl wichtigste Weiterentwicklung der Röntgentechnik ist die Computertomographie", sagt Radiologin Foert. Bei dem Verfahren kreist die Röntgenröhre blitzschnell um den Patienten, es entstehen Schichtbilder, aus denen sich sogar dreidimensionale Bilder berechnen lassen. Eine weitere wichtige Anwendung: Die Angiographie, die der Sichtbarmachung von Gefäßen dient. "Wir nutzen Röntgenstrahlen, um Kathetereingriffe an Blutgefäßen und Organen zu steuern. Das Prinzip ist wie beim Video: Der Patient wird mit mehreren Aufnahmen pro Sekunde durchleuchtet", sagt Foert.
Röntgen-Strahlen galten nach ihrer Entdeckung als der letzte Schrei. "Prof. Röntgens X-Strahlen-Automat" versprach nach Einwurf eines 10-Pfennig-Stücks nicht nur das Durchleuchten der eigenen Hand, sondern auch fremder Gegenstände wie Holz, Leder, Papier. Man nutzte die Strahlen als Party-Gag oder in Schuhläden, um zu schauen, ob die neuen Galoschen passten.
Strahlung mit Nebenwirkungen
Heute sind Daueraufnahmen zu Röntgens Zeiten undenkbar. Denn: Die Strahlen haben durchaus Nebenwirkungen. In Hamburg gedenkt ein Mahnmal den Ärzten, Pflegern und Patienten, die in den ersten Jahren des Röntgen-Booms an den Folgen der Strahlung verstarben. Die Strahlen können die Erbinformation (DNA) von Zellen schädigen. In der Regel kann die Zelle diese Brüche der Doppelhelix selbst reparieren, anderenfalls stirbt sie ab. Wenn diese Mechanismen jedoch nicht funktionieren, kann sich die veränderte Zelle weiter teilen und die veränderte Erbinformation weitergeben, unter Fachleuten als Mutation bezeichnet. Daraus kann Krebs entstehen, so Foert. "Erst einige Jahre nach Röntgens Entdeckung erkannte man, dass die Strahlen auch unumkehrbare Schäden anrichten können, beispielsweise an Haut oder Augenlinse." Etwa ein Jahrzehnt später wurde der Zusammenhang zwischen Röntgenstrahlen und der Entstehung bösartiger Tumoren nachgewiesen.
Im Jahr 2011 stellte der niederländische Radiologe Gerrit Kemerink von der Uniklinik Maastricht Röntgens Aufnahme von 1896 nach. Seine Experimente ergaben, dass die Strahlendosis 1896 für die Aufnahme einer Hand 74 Millisievert (mSv) betrug. Heute werden dafür nur noch 0,05 mSv benötigt – also rund 1.500 Mal weniger Strahlung. Und was mit dem System von 1896 anderthalb Stunden dauerte, ist mittlerweile in Bruchteilen einer Sekunde erledigt.
Noch vor 100 Jahren schaute der Arzt während der Untersuchung auf den Bildschirm und machte quasi eine Live-Diagnose. Erst nach und nach wurden Röntgen-Strahlen sicherer: Blenden sorgten dafür, dass die Strahlen tatsächlich nur das Körperteil trafen, das abgebildet werden sollte. Man entwickelte Film-Folien-Systeme, so dass das medizinische Personal die Diagnose nach der Aufnahme stellen konnte. Bleischürzen schützen Anwender und Patienten an besonders empfindlichen Stellen. Die Patienten profitierten von kürzeren Belichtungszeiten. Und statt auf Filmplatten werden die Daten der Aufnahmen heute digital gespeichert.
Reicht der Schutz aus?
Doch schützt uns all das ausreichend vor der vernichtenden Kraft der Röntgenstrahlen? Fakt ist: Die Deutschen röntgen so viel wie kaum eine andere Industrienation – im Schnitt jede Person 1,6 Mal pro Jahr. "Durch die häufige Anwendung von Röntgenstrahlen in der zivilisierten Welt steigt statistisch auch das Krebsrisiko", sagt Foert. Dass durch konventionelles Röntgen Krebserkrankungen hervorgerufen würden, sei wegen der sehr niedrigen Dosis allerdings extrem unwahrscheinlich. Das Risiko steigt erst mit der Dosis: Wer wegen einer schweren Erkrankung oder eines Unfalls zahlreiche CT-Untersuchungen oder Durchleuchtungen braucht, hat wahrscheinlich ein etwas erhöhtes Risiko, Jahrzehnte später an Krebs zu erkranken, sagt die Expertin. Was viele nicht wissen: "Die durchschnittliche Strahlenbelastung der Bevölkerung durch medizinische Anwendungen liegt in Mitteleuropa unter der sogenannten natürlichen Strahlenexposition", beruhigt Foert. Dazu gehört beispielsweise die kosmische Strahlung, die bei Langstreckenflügen besonders zum Tragen kommt.
Dennoch sei es wichtig, jede Untersuchung abzuwägen, so Radiologin Foert. "Wir Radiologen sind gesetzlich dazu verpflichtet uns zu überlegen, ob die Untersuchung wirklich notwendig ist oder ob sie durch andere bildgebende Verfahren, die keine ionisierenden Strahlen aussenden, ersetzt werden kann." In der Regel, so die Expertin, überwiegen die Vorteile bei weitem: "Röntgenstrahlen ermöglichen bis heute Erkennung, Behandlungsplanung, minimal invasive Therapie und Verlaufskontrolle einer Großzahl von Erkrankungen mit einer Präzision, die andere Verfahren nicht bieten."
Beitrag von Constanze Löffler